von Hans Eberwein, Johannes Mand (Hrsg.): Integration konkret
Rezensiert von Andreas Köpfer, 31.05.2010
von Hans Eberwein, Johannes Mand (Hrsg.): Integration konkret. Begründung, didaktische Konzepte, inklusive Praxis. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2008. 255 Seiten. ISBN 978-3-7815-1639-7. 18,50 EUR.
Thema und Zielsetzung
Die Beiträge dieses Sammelwerks von Hans Eberwein und Johannes Mand widmen sich dem Themenbereich der Integration / Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Übereinstimmungen können bei den dargestellten Lebensbereichen (Schule, Arbeit, Wohnen und Freizeit) dahingehend gezeigt werden, dass sogenannte „Sondereinrichtungen“ die Menschen, denen eine Behinderung zugeschrieben wird, zu großen Teilen aus diesen Lebensbereichen segregieren. Einen Überblick über die bisherigen integrativen und inklusiven Maßnahmen und Strömungen zu geben und den Status Quo dieser aufzuzeigen, kann als Zielsetzung des Buches bezeichnet werden.
Herausgeber und AutorInnen
Die beiden Herausgeber dieses Buches sind integrationswissenschaftlichen Bereichen verhaftet. Hans Eberwein, der inzwischen emeritiert ist, war an der Freien Universität Berlin, FB Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Schulpädagogik / Integrationspädagogik tätig. Johannes Mand lehrt und forscht im Fachbereich Heilpädagogik der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.
Die Autorinnen und Autoren, die Beiträge zu diesem Sammelwerk geschrieben haben, sind Vertreter aus der wissenschaftlichen Forschung rund um Integration / Inklusion, unter ihnen u.a. Georg Feuser, Andreas Hinz, Jutta Schöler und Alfred Sander.
Entstehungshintergrund
Den Ausgangspunkt für die Entstehung des dargestellten Sammelwerks bildet der Versuch, den Diskussionen zum Thema Integration / Inklusion einen Rahmen zu setzen und sie zu konkretisieren. Nicht zuletzt wird bereits durch den Titel erkennbar, dass das Werk sich als theoretische Begründung integrativer Maßnahmen versteht und sich gegen eine Stagnation der Ende der 70er Jahre aufgekommenen Integrationsbewegung zur Wehr setzt. Die Herausgeber nutzen hierbei die Möglichkeit, auf einen reichen Fundus an Erkenntnissen und Bewegungen im Bereich Integration / Inklusion zurückgreifen zu können, welche durch eine Vielzahl von Beiträgen unterschiedlicher Lebensbereiche abgedeckt wird. So kann der Entstehungshintergrund des Sammelwerks als Subsumierung der bisherigen integrativen Bemühungen und kritische Auseinandersetzung mit der momentanen Situation bezogen auf das Themenfeld Integration / Inklusion betrachtet werden. Auch der kontrovers geführten Begriffsdebatte um „Integration“ und „Inklusion“ tragen die Autoren Rechnung. Durch den Untertitel des Buches wird bereits deutlich, dass die Begriffe nicht in Opposition zueinander, sondern als Gemeinsames betrachtet werden.
Aufbau und Inhalt
Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit Theoriefragen im Bereich der Integration.
- Einführend bespricht Hans Eberwein die Entwicklung des Sonderschulwesens und der Integrationspädagogik.
- Alfred Sander greift diese historischen Entwicklungslinien auf und vertieft die Theoriediskussion, die sich im Laufe der Zeit in Bereich Integration / Inklusion aufgetan hat. Er reißt dabei – wie bereits erwähnt – kurz die bisweilen kontrovers geführte Begriffsdiskussion um „Integration“ und „Inklusion“ an.
- Hans Eberweins zweiter Beitrag geht näher auf die theoretische Begründung von integrativen Maßnahmen ein und fokussiert dabei auf das Thema „Lernen“ in integrativen Einrichtungen, das seiner Meinung nach nur durch innere Differenzierung und zieldifferentes Lernen verwirklicht werden kann.
- Douglas Ross beleuchtet daraufhin in seinem Beitrag das Meinungsbild der Eltern in Bezug auf die Unterrichtung ihrer Kinder in Sondereinrichtungen oder integrativen Einrichtungen.
- Abschließend geht Anette Hausotter auf die Entwicklung der Inklusion in unterschiedlichen Staaten der Europäischen Union ein. Hierbei offenbart sich, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ langsam die internationalen Vereinbarungen umsetzt und erfüllt.
Die Beiträge zum zweiten Teil des Buches werden unter dem Titel „Methoden integrativer Arbeit“ subsumiert.
- Johannes Mand und Marcel Veber leiten diesen Teil des Buches mit einem Artikel über förderdiagnostische Maßnahmen im integrativen Kontext ein. Hier wird deutlich, wie verändertes Denken und innovative förderdiagnostische Methoden einen Gewinn für die pädagogische Arbeit darstellen (können).
- Weiterführende Beiträge nehmen den diagnostischen Gedanken im Blickwinkel unterschiedlicher Institutionen auf. So beschäftigt sich Sabine Herm mit methodischen Fragen und Konzepten im Vorschulbereich.
- Georg Feuser erklärt die didaktischen Zusammenhänge integrativen Unterrichtens. Er eruiert seine Perspektive auf Basis der Allgemeinen Didaktik und stellt die Grundzüge seiner entwicklungslogischen Didaktik, einem umfänglichen didaktischen Modell zur schulischen Integration / Inklusion, vor.
- Barbara Gasteiger-Klicpera und Christian Klicpera erörtern daraufhin, inwieweit Kinder und Jugendliche mit Behinderung sozial integriert sind und welche Methoden zur Förderung der sozialen Integration beitragen können.
