Rüdiger Posth: Gefühle regieren den Alltag
Rezensiert von Barbara Los-Schneider, 08.02.2011

Rüdiger Posth: Gefühle regieren den Alltag. Schwierige Kinder zwischen Angst und Aggression. Mit Anmerkungen zur frühen Fremdbetreuung. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2010. 309 Seiten. ISBN 978-3-8309-2275-9. 24,90 EUR.
Thema
Ausgehend von der frühkindlichen emotionalen und psychosozialen Entwicklung, insbesondere der Bindungsentwicklung und Ablösung in den ersten Lebensjahren, werden -auf dem Hintergrund der Tiefenpsychologie und der aktuellen Hirnforschung- verschiedene kindliche Fehlentwicklungen bis hin zu pathologischen Entwicklungsverläufen dargestellt und miteinander in Verbindung gebracht. Zudem werden Anforderungen an die frühe Fremdbetreuung dargelegt und deren Vor-und Nachteile geschildert. Im Zentrum stehen dabei stets die kindlichen Bedürfnisse und Erlebensweisen.
Autor
Der Autor ist niedergelassener Kinderarzt und Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeut in Deutschland. Er arbeitet zudem als Experte für Entwicklungsneurologie und -psychologie in einem grossen Elternberatungsforum im Internet.
Entstehungshintergrund
Für die möglichst frühe und kriteriengeleitete Erfassung von Entwicklungsgefährdungen im emotionalen und psychosozialen Bereich liegen bis heute noch kaum hilfreiche Instrumente vor. Der Autor verfolgt mit dieser Publikation das Ziel, den Zusammenhang zwischen individueller Anlage des Kindes und den familiären und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen aufzuzeigen und ein Bild der kindlichen Psychodynamik zu entwerfen. Im Fokus stehen dabei nicht primär die kindlichen Verhaltensweisen als Indikator sondern die gezielt beobachtbaren Auswirkungen der kindlichen Lebenswelt auf die Entwicklung der psychischen Struktur eines Kindes. Auf diesem Hintergrund sollen Fehlentwicklungen frühzeitig erfasst und durch geeignete Massnahmen korrigiert werden können. Das Buch ist sowohl für Professionelle als auch für interessierte Eltern geschrieben und hat daher den Anspruch, wissenschaftliche Erkenntnisse leicht verständlich darzustellen.
Aufbau
In den ersten beiden Kapiteln werden die Grundlagen der emotionalen und psychosozialen Entwicklung sowie ausgewählte Themen der Elternberatung dargestellt. Diese werden im dritten Kapitel anhand von typischen Fragen der Elternberatung weiter ausgeführt und konkretisiert. In den folgenden Kapiteln werden werden mögliche Folgen von Bindungsstörungen und und Entwicklungsbelastungen aufgezeigt: (Trennungs-)Ängste, aggressiv-oppositionelle Verhaltensweisen bis hin zur Dissozialität sowie Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Das letzte Kapitel ist gesellschaftlichen Entwicklungen, denen Kinder und Familien ausgesetzt sind, und Überlegungen zur frühen Fremdbetreuung gewidmet.
Inhalt
Die Publikation beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der entwicklungspsychologischen Dynamik in den ersten Lebensjahren eines Kindes. Der Autor schildert, wie auf der Basis der genetischen Anlagen des Kindes (inkl. des Temperaments) und der Eltern-Kind-Interaktionen Bindungen entwickelt werden und danach eine erste Ablösung erfolgt. Der Fokus liegt dabei auf auf den hohen Anforderungen, die an die primären Bezugspersonen, in erster Linie die Eltern, gestellt werden, um diese Prozesse zu begünstigen. Auf dem Hintergrund der geschilderten Prozesse geschieht die Entwicklung des kindlichen Selbst. Der Autor stellt dar, welche Rolle dabei Widerstand und Trotz spielen, und er zeigt auf, wie positive und negative Attributionen der Umwelt zu Stolz oder Scham beim Kind führen, welche die weitere Entwicklung des Selbst entscheidend beeinflussen. Er unterscheidet zwischen vier Grundrichtungen des Selbst:
- das ausgewogene Selbst, welches aufgrund von mehrheitlich positiven Attributionen entsteht
- das unausgewogene Selbst, bei dem die negativen Attributionen überwiegen
- das Selbst, welches nicht nur unausgewogen ist, sondern Minderwertigkeit verspürt
- das Selbst, welches ebenfalls unausgewogen ist, jedoch „grandiose“ Züge angenommen hat.
