Gabriele Müller: Systemisches Coaching im Management
Rezensiert von Peter Schröder, 24.06.2003
Gabriele Müller: Systemisches Coaching im Management. Ein Praxisbuch für Neueinsteiger und Profis. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2003. 161 Seiten. ISBN 978-3-407-36398-5. 22,90 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-407-36515-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Einführung
Um es vorweg zu sagen: an diesem Buch irritiert mich mehr als mich überzeugt. Das kann an dem Buch liegen. Aber Irritation bei der Rezeption eines Fachbuches könnte auch mit dem Vorverständnis des Rezensenten zu tun haben. Deshalb will ich, statt allgemein in das Thema "Systemisches Coaching im Management" einzuführen, in drei Punkten mein Vorverständnis offen legen:
- Ich verstehe unter "systemisch" eine Sichtweise, die den Coachee in den diversen Systemen sieht, in denen er sich bewegt: Familie (Herkunftsfamilie und aktueller Familie), soziales Netzwerk, Arbeitsteam, Abteilung, Firma etc.) Auf diesem Hintergrund beschäftigt sich eine systemische Beratung mit den Interaktionen zwischen Coachee und den ihn umgebenden Systemen, denn die konstruktive Grundeinheit sozialer Systeme ist Kommunikation. In ihrem Systemerleben sind Menschen nicht "objektiv", sondern konsequent subjektiv: sie machen sich ein Bild von der Wirklichkeit. Dieses Bild bzw. die Deutungen wirken auf das Handeln. Weitere wichtige systemische Perspektiven sind der Blick auf die Regeln, die im System gelten, sowie der Blick auf die Systemumwelt und die Entwicklungsgeschichte des Systems. Diese wenigen Stichworte mögen zunächst genügen.
- Ich verstehe unter "Coaching" im Wesentlichen einen Klärungsprozess: durch das Gegenüber des Coaches wird eine Situation aus einer anderen Perspektive gesehen, sie wird klarer, und neue Lösungsmöglichkeiten geraten in den Blick. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Anlässe von Coaching, die ggf. unterschiedliche Arten des Arbeitens erfordern: individuelle oder institutionelle Krisen, individuelle oder kollektive Verbesserungswünsche etc. Coaching ist eine zielorientierte Arbeitsform, die Erfolgsstrategien trainiert, vorhandene Fähigkeiten stabilisiert und die kommunikative Kompetenz gezielt fördert.
- "Coaching im Management" muss auf die klassischen Managementfunktionen wie Planung, Organisation, Führung, Personaleinsatz und -entwicklung, Kontrolle etc. ebenso bezogen sein wie auf wesentliche Kompetenzen, die im Management erforderlich sind. Ein weiterer wichtiger Bereich ist durch das Stichwort "Selbstmanagement" bezeichnet. Weil Coaching zielorientiert arbeitet, muss ihr Erfolg an der Steigerung zentraler Managementkompetenzen abzulesen sein.
Hintergründe und Autorin
Gabriele Müller, Jahrgang 1961, ist Diplomsozialpädagogin und Vorstand der ISCO AG (Institut für Systemisches Coaching und Organisationsberatung) in Berlin. Sie arbeitet seit 1993 in freiberuflicher Tätigkeit als Coach, Organisationsberaterin, Supervisorin und Trainerin. Zusatzausbildungen: NLP-Lehrtrainerin(DVNLP), Supervisorin, Projektmanagement, Systemische und hypnotherapeutische Konzepte für Organisationsberatung, Präzises Feedback des Coaches, Coaching und Persönlichkeitsentwicklung, angewandte Prozessarbeit in Organisationen, Prozessmoderation, Systemische Strukturaufstellung. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Coaching, Konfliktberatung, Teamentwicklung, Prozessarbeit und NLP.
Aufbau, Inhalte und Gliederung
Gabriele Müller baut ihr Buch analog zur Struktur ihrer Coachingausbildungen auf. Sie beginnt mit dem Kapitel "Überblick über das systemische Coaching", in dem sie ihre theoretischen Bausteine darstellt: die prozessorientierte Psychologie Arnold Mindells, das Konzept systemischen Denkens und Handelns von Gunther Schmidt, die lösungsorientierte Kurzzeittherapie Steve de Shazers, das Neurolinguistische Programmieren (NLP) sowie Robert Dilts "logische Ebenen". Die nächsten vier Kapitel folgen dem typischen Verlauf eines Coachingprozesses. Zunächst die Akquisitionsphase: da schildert Müller neun Klippen von Auftraggeber über Ortswahl, Honorar, Referenzen bis zum Stichwort "Keine Garantieübernahme". Dann "Vorphase und Auftragsklärung". In diesem Kapitel werden "Kundentypen" ebenso reflektiert wie Coach-Profile, die wichtige Arbeit der Zielklärung sowie das Thema Setting und Beziehung im Coaching. Es folgt das Kapitel über die "Prozessphase". In diesem Kapitel werden unterschiedliche Interventionsmethoden auf dem Hintergrund der theoretischen Grundannahmen (s.o.) dargestellt. Das Kapitel über die "Abschlussphase" konzentriert sich auf die Frage, wie Coachingprozesse professionell beendet werden können.
Zielgruppen
Ich zitiere: "Das Arbeitsbuch "Systemisches Coaching im Management" ist gedacht als Unterstützung für professionelle und angehende Coachs, die ihre Methoden erweitern, ergänzen oder überprüfen möchten und für alle Interessierten, die sich einen Eindruck vom systemischen Coaching verschaffen wollen. Es zeigt, wie neue und bereits bekannte Interventionsmethoden angewandt und genutzt werden können. Zugleich ist es auch ein praktischer Ratgeber für Coachs."
