Marc Schulz: Performances. Jugendliche Bildungsbewegungen [...]
Rezensiert von Dr. Dominik Krinninger, 01.07.2010
Marc Schulz: Performances. Jugendliche Bildungsbewegungen im pädagogischen Kontext. Eine ethnografische Studie. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 266 Seiten. ISBN 978-3-531-17051-0. 29,95 EUR.
Thema
Performativität ist seit längerem ein wichtiger erziehungswissenschaftlicher Begriff. V.a. die Gruppe um Christoph Wulf hat Ansätze zur Analyse pädagogisch relevanter Situationen etabliert, die in erster Linie danach fragen, wie diese Situationen praktisch gestaltet werden und in welchen spezifischen Formen sich Interaktionen in ihnen vollziehen. Dadurch geraten die Körperlichkeit der Akteure und die Wechselwirkungen zwischen Handelnden und Situation in den Blick. Die Untersuchung von Marc Schulz ist in diesem thematischen Kontext angesiedelt und setzt zugleich starke eigene Akzente. Während Performativität bislang besonders in rituellen Handlungsvollzügen aufgegriffen wurde (etwa bei Einschulungsfeiern oder am Familientisch), geht es Schulz um die vielfältigen kleinen Szenen aus dem Alltag von Jugendzentren, in denen Jugendliche spielerisch etwas zur Darstellung bringen: z.B. beim Singen mit dem beliebten Karaoke-Spiel SingStar, beim Tanzen, aber auch im parodistischen Spiel mit (pop-)kulturellen Vorbildern. Nicht nur diese Weitung des Blicks ist begrüßenswert, auch der pädagogische Zusammenhang, den die Untersuchung aufgreift, ist wichtig. Denn die ‚Performances‘ der Jugendlichen werden gerahmt vom Kontext der jugendpädagogischen Einrichtungen. Sie stellen eine spezifische Form sozialen Verhaltens Jugendlicher dar, die bislang kaum beachtet wird und in der eine ganze Reihe von Themen aufgegriffen und bearbeitet wird, die für die Jugendlichen hohe Relevanz haben: etwa Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit oder Generationalität.
Aufbau und Inhalt
Das erste Kapitel stellt die „Jugendarbeit als Bildungsort“ vor und rekonstruiert sozialpädagogische Debatten um Bildung. Dieser Beginn mitten im Fachdiskurs macht ein Kernanliegen von Schulz schnell deutlich. Er stellt heraus, dass gegenwärtige Konzeptionen sozialpädagogischer Bildungsarbeit maßgeblich aus der Perspektive der Profession oder der Institution argumentieren und in einer adultozentrischen Ausrichtung Bildung als Prozess, den die Jugendlichen selbst vollziehen und gestalten, zu wenig reflektieren. Hier setzt die Arbeit an und fokussiert mit den jugendlichen Performances die „Herstellung von Bildungsgelegenheiten durch Jugendliche“ (38).
Im zweiten Kapitel rekonstruiert Marc Schulz zwei Diskurslinien zu Performativität und Performances: eine sozialwissenschaftlich-anthropologische (v.a. Wulf), die den „performativen Aufführungscharakter des Sozialen“ (48) hervorhebt, und eine theaterwissenschaftlich geprägte ästhetische (v.a. Fischer-Lichte). Beide Stränge verknüpft Schulz zu einem Konzept zur Beschreibung und Analyse jugendlicher Performances. Zentral sind dabei die Aspekte der Akteure, die selbsttätig handeln und nicht nur Vorlagen ausführen, der Präskripte – Handlungsmuster, die die Akteure kreativ interpretieren – und der Wirkung, die nicht in eine außerhalb der Performances bestehende Bedeutung aufzulösen ist, sondern die immer konkret erzeugt wird.
Im dritten Kapitel stellt Schulz seinen ethnografischen Zugang vor: es sollen insbesondere Praktiken beobachtet werden; die reflexive Bedeutung, die die Akteure ihren Praktiken beimessen, ist dagegen nachrangig. Schulz‘ Material stammt aus von ihm maßgeblich durchgeführten Forschungsprojekten zur offenen Jugendarbeit, die der aktuellen Untersuchung vorausgingen (Müller/Schmidt/Schulz 2005, Rose/Schulz 2007). Auf dieses Material richtet sich nun die besondere „Blickschneise“ (72) der Performances, so Schulz im Rekurs auf Mohn. In der Auswertung folgt die Arbeit im Wesentlichen dem Ansatz der grounded theory.