Diese vier Selbsttypen bilden nach Meinung des Autoren das Fundament für die spätere Persönlichkeitsentwicklung.
Im folgenden Kapitel werden Fragen der familiären Gewalt und des Strafens aufgeworfen. Der Autor zeigt verschiedene Formen von Gewalt auf kritisiert die in unserer Gesellschaft mehrheitlich vorherrschenden Grundsätze des Strafens.
Im dritten Kapitel werden Themen der Elternberatung behandelt. Der Autor schildert anhand von konkreten Fragen typische entwicklungsspezifische Probleme im Umgang mit Babys, Klein- und Schulkindern. In seinen Antworten auf diese Fragen wird jeweils der Fokus auf das kindliche Erleben und die Bedeutung der von den Eltern als schwierig empfundenen kindlichen Verhaltensweisen gelegt. Es wird zudem aufgezeigt, wie Eltern besser damit umgehen können. Die behandelten Schwierigkeiten entsprechen denen von weitgehend normalen Entwicklungsverläufen. Sie können durch eine geeignete Einwirkung der Eltern relativ gut behoben werden.
Die folgenden Kapitel sind Entwicklungsverläufen gewidmet, welche pathologisch werden können. Es wird aufgezeigt, wie sich aus frühen Bindungsstörungen bzw. Eltern-Kind-Beziehungsstörungen, welche auf unsicheren oder gar desorganisierten Bindungen basieren und nicht korrigiert werden konnten, beim Kind ein unausgewogenes Selbst und darauf aufbauend Störungen entwickeln können. Die nachfolgend dargestellten Fehlentwicklungen und Störungsbilder werden in ihren Ursachenfaktoren und Auswirkungen auf das kindliche Verhalten beschrieben und es werden Therapieformen sowie psychologisch-pädagogische Ansätze zur Behandlung aufgezeigt:
- Trennungsangst und andere Ängste
- aggressiv- oppositionelle Verhaltensweisen
- Bindungsstörungen als frühe Störungen der Persönlichkeitsentwicklung
Trennungsangst und andere Ängste: Erklärung für extensive Trennungsängste kann -nebst einer genetisch vorgegebenen Veranlagung - eine durch Bindungsunsicherheit bedingte Schwierigkeit sein, Angst verursachende Ereignisse, hier die Trennung von der Bezugsperson, gut zu bewältigen. Das Gefühl des Urvertrauens ist erschüttert, was zur Folge hat, dass diese Kinder stets auf den direkten Kontakt mit den Bezugspersonen angewiesen und in ihrem Drang nach Selbständigkeit eingeschränkt bleiben. Nebst der Trennungsangst werden weitere entwicklungsspezifische Ängste wie die Furcht vor der Dunkelheit, dem Einschlafen, lauten Geräuschen bis zur Sozialangst beschrieben. Ausgehend von einer, allen Menschen gemeinsamen Urangst, welche primär eine Schutzfunktion hat, werden Hintergründe und Bedingungen geschildert, die zu einer Entwicklung von Angststörungen führen können. Dabei werden vor allem das Verhalten der nahen Bezugspersonen sowie Aspekte der frühen Fremdbetreuung beleuchtet.
