Jan-René Schluchter: Medienbildung mit Menschen mit Behinderung
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 29.07.2010
Jan-René Schluchter: Medienbildung mit Menschen mit Behinderung.
kopaed verlagsgmbh
(München) 2010.
206 Seiten.
ISBN 978-3-86736-094-4.
16,80 EUR.
Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 5.
Über die mediale „Barrierefreiheit“ hinaus …
Die Barrierefreiheit von Medien, die Menschen mit Behinderung den Zugang zu medialen Angeboten – insbesondere im Internet - sichern soll, hat sich zumindest als Begriff in den vergangenen Jahren im öffentlichen Bewusstsein etabliert und ist seit 2002 auch gesetzlich verankert. Dennoch wissen wir recht wenig über die tatsächliche Medienpraxis von Menschen mit Behinderung. In den jährlichen Statistiken und Berichten zum Online- und Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen beispielsweise taucht diese Nutzergruppe nicht auf. Neben den fehlenden empirischen Erkenntnissen ist es auch der Mangel an zielgruppenspezifischen Konzepten, der Jan-René Schluchter dazu bewogen hat, "einen ersten empirischen, theoretisch-konzeptionellen Zugang zur Intersektion von Medienpädagogik und Behindertenpädagogik zu unternehmen“ (Seite 16). Die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit liegen nun in seinem Buch „Medienbildung von Menschen mit Behinderung“ vor.
Autor und Entstehungshintergrund
Der Autor Jan-René Schluchter hat Sonder- und Diplompädagogik mit den Schwerpunkten Medienpädagogik und Erwachsenenbildung studiert. Für seine Diplomarbeit “Medienbildung mit Menschen mit Behinderung“, die hier zur Rezension vorliegt, erhielt Schluchter Anfang 2010 den medius-Preis (2. Preis), der für herausragende medienpädagogische Abschlussarbeiten vergeben wird. Seit Dezember 2009 ist der Autor akademischer Mitarbeiter in der Abteilung Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, wo er sich einem Promotionsvorhaben zur „Medienpädagogik in der sonderpädagogischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden“ widmet.
Aufbau und Inhalt
Schluchter entwickelt sein Forschungskonzept in mehreren aufeinander aufbauenden Teilen: „Behinderung in der Theorie“, das auf die überblicksartige Einleitung folgende Kapitel B, beschäftigt sich mit verschiedenen Modellen, bzw. Paradigmen des Behinderungsbegriffes, etwa medizinischen Klassifikationsansätzen oder soziokulturellen Zuschreibungen. Teil C, „Behinderung und Pädagogik“, betrachtet das Phänomen „Behinderung“ unter den Leitmotiven Empowerment, Inklusion und Partizipation. Dieser Teil nimmt eine Art Brückenfunktion zum Rest der Arbeit ein, insofern das Thema Medienpädagogik auf die Zielgruppe von Menschen mit Behinderung zugeschnitten wird. Insbesondere arbeitet Schluchter Aspekte des Empowerment-Konzeptes heraus, demzufolge Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit sowie Ressourcenorientierung als Leitziele professionellen Handelns gelten.
Von hier aus entwickelt der Autor in Teil D ein Konzept der „Medienbildung mit Menschen mit Behinderung“. Obgleich Schluchter den Ansatz des „Förderbedarfs“ erwähnt, rekurriert er auch hier in der Hauptsache auf das Empowerment-Konzept, mit der Erweiterung, dass die hier beschriebenen Welt- und Selbstbezüge wesentlich durch Medien geformt werden. So ergibt sich unter der Perspektive der Cultural Studies, dass „der Bereich der medialen Konstruktion von Bedeutungen in Form von symbolischen Manifestationen in den Blickpunkt medienpädagogischen Handelns zu rücken ist“ (Seite 84). Zwar gebe es Schluchter zufolge Arbeiten zur medialen Barrierefreiheit, allerdings fehle es an Untersuchungen, die sich ausdrücklich mit den „Mediennutzungspraxen auf Ebene der gesamten Gruppe von Menschen mit Behinderung“ (S. 89) befassen.
