Klaus Staib: Rockmusik und die 68er-Bewegung
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Drees, 28.07.2010

Klaus Staib: Rockmusik und die 68er-Bewegung. Eine historisch-musikwissenschaftliche Analyse.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2009.
285 Seiten.
ISBN 978-3-8300-4588-5.
48,00 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur Kulturgeschichte - Band 14.
Thema
Während der vergangenen Jahre haben viele Publikationen zum Jubiläum der 1968er-Bewegung zwar auf den Zusammenhang zwischen Rockmusik und internationaler Studentenbewegung verwiesen, sich aber nicht wirklich darum bemüht, entsprechende MusikerInnen und Musikstücke aus der fraglichen Zeit in den historischen Diskurs mit einzubeziehen. In seiner Studie – überarbeitete Fassung einer 2008 an der Freien Universität Berlin angenommenen Dissertation – beleuchtet Klaus Staib die Interaktion zwischen Rockmusik und internationaler Studentenbewegung, indem er drei Erzählstränge zusammenführt:
- Erstens folgt er der Geschichte der Rockmusik in den 1960er Jahren,
- zweitens skizziert er die Geschichte der Studentenrevolte in verschiedenen Staaten der westlichen Welt und
- drittens verknüpft er beide Ebenen durch die Untersuchung einzelner Schlüsselsongs.
Anhand detaillierter musikalischer Analysen kann er zeigen, dass die Musik nicht nur als Transportmittel für die im Text formulierten Botschaften fungierte, sondern dass sie auch als Medium begriffen werden muss, in dem kulturelle, ideologische und politische Entwicklungen auf musikalische Weise vermittelt wurden.
Aufbau und Inhalt
Mit seiner Darstellung von politischen Ereignissen und darauf bezogener Musik unterstreicht Staib die zuvor schon von anderen Autoren gestützte Auffassung der 1968er-Revolte als einer kulturellen Zäsur, „die nicht nur einen Bruch mit der Vergangenheit und der Generation der Eltern, sondern auch in der Mentalität der westlichen Welt markierte“ (S. 247). Darüber hinaus bestätigt er die häufig geäußerte Vermutung, „dass Rockmusik tatsächlich als konstitutiver Faktor der Studentenbewegung betrachtet werden kann“ (ebd.), da sie die studentischen Aktionen begleitete und die Ereignisse des Jahres 1968 vorbereitete, obgleich viele MusikerInnen selbst nicht dazu bereit waren, sich von der Studentenbewegung vereinnahmen zu lassen. Eigentliches Neuland betritt der Autor mit seinem Versuch, vor diesem historisch-gesellschaftlichen Hintergrund ausgewählte, wirkungsgeschichtlich bedeutsame Musikstücke im Hinblick auf ihre Textaussage zu analysieren und dies mit einer Untersuchung melodischer, harmonischer, musikalisch-rhetorischer und klanglicher Aspekte zu kombinieren – ein Ansatz, der bislang in der Popularmusikforschung nicht angewandt wurde. Diese Analysen sind in insgesamt sechs Kapitel eingebettet, die auf breiter Materialbasis die Phasen der 1968er-Revolte in den USA und der BRD sowie in geringerem Umfang auch in England, Frankreich, der ČSSR und der DDR umkreisen und damit die Entstehung und Rezeption entsprechender Musik kontextualisieren.
Die ersten beiden Kapitel (Civil Rights Movement: Pete Seegers „We Shall Overcome“ und Free Speech Movement: Bob Dylans „Blowin‘ In The Wind“) befassen sich mit der engen Verbindung von US-amerikanischem Folk und den Protestbewegungen in den USA während der 1950er und 1960er Jahre. Zunächst geht Staib der Frage nach, aufgrund welcher Voraussetzungen Pete Seegers Song „We Shall Overcome“ bis spätestens 1963 zur „inoffiziellen Hymne“ (S. 22) der gesamten US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung werden konnte. Die relativ einfachen musikalischen Strukturen und textlichen Elemente, letztere insbesondere mit dem Appell zum globalen Miteinander im Sinne eines umfassenden Gemeinschaftsgefühls verbunden, dienen dem Autor als Erklärung für die anhaltende Popularität des Titels, der in der Folge auch innerhalb der deutschen Studentenbewegung sowie der Öko-Bewegung in den 1970er- und der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren eine zentrale Rolle spielte. Ähnliches beobachtet Staib im Zusammenhang mit dem überraschenden Erfolg von Bob Dylans „Blowin‘ In The Wind“ (1963): Naiver Text und melodische Schlichtheit des Songs, aber auch seine nachträgliche Instrumentalisierung durch KünstlerInnen wie Joan Baez im Kontext des „Free Speech Movement“ an der California University in Berkeley ließen ihn zum Prototypen einer neuen Art von pazifistischem Protestlied werden.
Dass sich Dylan in den folgenden Jahren mit pessimistischen Titeln wie „My Back Pages“ (1964) und „It‘s All Over Now, Baby Blue“ (1965) gegen die Vereinnahmung durch Friedensbewegung und Folk-Szene gewehrt hat, zeigt Staib im dritten Kapitel (Jahre des Wandels: Bob Dylans „It‘s All Over Now, Baby Blue“). Zur gleichen Zeit beginnt jedoch auch die verspätete europäische Rezeption des Sängers, durch die Dylans Songs nun innerhalb der deutschen Studenten- und Folkbewegung ihre Wirkung entfalten.