Aggressiv- oppositionelle Verhaltensweisen: Anders als Angststörungen gehen diese Störungsbilder mit externalisierenden Verhaltensweisen einher und sind daher für die Umwelt meist schneller erkennbar. Ähnlich wie die Urangst hat auch die Aggression eine entwicklungspsychologisch wichtige Funktion, nämlich die der Selbstwerdung und Selbstbehauptung. Das Kind befindet sich in Bezug auf Macht stets in unterlegener Position gegenüber den Erwachsenen muss daher versuchen, seine Macht auf unterschiedliche Art zu manifestieren (z.B. in Trotz, Widerstand). Da in der frühen Kindheit zudem die Empathiefähigkeit noch nicht ausgereift ist, kann sich ein Kleinkind schlecht in die Situation des Gegenübers versetzen. Es erlebt sich und seine Umgebung nur aus eigener Perspektive. Auf dem Hintergrund einer genetischen Veranlagung sowie im Zusammenhang mit einer ADHS kann es zu einer Fehlentwicklung mit einem Übermass an Aggressivität und kindlichen Machtansprüchen kommen. Frühe Bindungsstörungen sind dafür mitverursachend. Ein primär Grenzen setzendes und wenig auf die kindlichen Bedürfnisse eingehendes familiäres Umfeld verstärkt diese Entwicklung weiter. Eine von Gewalt geprägte Umgebung, Bildungsferne und wenig Engagement der Eltern gegenüber ihrem Kind sowie gesellschaftliche Entwicklungen wie die Einschränkung des kindlichen Lebensraums und das Übermass an medialen Angeboten sind weitere Risikofaktoren. Nach Ansicht des Autors baut sich ein aggressiv-oppositionelles Verhalten auf einem unausgewogenen Selbst auf, welches sich durch Machtansprüche und Aggression selbst aufzuwerten versucht. Die Störung äussert sich zunächst im familiären Rahmen als Aggression gegen die Familienmitglieder, Gegenstände oder gegen sich selbst (Autoaggression) und wird dann später auch im ausserfamiliären Rahmen bei Gleichaltrigen und Erwachsenen ausgelebt. Sie kann sich in späteren Jahren zu einer Dissozialität entwickeln. Ein Unterkapitel ist dem Thema ADHS gewidmet, welches der Autor ebenfalls in den Zusammenhang mit ungünstigen frühkindlichen Lebensbedingungen stellt.
Bindungsstörungen als frühe Störungen der Persönlichkeitsentwicklung: Der Autor unterscheidet zwei Arten von Bindungsstörungen: Bindungsstörung durch frühkindliche Deprivation und Bindungsstörung durch falsche Selbstkonstruktion, welche weitgehend den im ICD-10 beschrieben Bindungsstörungen mit Enthemmung bzw. reaktiven Bindungsstörungen entsprechen. Er beschreibt im Folgenden vor allem die Bindungsstörung durch falsche Selbstkonstruktion und setzt diese in Beziehung mit späteren Persönlichkeitsstörungen. Die im ersten Kapitel beschriebene Entwicklung eines unausgewogenen Selbst wird hier nochmals aufgenommen und es wird aufgezeigt, wie sich daraus pathologische Persönlichkeitsentwicklungen ergeben können.
Im letzten Kapitel werden Überlegungen zur aktuellen Lage der Familien sowie zur frühen Fremdbetreuung gemacht. Nebst einigen positiven Verbesserungen der familiären und kindlichen Lebenslage wie z.B. dem verbesserten Gesundheitszustand, dem gesicherten Bildungsangebot sowie der ratifizierten Kinderrechte, erwähnt der Autor vor allem Verschlechterungen der kindlichen Lebensbedingungen: eingeschränkter Lebensraum, Kleinfamilien, das Aufbrechen der familiären Strukturen, Perfektion, Leistungsanspruch und ein hohes Normierungsgebot. Er hebt dabei die Bedeutung der Familie als Hort der Individuation heraus und nimmt Stellung gegen eine allzu frühe Fremdbetreuung, die primär die Sozialisation, sprich Normierung zum Ziel hat. Er plädiert dafür, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, die es Familien erlauben, ihre Funktionen wahrnehmen zu können und die die Kinderrechte und damit auch das Kindeswohl ins Zentrum rücken.
Diskussion
Interessant an dieser Publikation sind vor allem die Beleuchtung der Hintergründe schwieriger Verhaltensweisen und der Blick auf das kindliche Erleben. Dies kann Eltern dabei unterstützen, ihre Einstellung und ihr Verhalten gegenüber dem Kind zu reflektieren und zu verändern. Gut nachvollziehbar und hilfreich dazu sind die im Kapitel drei geschilderten konkreten Erziehungsfragen und die Antworten darauf. Hier wird eindrücklich aufgezeigt, wie schwieriges Verhalten der Kinder falsch interpretiert und dadurch falsch beantwortet werden kann, was oft zu einem Teufelskreis führt, der durch die richtige Intervention leicht durchbrochen werden könnte. Dass schwerwiegendere Probleme bis zu Persönlichkeitsstörungen meist auf einer langjährigen Entwicklung mit Beginn in der frühen Kindheit basieren, ist zwar nicht neu, wird aber hier nochmals in Zusammenhängen dargelegt. Das Plädoyer für gute gesellschaftliche Rahmenbedingungen mit dem Fokus auf dem Kindeswohl kann nur unterstützt werden.
