Herfried Münkler, Matthias Bohlender et al. (Hrsg.): Sicherheit und Risiko
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.06.2010

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hrsg.): Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert.
transcript
(Bielefeld) 2009.
290 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1229-5.
29,80 EUR.
CH: 49,90 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Sicherheit, als kollektives Gut, droht zu einem privaten Luxus zu werden
Ein absolut sicheres Dasein für die Menschen gibt es nicht. Das Risiko ist immanent; was ja nicht bedeutet, dass das Leben Risiko ist. Die Lösung des Problems kann freilich nicht darin liegen, sich fatalistisch allen Gefährdungen des Lebens hinzugeben, oder sie zu ignorieren; vielmehr müssen die zum Sicherheitsgedanken unabdingbar gehörenden Gegebenheiten von Gefahr und Wagnis reflektiert werden. Ob dies im „Geist der Rechenhaftigkeit“ geschieht, bei dem gegenwärtige und zukünftige Risiken mit rationalen Mitteln „kalkulierbar“ werden und damit sich die Möglichkeiten der Abwendung von Gefahren vorhersehen und abmildern lassen, oder ob Risikobereitschaft gar als ein intelligentes Handlungsfeld für kapitalistisches Gewinnstreben angesehen wird, gehört zu den neuen Forschungsfeldern in den sozialwissenschaftlichen Fächern und Fachbereichen und damit eben auch zu denen des politischen und gesellschaftlichen Handelns. Wenn Ulrich Beck von der „Weltrisikogesellschaft“ spricht und die neue, historische Schlüssellogik einer globalen Verantwortungsethik einfordert (vgl. dazu die Rezension zu Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt/M.2007), und als Konsequenz daraus die Rezension zu „Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen“ postuliert (Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen, Frankfurt/M), 2008), bedarf es eines intensiven Nachdenkens darüber, wie innere und äußere Sicherheit für die Menschen bewertet und im Politiktransfer umgesetzt werden kann.
Entstehungshintergrund und Inhalt
Am Institut für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität haben WissenschaftlerInnen und Sicherheitsexperten in einer Ringvorlesung Chancen und Perspektiven diskutiert, wie Sicherheitsaspekte disziplinär und interdisziplinär theoretisch begründet und in Politikberatung und –handeln umgesetzt werden können. Die Herausgeber des Tagungsbandes, der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der Osnabrücker Sozialwissenschaftler Matthias Bohlender und die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaft der Humboldt-Universität, Sabine Meurer, machen dabei deutlich, dass sich die Begriffsgeschichte der Kategorien „Sicherheit“ und „Risiko“ als Reflexion der jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Entwicklung darstellt und in der „Erfahrung“ und „Erwartung“ der Individuen und des Kollektivs einwirken.
Münkler leitet den Sammelband ein mit theoretischen Perspektiven zu „Strategien der Sicherung“. Dabei unterscheidet er zum einen „Welten der Sicherheit“, in denen Gefahren und Bedrohungen definiert und möglichst ausgegrenzt werden, mit dem Versprechen, eine sichere Welt zu ermöglichen, und zum anderen „Kulturen des Risikos“, bei denen auf die Berechenbarkeit von Gefahren setzen. Freilich lassen sich in der Wirklichkeit die Dilemmata und Chancen der beiden Denkmodelle nicht klar voneinander trennen; vielmehr verschwimmen und ergänzen sich die Wirkungsfelder. Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, dass Gesellschaften „die Mitte bewahren“; denn der Ruf nach der „Gleichförmigkeit einer umfassend sicheren Welt“ provoziert an sich Extreme, die den Nervenkitzel der Unsicherheit gleichsam schaffen und scheinbar notwendig machen.
Der Berliner Theologe Rolf Schieder reflektiert den „Risikofaktor Religion“; jedoch nicht, indem er denen beipflichtet, die der „Gott-ist-tot“ – Metapher huldigen (vgl. dazu z. B.: Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007, 575 S.) oder die den „Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie“ anprangern (vgl. dazu die Rezension zu Edeltraud Koller u. a., Hrsg., Exzess. Vom Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie, Bielefeld 2009); ihm geht es um den Perspektivenwechsel hin zu einer „politischer Theologie“, bei der es nicht so sehr darum geht, danach Ausschau zu halten, wie religiöse Gewalt entsteht, sondern wie sie verhindert werden kann. Es geht um interreligiöse Bildung und die „Zivilisierung von Religion und Weltanschauungen durch Bildung“.
Der Berliner Literaturwissenschaftler Burkhardt Wolf denkt über „riskante Partnerschaften“ nach, und zwar sowohl in der Liebe, als auch im Geschäftlichen, also bei den Gefährdungen des Liebes-, wie des Geschäftsglücks. In der Gegenüberstellung der Glückserwartungen in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, als Gottes- und der Naturgewalten – „In nome di Dio e di guadagno“, bzw. „In furtuna di mare“ – diskutiert der Autor die Paradigmen: Nächstenliebe und Wagnis(Risiko-)Liebe und kommt zu dem Ergebnis, dass, sowohl in Shakespeares Zeiten, als auch in unserer Zeit die „Handlungs- und Beobachtungskunst ( ) mit der Möglichkeit ihres Betrogenwerdens rechnen (muss)“.
Der Berliner Soziologe und Familienforscher Hans Bertram stellt in seinem Beitrag „Familie, sozialer Wandel und neue Risiken“ heraus, dass insbesondere die Kinder zu den Verlierern der sozialen Veränderungen gehören. Kinder werden, beim Zerbrechen der Familienstrukturen, wie auch bei den rechtlichen Regelungen, nicht als Subjekte verstanden, sondern lediglich als Unterhaltsberechtigte. Das führe zu erheblichen Benachteiligungen sowohl bei der Verwirklichung von Bildungschancen, als auch bei der ökonomischen Entwicklung und trage in erheblichem Maße dazu bei, dass die „vergessenen Kinder“ in geringerem Maße Lebenschancen realisieren können als Kinder, die in intakten Familien aufwachsen.