Teil E fasst nun den „Stand der Forschung“ zusammen, was mangels Masse auch recht knapp ausfällt. Kurz gesagt kommt Schluchter zu dem Schluss, dass bislang keine wissenschaftliche Aufarbeitung des Schnittfeldes von Behinderten- und Medienpädagogik geleistet wurde. Hier will der Autor mit seiner Untersuchung Abhilfe schaffen und legt in Teil F seine „Forschungsmethoden“ dar. Diese orientieren sich in weiten Teilen an der so genannten "Grounded Theory", also an Methoden der qualitativen Sozialforschung und umfassen Literaturarbeit und leitfadengestützte Experteninterviews, wobei Schluchter auch auf Transkription und Auswertung des empirisch gewonnenen Materials anhand von Themenkatalogen eingeht. Den Kern seiner Untersuchung bilden die Experteninterviews, in denen der Autor Fachleute aus Praxis und Forschung im Schnittfeld von Medien- und Sonderpädagogik befragt.
Im Teil G, „Empirische Grundlagen der Medienbildung von Menschen mit Behinderung“, fasst Schluchter nun auf knapp fünfzig Seiten die Ergebnisse dieser Interviews, geordnet nach zehn thematischen Schwerpunkten, zusammen. Dazu gehören etwa Oberkategorien wie: „Selbstausdruck mit Medien“, „Erschließung neuer Handlungs-, Erfahrungs- und Kommunikationsräume“, „Medienkritik“, „Persönlichkeitsbildung“ usw. Dieser Teil lässt sich zu Recht als Kern der Arbeit bezeichnen; hier bringt der Autor zudem originale Textpassagen aus den Interviews, die er mit den fünfzehn Expert/innen geführt hat.
Im abschließenden Teil H zieht Schluchter dann das „Resümee“, in dem er noch einmal die Bedeutung der Medienbildung für Menschen mit Behinderung betont und Ansatzpunkte für weitere Forschungen aufzeigt.
Ein Exkurs zur „Behindertenpädagogik im Horizont begriffstheoretischer Varianzen“, in dem der Autor sich für den Gebrauch des Fachterminus „Behindertenpädagogik“ ausspricht, beschließt den eigentlichen Textteil. Der Anhang bietet den Interviewleitfaden, den Codewortbaum (d.h. die Stichwörter, nach denen die Transkripte analysiert wurden) sowie kurze Angaben zum beruflichen Hintergrund der interviewten Expert/innen.
Diskussion
Jan-René Schluchter behandelt das Thema Medienbildung mit Menschen mit Behinderung auf einer sehr hohen Ebene. Nicht nur, was den zeitweilig komplexen Stil und die fremdworthypertrophe Wortwahl betrifft, er wählt vielmehr seinen Ansatzpunkt auf der Ebene des medienpädagogischen Expertenwissens. Richtig ist, dass Medienpädagogik auch im sonderpädagogischen Bereich jahrelang praktiziert wird, was einzelne Projekte oder die Aufnahme des Themas in die sonderpädagogischen Lehrpläne beweisen. Zutreffend ist auch, dass auf der übergeordneten, der so genannten „theoretisch-konzeptionellen“, Ebene über dieses Erfahrungswissen hinaus wenig empirisch belastbares Tatsachenwissen besteht - wie im Übrigen in anderen Bereichen der Sonderpädagogik auch. Es ist das Verdienst Schluchters, dieses disparate Feld durch Expertenbefragung anhand zehn heuristischer Leitthemenkomplexe (siehe Teil G) zu strukturieren, die unter der Perspektive des Empowerment-Ansatzes gewonnen wurden. So gesehen setzt der Autor beim professionellen „Bindeglied“, zwischen Theorie und praktischer Arbeit an, womit es in der vorliegenden Veröffentlichung im engeren Sinne um die „Medienbildung von Menschen mit Behinderung aus Sicht von Expert/innen“ geht.
