Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II
Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 11.05.2010
Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II.
Hans-Böckler-Stiftung
(Düsseldorf) 2009.
188 Seiten.
ISBN 978-3-86593-135-1.
edition der Hans-Boeckler-Stiftung, Arbeit und Soziales, Bd. 242.
Autorin
Anne Ames ist Sozialwissenschaftlerin und Diplom-Pädagogin. Ihre Schwerpunkte sind Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie Jugendhilfe. Seit Einführung von Hartz IV hat sie sich in mehreren Forschungsprojekten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Einrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche und des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit dessen Umsetzung und Auswirkungen auf Betroffene beschäftigt. 2007 erschien ihre Studie „Arbeitssituation und Rollenverständnis der persönlichen Ansprechpartner/-innen nach § 14 SGB II“.
Thema
Mit Hartz IV wurde ein umfangreiches Sanktionsinstrumentarium ins Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) eingeführt, welches in den letzten Jahren zudem mehrfach verschärft wurde. Sanktionen gelten in der Ideologie der „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik als zentrales Vehikel, um bei Arbeitslosen „Verhaltensänderungen“ zu bewirken. Das SGB II enthält in Paragraph 31 detaillierte Regelungen zu „Absenkung und Wegfall des Arbeitslosengeldes II“. Darin wird bestimmt, „welche Weigerungen und Versäumnisse der Hilfebedürftigen in welchem Ausmaß zu Kürzungen oder zu Streichungen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und der Wohnung führen sollen.“ (11)
Angesichts der zentralen Bedeutung von Sanktionen im Hartz-IV-Regime wundert es, wie wenig sie bislang erforscht sind. Diese Lücke versucht die Autorin mit ihrer explorativen Studie zu füllen.
Aufbau und Inhalt
Zwischen Februar und Mai 2009 hat sie 30 zum Teil mehrfach sanktionierte ALG-II-EmpfängerInnen in problemzentrierten Interviews nach ihrer Lebenssituation, den Gründen für ihr sanktioniertes Verhalten, zu ihren Bewältigungsstrategien der Leistungskürzungen und zu den Auswirkungen der Sanktionen befragt.
Die zentralen Aussagen ihrer Interviewpersonen präsentiert sie im ersten Teil ihrer Studie in insgesamt 28 Fallskizzen auf knapp 100 Seiten. Damit will sie „den Blick auf die Besonderheit und Komplexität jedes Einzelfalls lenken“ (30).
Im zweiten Teil zieht sie die Schlüsse daraus. Sie macht die Diskrepanz zwischen offiziellen Anlässen (Termin versäumt, Ein-Euro-Jobs oder Maßnahmen abgelehnt u.a.) und tatsächlichen Ursachen von Sanktionen deutlich. So liegen die tatsächlichen Ursachen etwa darin, dass Erwerbslose andere Ansprüche an Arbeit und an die eigene Rolle als Arbeitende haben als die MitarbeiterInnen der Behörden. Sie liegen auch im Widerstand der Erwerbslosen gegen die spezifischen behördlichen Definitionen der Klientenrolle durch die mächtige Verwaltung begründet. Weitere Ursache ist die fehlende Motivation der Klienten, die behördlichen Anforderungen zu erfüllen. Dies ist nach Ansicht der Autorin etwa dann der Fall, wenn Erwerbslose ihre Unterschrift unter die Eingliederungsvereinbarung verweigern, weil sie deren Anforderungen nicht akzeptieren wollen, weil sie diese nicht für realistisch halten oder eigene Vorschläge nicht berücksichtigt wurden.
Auf Seiten der Erwerbslosen sind es auch belastende und behindernde Lebensumstände oder starke psychische Belastungen und eine Behinderungen der Handlungsfähigkeit, die einem Sanktionsanlass zugrunde liegen. Sie liegen häufig in Kommunikationsstörungen zwischen Erwerbslosen und Behördenpersonal begründet, deren Ursachen auf Seiten der Mitarbeitenden liegen. Denn Sanktionen sind allzu oft auf überforderte MitarbeiterInnen in einer überlasteten Hartz-IV-Verwaltung zurückzuführen, die einen politischen Auftrag zu erfüllen haben, weder über Zeit noch Freiraum verfügen und oft nicht die Qualifikation aufweisen, sich auf die Perspektive ihres Gegenüber einlassen zu können.
Sanktionen haben „vielfältige negative Auswirkungen auf die Lebenslage der Betroffenen“ (171): Erwerbslose ziehen sich in die soziale Isolation zurück, ernähren sich mangelhaft, weil sie beim Essen sparen oder sie verschulden sich (weiter). Sanktionierte versuchen sich teilweise alternative Einkommensquellen zu erschließen, die sozialrechtlich sanktioniert werden, wie die sogenannte Schwarzarbeit. Im Extremfall erleiden die Sanktionierten psychosomatische Erkrankungen oder werden obdachlos. Zudem bewirken Sanktionen zumeist „nicht, dass sich die Sanktionierten künftig so verhielten, wie es zuvor von ihnen erwartet wurde“ (171), sondern hätten im Gegenteil „eine lähmende Wirkung“ (171).
Diskussion und Fazit
Anne Ames hat eine wichtige und parteiische Arbeit geschrieben und die Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen aus Sicht der Erwerbslosen analysiert. Sie entzaubert den schillernden Begriff der „Aktivierung“, der in der Verwaltungspraxis oft nur die Zuweisung zu Ein-Euro-Jobs und kurzfristigen Trainingsmaßnahmen bedeutet. Dabei haben es die MitarbeiterInnen überwiegend mit Erwerblosen zu tun, die keiner behördlichen „Aktivierung“ bedürfen, weil sie selbst aus eigenem Interesse aktiv nach Arbeit suchen. Sanktionsursachen sind zu komplex, als dass sie sich mit Begriffen wie "Inaktivität", mangelnde Eigenverantwortung oder Arbeitsbereitschaft erfassen lassen, resümiert die Autorin.
Betroffene wehren sich seit einiger Zeit oftmals erfolgreich mit Widersprüchen und Klagen gegen die hohe und steigende Zahl von Sanktionen. Die hohen Erfolgsquoten zeigen, dass die verhängten Sanktionen nicht einmal den geltenden Rechtsnormen genügen. Erst spät ist auch in der Erwerbslosenszene eine Kampagne gegen das Sanktionsregime gestartet worden, da der Gegenstand schwer thematisierbar und verallgemeinerbar ist. Sind Sanktionen grundsätzlich legitim? Dies wird auch innerhalb eines Bündnisses heftig diskutiert, welches seit August 2009 für ein Sanktionsmoratorium wirbt und dabei von zahlreichen Prominenten aus Politik, Kultur und Wissenschaft unterstützt wird (www.sanktionsmoratorium.de).
Für die Forschung bleibt noch viel zu tun. Sie könnte zum Beispiel zeigen, wie Sanktionen gerade auf Jüngere wirken, die einem noch schärfen Sanktionsregime unterworfen sind. Unerforscht ist bislang auch die Frage nach dem Verbleib derer, die das Hartz-IV-Regime derart abschreckt, dass sie sich dem Zugriff der Arbeits- und Sozialverwaltung entziehen, indem sie auf jegliche finanzielle Unterstützung verzichten.
Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website
Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.
Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 11.05.2010 zu:
Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II. Hans-Böckler-Stiftung
(Düsseldorf) 2009.
ISBN 978-3-86593-135-1.
edition der Hans-Boeckler-Stiftung, Arbeit und Soziales, Bd. 242.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9463.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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