Leider gibt es aber in diesem Fachbuch auch einige Aspekte, die weniger überzeugen. Hier ist zunächst einmal die sehr spärliche Benennung von Quellen zu erwähnen. Der Autor beschreibt über Seiten hinweg seine -vor allem tiefenpsychologisch geprägten- Theorien ohne einen Hinweis darauf, woher diese stammen. Sie werden zudem meist nicht als Hypothesen sondern als Tatsachen geschildert, die relativ absolut daher kommen. Dass viele spätere Störungen auf schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen basieren, gilt wohl als gesichert, aber ob bei den beschriebenen Störungsbildern immer eine Bindungsstörung zugrunde liegen muss, scheint mir eine etwas zu eingeschränkte Perspektive zu sein. Obwohl immer wieder betont wird, dass auch die genetischen Anlagen des Kindes und gesellschaftliche Bedingungen eine Rolle spielen, kommt doch der Eindruck auf, dass die Familie fast immer schuld ist, wenn es zu Fehlentwicklungen kommt. Sozioökonomische Faktoren und andere familiäre Belastungen, die den Aufbau von positiven Eltern-Kind-Beziehungen erschweren, werden nur am Rande erwähnt. Man bekommt den Eindruck, dass Fehlentwicklungen von Kindern immer verhindert werden könnten, wenn die Eltern es nur wollten. Dabei wird an einem sehr traditionellen Familienbild festgehalten, welches zum Wohl des Kindes unbedingt aufrecht erhalten werden muss: Die Mutter, als erste primäre Bezugsperson, der Vater als Triangulierungsperson sowie möglichst keine Fremdbetreuung in den ersten vier Jahren. Dass eine frühe Fremdbetreuung für viele Familien nicht nur ein Muss, sondern für Kinder aus benachteiligten und förderungsarmen Familien oder für Einzelkinder geradezu auch eine Chance sein kann, wird zu wenig beleuchtet. Dass diese Fremdbetreuung qualitativ gut sein und auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen muss, ist natürlich Voraussetzung dazu, ebenso wie gut gestaltete Ablösungsprozesse. Die These, dass die Individuation vor Sozialisation kommt und die Familie primär zur Individuation dient, ist meines Erachtens nicht haltbar, da es sich von Anfang an um parallele Prozesse handelt und die Familie seit je als primäre Sozialisationsinstanz gilt.
Vom Aufbau und von der Verwendung von Fachbegriffen her ist das Buch nicht immer konsistent. Es gibt einige Wiederholungen und Widersprüche. Verwirrend ist zudem die teilweise andere Verwendung des Begriffs der Bindungsstörung als in geläufigen Klassifikationen wie im ICD-10, vor allem die Bezeichnung der „frühen“ Bindungsstörung, mit der eigentlich unsichere oder desorganisierte Bindungen gemeint sind.
Fazit
Für Fachpersonen, die Eltern beraten oder Kinder behandeln, kann dieses Buch hilfreich sein, um die Sichtweise der Kinder besser zu verstehen und diese Perspektive den Eltern aufzeigen zu können. Dazu dient vor allem der erste Teil des Buches mit den konkreten Fragen und Antworten sowie die Beschreibung von Entstehungshintergründen und Zusammenhängen bei der Entwicklung von Störungsbildern. Die Vorschläge zur Therapie dieser Störungen bleiben jedoch eher an der Oberfläche. Da das Buch in einer einfachen Sprache geschrieben ist, kann es auch für Eltern interessant sein. Leider stellt der Autor jedoch sehr viele Thesen und Theorien auf, die nachvollziehbarer hätten untermauert werden sollen.
Rezension von
Barbara Los-Schneider
Zürcher Hochschule Angewandte Wissenschaften Departement Soziale Arbeit
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