Mit dem vierten Kapitel beginnt der empirische Teil des Buches. Schulz stellt die drei Jugendzentren vor, um die es in seiner Untersuchung geht. Lage, Architektur und Innenraumgestaltung werden daraufhin analysiert, welche räumlichen Präskripte sie als „arrangierte Vorschläge“ (89) für das Verhalten von Jugendlichen implizieren. Es zeigt sich eine spezifisch jugendpädagogische Raumgestaltung, bei der jugendliche Interessen aufgegriffen werden (Discoraum, Musikraum), bei der wenig vordefinierte Bereiche (offener Raum) den Jugendlichen als „beiläufige Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (95) aber auch Gelegenheit für „vielfältige Aneignungsprozesse und kollektive sowie individuelle Erfahrungsmöglichkeiten“ (ebd.) geben.
Im fünften Kapitel werden die Übergänge von alltäglichem Handeln in Performance-förmiges Handeln analysiert. Eine zentrale Rolle dabei spielen die Rahmenbedingungen, an denen sich die Jugendlichen mal eng orientieren (eine Mädchengruppe bspw. tanzt im Discoraum zum ehemaligen Sommerhit ‚Macarena‘ nach der bekannten Choreografie), die zum andern aber auch Umwertungen erfahren (zwei Jungen beginnen etwa an der Theke eines Jugendhauses unvermittelt mit Breakdance-Moves zu einem im Hintergrund laufenden Song). Dabei greifen körperlich-mimetische Prozesse und die Interpretation von kulturellen Präskripten ineinander. Wichtig ist auch, dass in den Performances eine spezifische Dialektik von Individualität und Kollektivität fungiert. Die Jugendlichen exponieren sich als Akteure, sind jedoch auch auf einen sozialen Rahmen angewiesen, in dem ihr Handeln als Performance (an-)erkannt wird.
Das sechste, siebte und achte Kapitel sind der eingehenden Analyse von Performances gewidmet, die Schulz zu verschiedenen Kategorien zusammenfasst: „Tanz- und Akrobatikperformances“ (123 ff.), „Gesangsperformances“ (155 ff.) und „Theaterperformances“ (195 ff.). Bei den tänzerischen und akrobatischen Performances ist die Ästhetisierung des Körpers von zentraler Bedeutung. Sie eröffnet den Jugendlichen ein „Spektrum von prozessualem Erlernen und der Aufführung des Könnens, der Wahrnehmung eigener Potentiale und der Fähigkeiten anderer“ (145). Durch die spezifisch jugendkulturellen Bezüge der entsprechenden Interaktionen führen diese auch zu einer spezifischen Vergemeinschaftung, zu einem „doing peergroup/doing youth“. Auch beim Gesang (hier spielt das SingStar-Spiel eine wichtige Rolle, aber auch die Musikräume der Einrichtungen) geht es um die Inkorporierung und individuelle Aneignung ästhetischer Vorlagen. Darüber hinaus müssen sich die Jugendlichen beim Singen einem besonderen Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz stellen. Sie setzen sich der intensiven Aufmerksamkeit ihrer Peers aus, so dass der Umgang mit Scham, aber auch mit Feedback eine hohe Relevanz erlangt. Die Theaterperformances (z.B. spielerische Kampfszenen unter Jungen oder kleine Slapstick-Einlagen, die die Jugendlichen spontan untereinander spielen) stellen die Jugendlichen vor die Aufgabe, ihre entsprechenden Handlungen als spielerisches Verhalten zu markieren. Sie tun das mit einem spezifischen Einsatz von Ironie oder durch fein zu dosierende Übertreibungen. So dienen diese Performances, als eine Art praktischer Selbstreflexion, auch dazu, mit sich selbst zu spielen (vgl. 218 ff.).
Im neunten Kapitel geht es um die Einbettung der Performances in eine spezifisch jugendliche Sozialität. Die Jugendlichen verfügen über eine ausgeprägte Spielfähigkeit, die sie als eine intersubjektive ästhetische Kompetenz einsetzen. Neben der Dynamik, die sich immer wieder zwischen Performenden und Publikum ergibt, zeigt sich auch eine besondere Sprunghaftigkeit und Simultaneität, die herkömmlichen Erwartungen an Bildungsbewegungen (z.B. einer linearen und teleologischen Struktur) widerspricht, die aber als „spezifische Diskontinuität“ und „Hyperkomplexität“ (235) ernst genommen werden muss.