Einschätzung der Tauglichkeit, Lesbarkeit und Nützlichkeit
Meine Irritation beginnt schon mit dem ersten Kapitel. Auf 21 Seiten werden fünf theoretische Ansätze für das Coaching entwickelt - wirklich verstehen kann ich keinen davon, aber das mag auch an mir liegen. Der Abschnitt über "Systemisches Denken und Handeln" umfasst immerhin anderthalb Seiten und scheint mir für ein Buch, das sich mit "systemischem" Coaching befassen will, doch arg knapp. Immerhin entnehme ich dem Abschnitt zwei Informationen über die systemische Sichtweise, erstens: in Systemen gibt es eine dichte, nichtlineare Wechselwirkung von Systemelementen sowie energetische Austauschprozesse. Zweitens: wichtig für systemisches Denken ist es, kausale und lineare Folgerungen zu vermeiden und stattdessen Muster zu erkennen. Das reicht - nach meinem Vorverständnis - nicht aus, um einen Entwurf als "systemisch" zu qualifizieren.
Nun versteht Gabriele Müller unter "systemischem Coaching" auch ihre spezielle Theorie- und Methodenkombination, von denen sich manche plausibler, andere weniger plausibel in ein systemisches Konzept integrieren lassen. Die schmale theoretische Basis, die am "Neurolinguistischen Programmieren" (NLP) selbst von einem NLP-Vertreter wie R. Weerth (NLP und Imagination) moniert wird, erweist sich einem eklektischen Theoriekonstrukt gegenüber offener als zum Beispiel die prozessorientierte Psychologie Mindells. Also kurz und gut: mir erscheinen die theoretischen Bausteine zu bruchsteinartig und zu wenig systematisch. Deshalb bringt das Buch auf der Ebene des theoretischen Entwurfs bestenfalls einen geringen Lernertrag.
Bleibt die Ebene der Praxis, speziell die der Methodik. Müller listet (S. 34f) die Grundannahmen ihres (Coaching-)Handelns auf - und da stehen in meinem Buch viele Fragezeichen am Rand. Zum Beispiel an dem Satz: "Rapport herzustellen bedeutet, anderen in ihrem Modell der Welt zu begegnen... Durch Rapport kann Coaching die Landkarte so verändern, dass Kommunikationsfähigkeit, Lebensfreude, Motivation und Zufriedenheit entstehen beziehungsweise verstärkt werden können." Oder: "Zeigt man der Person innerhalb ihrer (scil. Inneren) Landkarte eine bessere Möglichkeit auf, dann wird sie diese wahrnehmen." Oder: "Wenn Sie bei Ihrem Coachee feststellen, wo die Aufmerksamkeit fokussiert ist, können Sie sicher sein, daß dort auch die Quelle seiner Energie liegt." Vieles bleibt mir unklar, Coaching wäre für mich aber Klarlegungsarbeit. Da wünsche ich mir Klarheit auch bei Arbeiten über Coaching! Der Bereich "Management" mit seinen speziellen Bedingungen und Erfordernissen wird fast vollständig ausgespart, dadurch wirkt der Titel des Buches lediglich modisch und werbewirksam formuliert.
Vieles in diesem Buch ist vom NLP inspiriert. Das wirkt gelegentlich gezwungen, z.B. wenn unterschiedliche Typen von Coaches bestimmten logischen Ebenen zugeordnet werden (S. 62). Die NLP-Methoden werden allerdings ebenso rudimentär präsentiert (S. 88ff) wie Methoden aus anderen Theorietraditionen (z.B. "zirkuläres Fragen" S. 114f), die ohne den sie umgebenden theoretischen und methodischen Kontext seltsam nackt dastehen. Als weiteres Indiz dafür, dass in diesem Band seltsam unsystematisch gearbeitet wird, mag auch gelten, dass wichtige Literatur zwar häufig zitiert wird, dann aber im Literaturverzeichnis nicht auftaucht: de Shazer, Bateson u.a. fehlen einfach, aber manch eine/r würde es vielleicht gern nachlesen!
Die Stärken des Buches: Man kann spüren, dass Gabriele Müller aus der Praxis kommt. Erfahrung mit Coachingprozessen sowohl aus eigener Coachingarbeit als auch aus dem Bereich Ausbildung kann man ihr keinesfalls absprechen. Und möglicherweise fügt sich der Band zu einem plausiblen Ganzen, wenn man ihre Ausbildung absolviert hat - dann hat man sicher ein wertvolles Nachschlagewerk ("Wie war das noch?") in der Hand. Auch manche Methoden fand ich interessant, so z.B. ihr "KRAFT-Ziele-Modell" oder auch bereits bekannte Methoden, die sie anhand konkreter Beispiele noch einmal vorführt. Manche Tabellen, Tipps und Übungen fand ich gut, andere weniger, weil zu formal und gewollt. Wertvoll ist das Glossar am Ende des Buches, das auch fachfremden LeserInnen die verwendeten Begriffe wie z.B. Kalibrieren, Pacing, dissoziiert etc. erläutert.
Fazit
Zwei Zielgruppen nennt der Umschlag: "Das Buch richtet sich an professionelle und angehende Coachs, die ihre Methoden durch innovative Ideen erweitern, ergänzen oder überprüfen möchten". Dieser Anspruch wird m.E. nicht eingelöst. Und "...sowie an alle Interessierten, die sich einen Eindruck vom systemischen Coaching verschaffen wollen." Dafür mag das Buch - mit Einschränkungen - brauchbar sein.
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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Zitiervorschlag
Peter Schröder. Rezension vom 24.06.2003 zu:
Gabriele Müller: Systemisches Coaching im Management. Ein Praxisbuch für Neueinsteiger und Profis. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2003.
ISBN 978-3-407-36398-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/943.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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