Der Mitherausgeber Mathias Bohlender zeigt am Beispiel des Begriffs „Soziale Sicherheit“ die Unsicherheitsfaktoren auf, in denen sich die ökonomische und soziale Situation zwischen Anspruch und Wirklichkeit verortet. Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit, wie dies von den Vereinten Nationen in Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 proklamiert wurde, bedarf der besonderen Aufmerksamkeit. Die historische Kenntnis dieser sozialen Errungenschaft, die noch längst nicht überall in der Welt realisiert ist, kann dazu beitragen, die drohenden Entwicklungen hin zur sozialen Unsicherheit zu stoppen.
Der Berliner Rechtswissenschaftler Georg Nolte diskutiert mit der Frage „Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit?“ Anspruch, Leistung und Zukunft des Völkerrechts. Anspruch, wie er sich in der Charta der Vereinten Nationen als Schaffung und Wahrung des Weltfriedens darstellt; Leistung als bisher nur ansatzweise verwirklichtes Versprechen; und die zukünftige Bedeutung als unverzichtbares Regelelement für eine Kultur des Risikos und von Sicherheitsstrategien.
Die Abteilungsleiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Ökonomin Claudia Kemfert zeigt „ökonomische Risiken durch Klimawandel“ auf. Es ist ein (realistisches) Horrorszenario, das die Autorin an die Wand malt und aufzeigt, welche volkswirtschaftlichen Schäden und Kosten auftreten, werden nicht sofort wirksame politische Maßnahmen ergriffen.
Der Statistiker Wolfgang Karl Härdle und der ebenfalls an der Humboldt-Universität Wirtschaftsrecht lehrende Christian F. W. Kirchner denken über die „Quantifizierbarkeit von Risiken auf Finanzmärkten“ nach. Dabei führen sie uns mit einem historischen Diskurs in die Höhen und Tiefen von Wahrscheinlichkeitsrechnung und stochastischen Differentialgleichungen, um eine Risikoeinschätzung bei Finanztransaktionen vornehmen zu können. Denn nur, wenn Risiken quantifizierbar gemacht werden können, kann man „vernünftig“ damit umgehen.
Volker Hess, der an der Berliner Charité und an der Humboldt-Universität Geschichte der Medizin lehrt, nimmt sich die „Life-Style-Drugs“ vor, bei denen er die Spannweite „zwischen potentieller Gefährdung und kalkuliertem Risiko“ misst. Es sind „chemische Krücken unseres modernen Lebensstils“, die, wie bei Thalidomid (Contergan) gegen Schlaflosigkeit und bei der Antibabypille gegen Schwangerschaft, für eine freie Lebensgestaltung eingenommen werden. Die Einschätzungen und Analyseinstrumente lassen sich als „Regulierungs-Regime“ darstellen – das fatalistische, hierarchische und individualistische; denn „Risiken lassen sich nicht regulieren, sondern sind Effekte der Regulation“.
Der an der TU Berlin Technikgeschichte lehrende Wolfgang König referiert über den „Umgang mit technischen Risiken“. Die kontroverse Diskussion, ob in den Zeiten der Globalisierung die Risikogefährdungen zu- oder abgenommen haben, lassen sich beim Umgang mit den technischen Errungenschaften als Risikobereitschaft und Risikoakzeptanz darstellen.
Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky setzt sich auseinander mit digitalen Überwachungssystemen in der medialisierten Umgebung. Es sind die neuen, medial und technikdominierten Machtpositionen, die Körper, Raum, Zeit und Wahrnehmung menschlichen Handelns bestimmen.
Der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogel schließlich thematisiert am Beispiel von „Amok“ die Geschichte der Gefahren und Gefährlichkeit in der abendländischen Zivilisation. Der Autor benennt dabei historische und geographische Ereignisse und Begebenheiten und formuliert damit eine „Geschichte abendländischen Gefahrensinns“. Er kommt zu einer (vorläufigen) Einschätzung, dass der aus Asien importierte Amok-Begriff in der Bedeutung und Wirkungsweise des zerstörerischen Amoklaufs in den westlichen Gesellschaften „mit einer grundlegenden Wandlung des Bösen in den modernen Wohlfahrtsgesellschaften verbunden“ sei. Die Phänomene, dass die meisten Amokattentate sich in zivilen und öffentlichen Orten vollziehen und gewissermaßen als „allgemeinste Manifeste von Revolte, Revolution und Aufruhr“ gelten können, bedürfen der weiteren Erforschung, wie auch der pädagogischen Auseinandersetzung (vgl. dazu die Rezension zu Peter Langman, Amok im Kopf. Warum Schüler töten; mit einem Vorwort von Klaus Hurrelmann, aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl; Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2009).
Fazit
Die wissenschaftliche Erforschung darüber, wie wir im 21. Jahrhundert mit Gefahr umgehen und wie sich das Begriffspaar Sicherheit und Risiko in unserem politischen und gesellschaftlichen Denken und Handeln etabliert und verändert hat, ist ohne Zweifel notwendig. Die in der Berliner Ringvorlesung dargestellten Reflexionen bilden natürlich nur einen Ausschnitt aus den nationalen und internationalen gesellschaftlichen Diskursen ab. Weil Begriffe immer auch Meinungen, Positionen und Einstellungen ausdrücken und gerieren, kann der Sammelband dazu beitragen, die verwirrende, ideologisierte Situation zu klären, die sich in unserer Gesellschaft um den Begriff „Sicherheit“ rankt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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