Das zehnte und elfte Kapitel bieten schließlich zwei Resümees, in denen zentrale Aspekte zusammengefasst werden und „Herausforderungen für die Profession“ (243) abgeleitet werden. Schulz hebt hervor, dass die Jugendlichen durch die Verschränkung ästhetischer und sozialer Praktiken über einen Modus verfügen, mit dem sie aus dem Kontinuum alltäglichen Handelns besondere Momente herausheben und der ihnen die Möglichkeit gibt, „sich selbst als interessant zu empfinden“ (242). Insofern ist es wichtig, Selbstbildung nicht nur als individuellen und reflexiven Prozess, sondern ebenso in sozialen und praktischen Vollzügen anzuerkennen. Professionstheoretisch steht für Schulz im Mittelpunkt, dass sich die Jugendarbeit auch für Bildungsvorstellungen jenseits der Strukturlogik der Institution öffnen muss. Die Profession darf sich nicht als alleiniges Agens verstehen, sondern muss ihre Relationalität im Feld (zu dem eine besondere jugendliche Sozialität sowie räumliche und kulturelle Präskripte gehören) konstruktiv aufgreifen. Pädagogisches Handeln könnte sich so als ein behutsames, anerkennendes „Mitspielen“ (249) konturieren; dieses situative Sich-Einlassen wäre aufzubauen auf einer ethnografischen Haltung des sensiblen Beobachtens und Dokumentierens, die nicht nur bei Forschern, sondern gerade auch bei PädagogInnen zu fördern ist.
Fazit
Das Buch von Marc Schulz ist praktisch und theoretisch von hohem Wert. Seine ethnografischen Beschreibungen und Interpretationen sind mit großer methodischer Sicherheit entwickelt und dabei alles andere als scholastisch. Sie führen außerdem das vor, was Schulz auch der Praxis der Jugendarbeit empfiehlt: eine ethnografische Haltung, in der sich Aufmerksamkeit, Offenheit und eine Resistenz gegen jede vorschnelle ‚Pädagogisierung‘ verbinden. Überzeugend ist die gelungene Verknüpfung einer pädagogischen mit einer ästhetischen Perspektive bei der Analyse der Performances. Dies gelingt Schulz durch eine außergewöhnliche Sicherheit im Umgang mit kultur- und kunstwissenschaftlicher Theorie. Nicht zuletzt dadurch kann er eine Perspektive eröffnen, in der es nicht nur darum geht, was die Jugendarbeit als Institution will oder was die Jugendlichen sollen, sondern v.a. darum, was vor Ort eigentlich wirklich geschieht. Kritisch ließe sich allenfalls anmerken, dass man sich (aus akademischer Perspektive) noch ein wenig mehr Systematik und Muße in der theoretischen Diskussion der Ergebnisse der Arbeit vorstellen könnte, denn die beiden Schlusskapitel sind sehr anregend, aber auch sehr dicht. Nichtsdestoweniger ist Schulz‘ Untersuchung PädagogInnen in der Jugendarbeit ebenso wärmstens zu empfehlen wie theoretisch interessierten Lesern, die Performativität/Performances einmal mitten im pädagogischen Kontext thematisiert sehen möchten.
Literatur
- Müller, B./Schmidt, S./Schulz, M. (2005): Wahrnehmen können. Jugendarbeit und informelle Bildung. Lambertus: Freiburg i. Br.
- Rose, L./Schulz, M. (2007): Gender-Inszenierungen. Jugendliche im pädagogischen Alltag. Ulrike Helmer Verlag: Königstein/Ts.
Rezension von
Dr. Dominik Krinninger
Pädagogische Kindheits- und Familienforschung Institut für Erziehungswissenschaft
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Zitiervorschlag
Dominik Krinninger. Rezension vom 01.07.2010 zu:
Marc Schulz: Performances. Jugendliche Bildungsbewegungen im pädagogischen Kontext. Eine ethnografische Studie. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
ISBN 978-3-531-17051-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9439.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.
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