Im vierten Kapitel (Pop und Spuk: Hannes Wader und „Trotz alledem“) untersucht der Autor, inwieweit sich die Verbindung von bundesdeutscher Studentenbewegung und einheimischer Liedermacher-Szene überhaupt mit den Entwicklungen innerhalb der US-amerikanischen Protestszene und ihrer Musikpräferenzen vergleichen lässt. Dabei kommt er ausführlich auf die Konflikte zwischen politisch aktiven Künstlern und der dogmatischen Linken zu sprechen, die 1968 im Rahmen der seit 1964 organisierten Burg-Waldeck-Festivals zu einer heftigen Auseinandersetzung führten. Zugleich arbeitet er die generelle Reserviertheit gegenüber der Rockmusik im Kontext einer anti-amerkanischen, durch die Ereignisse des Vietnamkrieges bestimmten Agitation hervor, wie sie sich – freilich aus der rückwärts gewandten Perspektive der 1970er Jahre – in Hannes Waders Lied „Trotz alledem“ (1977) abzeichnet.
Mit dem fünften Kapitel (Botschaft an die Bewegung: Beatles und Stones beschwichtigen) wendet sich Staib der Studentenrevolte im Vereinigten Königreich zu. Anhand des Beatles-Songs „Revolution“ (1968) arbeitet er heraus, dass der Text dem schrillen, den „Eindruck von Chaos und Unruhe evozierende[n]“ Klangbild (S. 150) widerspricht und dem Ruf nach Revolution eine Absage erteilt, was nach der Veröffentlichung zu einer lebhaften „Auseinandersetzung über den Sinn, die Motive und die eigentliche Botschaft“ (S. 151) des Titels geführt hat. Im Vergleich dazu zeigt er, weshalb der Rolling Stones-Song „Street Fighting Man“ (1968) – ausgehend von der musikalischen Entwicklung der Band und ihrer seit 1965 als „Sound der Revolte“ (S. 157) begriffenen Musik – trotz einer gleichfalls beschwichtigenden Textaussage als Verkörperung des Lebensgefühls der 1968er-Generation aufgefasst wurde und mitunter, so 1969 im US-Staat Wisconsin, bei militanten Demonstrationen aus Lautsprechern abgespielt wurde.
Das sechste Kapitel (Wolf Biermann und Neil Young besingen blutige Tragödien) ist der Wechselwirkung von Musik und konkreten politischen Ereignisse gewidmet. Zunächst diskutiert der Autor Wolf Biermanns Lied „Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“ (1968) als Fokus aktueller Befindlichkeiten und versucht in diesem Zusammenhang, die komplexen Vorgänge um das Ende der 1968er-Revolte in der BRD transparent zu machen. Die Unterkapitel zum „Pariser Mai“, in dem die Rockmusik den „Sound zur Revolte“ (S. 216) lieferte, sowie zum Zusammenhang zwischen Rockmusik und Rebellion jenseits des Eisernen Vorhangs – in der DDR verbunden mit einer gezielten politischen Offensive des Staates gegen die Rockmusik – zeigen darüber hinaus die besonderen Eigenheiten nationaler Entwicklungen auf. Mit der Betrachtung von Songs wie „White Rabbit“ (1968) von Jefferson Airplane, „Give Peace a Chance“ (1969) von John Lennon & The Plastic Ono Band und „(Four Dead in) Ohio“ (1970) von Neil Young zeigt Staib schließlich, wie sich in den USA die Strömungen von Hippie-, Studenten- und Anti-Vietnamkriegs-Bewegung miteinander vermischen.
Diskussion
Staibs Untersuchung besticht durch ihre breite, zum Teil bislang unveröffentlichte Quellen einbeziehende Materialgrundlage, die sich den Bemühungen des Autors verdankt, das mitunter recht verwirrende politische Geschehen sowie die damit verbundenen Fragen nach Ursache und Wirkung bestimmter Ereignisse so transparent wie möglich zu machen. Die Fülle von weiterführenden Verweisen in den Fußnoten ermöglicht es dem Leser, einzelne Phänomene weiter zu verfolgen oder auch konträre Lesarten kennen zu lernen. Die Einbindung der auf musikalische Details bezogenen Diskurse, in vielen Fällen durch abgedruckte Notentexte illustriert, erfolgt mit viel Aufmerksamkeit für mögliche Zusammenhänge mit der politischen Situation und berücksichtigt immer wieder generelle kulturgeschichtliche Fragen wie jene zur Definition von Rockmusik oder zu den Vermarktungsstrategien der Musikindustrie. Auch wenn die Ausführungen zur musikalischen Textausdeutung in manchen Fällen etwas überzogen erscheinen, kann der Autor durch seinen analytischen Zugang deutlich machen, welche bedeutsame Rolle die von ihm thematisierte Musik innerhalb des fokussierten Zeitabschnitts spielt und auf welche teils äußerst vielschichtige Weise sie mit dem darin sich abzeichnenden kulturellen Wandel verbunden ist.
Fazit
Materialfülle und breit gefächerte thematische Ausrichtung machen diese Publikation nicht nur für den Musikwissenschaftler interessant, sondern dürften sie darüber hinaus auch zur anregenden Lektüre für Historiker, Sozial- und Kulturwissenschaftler machen. Dem kommt die unkomplizierte Darstellung musikalischer Zusammenhänge entgegen, die selbst einem mit Musik wenig vertrauten Leser über das Hilfsmittel eines Glossars genügend Werkzeuge an die Hand gibt, um die mit den Analysen verknüpften Argumentationslinien nachvollziehen zu können.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Drees
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