Ich frage mich, ob der Autor damit in seiner Arbeit den prinzipiellen Anspruch einlöst, den er mit der theoretischen Verankerung im Empowerment-Konzept anstrebt. Nämlich nicht länger über die so genannten „Menschen mit Behinderungen“ zu reden, sondern diese als gleichberechtigte Partner – als Experten in eigener Sache - selbst zu Wort kommen zu lassen. Dagegen bietet Schluchter nur Interviews mit professionellen Fachleuten: mit Lehrkräften oder Medienpädagog/innen. Wiederum wird nurmehr „über Menschen mit Behinderung“ gesprochen. Aus meiner Sicht wäre es alternativ durchaus denkbar, statt professioneller Experteninterviews prozessorientierte Fallstudien durchzuführen, in denen einzelne kleine Projekte vor Ort begleitet werden. Hier hätten auch die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung die Möglichkeit gehabt, direkt zu Wort zu kommen. Vielleicht wären auch der Begriff der Behinderung und die Ableitungen für die Medienarbeit etwas plastischer geworden.
Ferner kann eine handlungsorientierte Medienpädagogik nicht nur vom Empowerment-Gedanken allein leben; irgendwann wird auch die Frage nach den behinderungsspezifischen Erschwernissen und natürlich den Potentialen ins Spiel kommen, theoretisch wie praktisch. Dann werden auch Aspekte wie unterschiedliche Behinderungsformen, geeignete Medien und Altersgruppen wichtig werden. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass Schluchter Behindertenpädagogik als ‚Pädagogik der besonderen Methoden‘ zu verstehen scheint, hätte es Sinn gemacht, den Ansatz der Förderschwerpunkte weiter auszubauen, um die Zielgruppe greifbarer werden zu lassen. Einsichtig sind aber auch die Argumente Schluchters, der eine Engführung der Medienpädagogik auf eine technische Fertigkeit bzw. Kompensationsfunktion vermeiden möchte. Daher auch die Betonung des stärkenorientierten Empowerment-Ansatzes und das Anliegen Behinderung zu dekategorisieren, was allerdings andere, meines Erachtens ebenso praxisorientierte, Blickwinkel auf das Thema vernachlässigt.
Ziel der vorliegenden Diplomarbeit war es, einen „ersten empirischen, theoretisch-konzeptionellen Zugang“ (Seite 16) zu eröffnen, was dem Verfasser zweifellos auch gelungen ist. Daher möchte ich den besonderen Wert dieser Arbeit, wie er mit der Würdigung durch den medius-Preis zum Ausdruck gekommen ist, unterstreichen. Allerdings muss auch klar sein, dass die auf Ebene der Experteninterviews angesiedelte Empirie bereits eine indirekte, professionell reflektierte Form der Praxis darstellt sowie unter dem Paradigma des Empowerment-Ansatzes erfolgt, der Stärken betont, allerdings auch andere verfolgenswerte medienpädagogische Aspekte des Behinderungsbegriffes außer Acht lässt.
Fazit
Schluchter hat mit seiner Arbeit einen Beitrag zur theoretisch-konzeptionellen Grundlegung einer Medienpädagogik mit Blick auf Menschen mit Behinderungen vorgelegt. Unter der Perspektive des Selbstbestimmungsansatzes hat er anhand von Expertenbefragungen zehn thematische Schwerpunkte herausgearbeitet, die Ansätze für weitergehende medienpädagogische Konzeptionen und empirische Forschung bieten können.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 29.07.2010 zu:
Jan-René Schluchter: Medienbildung mit Menschen mit Behinderung. kopaed verlagsgmbh
(München) 2010.
ISBN 978-3-86736-094-4.
Schriftenreihe Medienpädagogische Praxisforschung, Band 5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9460.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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