- Gudrun Doll-Tepper bespricht die Integration / Inklusion in den Bereichen Sport und Spiel.
Der dritte Teil des Buches enthält Beiträge, die die Bemühungen in integrativen / inklusiven Institutionen beschreiben. Hierunter finden sich auch Beiträge, welche einen schulischen Kontext fokussieren.
- Einleitend für diesen Teil des Sammelwerkes geht Max Kreuzer auf den Elementarbereich und die dortigen Entwicklungen und Rahmenbedingungen ein. Unter anderem führt er dabei statistische Zahlen zur Integration / Inklusion in Kitas auf.
- Andreas Hinz bespricht in seinem Artikel die Entwicklung des Gemeinsamen Unterrichts von seiner Entstehung bis zum heutigen Stand. Dabei vergleicht er unter anderem integrativ / inklusiv arbeitende Schulen und Sondereinrichtungen. Neben einer statistischen Darstellung der aktuellen Schülerzahlen im Gemeinsamen Unterricht, führt Andreas Hinz auch Ergebnisse aus Studien und Forschungsberichten auf, die in den vergangenen Jahren zum Gemeinsamen Unterricht und zum Unterricht in Sondereinrichtungen erhoben wurden.
- Der Beitrag von Stefan Doose wendet sich daraufhin der beruflichen Integration von Menschen mit geistiger Behinderung zu und erörtert die Wirksamkeit von Integrationsprojekten zur Eingliederung.
- Die Lebensbereiche Wohnen und Freizeit und eine Reihe von Möglichkeiten, wie Menschen mit Behinderung integriert werden können, werden durch Bernhard Klingmüller und Rainer Markowetz beschrieben.
Diskussion
Gemäß des Vorhabens, die konkreten Integrationsbemühungen, von der Begründung ihrer Aktivität, über die vorherrschenden didaktischen Konzepte bis hin zur inklusiven Praxis (s. Untertitel des Buches), aufzuzeigen, bietet das Sammelwerk eine gründliche und gleichzeitig weitläufige Einführung. Gründlichkeit erfährt sie in der Tiefe, die die einzelnen Beiträge der Autorinnen und Autoren aufweisen; Weitläufigkeit in der Vielzahl der diskutierten Lebensbereiche, in denen Integration / Inklusion angesetzt hat und weitergeführt bzw. -gedacht werden soll.
Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes könnten unter dem folgenden Begriff subsumiert werden: Wandel. In den verschiedensten Lebensbereichen, von der vorschulischen Erziehung, der Schule, bis hin zum Bereich Wohnen, Freizeit und Bewegung, kann ein Wandel, eine Veränderung der Perspektive, aufgezeigt werden, welche durch die Integrationsbewegung angestoßen und mittlerweile durch den Inklusionsgedanken gestärkt wurde. Normalisierung kann als Zielformulierung festgehalten werden: Die Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, genauso aufzuwachsen wie andere Menschen, dieselbe Schule zu besuchen, die Chance auf einen Arbeitsplatz zu haben und zu wohnen, wo man es bevorzugt.
Viele Denkanstöße sind bereits auf praktischer und theoretischer Basis erfolgt und weiterentwickelt worden, und doch gibt es noch viele Ansätze zur Verbesserung: So regt Eberwein in seinem zweiten Beitrag „Kritische Analyse der sonderpädagogischen Theoriebildung – Konsequenzen für Integration, Unterricht und Lehrerrolle“ an, dass die Innere Differenzierung, die im integrativen / inklusiven schulischen Kontext akzeptiert und praktiziert wird, nur dann im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt organisiert werden kann, wenn die sie nicht an zielgleiche Vorgaben gekoppelt ist (vgl. Eberwein, in: Eberwein/Mand 2008, 51). Es sind also noch viele Maßnahmen zur Öffnung des Unterrichts nötig, so etwa in Bezug auf die Unterrichtsorganisation und ebenso auf die Rolle der Lehrkraft.
Johannes Mand, der in seinem Beitrag die Rolle der Diagnostik in integrativ arbeitenden Einrichtungen beschreibt, leistet eine präzise Darstellung des Perspektivwandels, den die Diagnostik in Bezug auf die integrative / inklusive Thematik durchlaufen hat. Waren anfänglich noch diagnostische Instrumente zur Unterscheidung von Kindern mit und ohne Behinderung von Vorrang, so werden heute die förderdiagnostischen Instrumente zunehmend wichtiger, die sich mit Lernmöglichkeiten und Lernhindernissen beschäftigen (vgl. Mand, in: Eberwein/Mand 2008, 103 f.).
Der Beitrag von Sabine Herm „Konzepte integrativer Förderung im Elementarbereich“ fasst die Ansätze von Eltern, Pädagogen und anderen Fachleuten zusammen. Schnell wird deutlich, welche Vielfalt von Ansätzen herrscht, welche Möglichkeiten offenstehen, das Lernen im Elementarbereich hin zu einer integrativen / inklusiven Lernkultur umzugestalten. Und doch birgt dies zugleich die große Gefahr, dass die Breite der Ansätze keinen Schub nach vorne zu leisten vermag. So bleibt am Ende schließlich ungewiss, wie eine integrative / inklusive Pädagogik tatsächlich konkretisiert werden kann.
Mit der entwicklungslogischen Didaktik hat sich Georg Feuser bereits in den 80er-Jahren der Frage einer umfassenden Didaktik innerhalb der integrativen / inklusiven Pädagogik angenommen. Er verortet die Wurzeln der entwicklungslogischen Didaktik in der Allgemeinen Pädagogik und sieht keine Notwendigkeit darin, eine eigene integrative Didaktik zu entwerfen, sondern will die Allgemeine Didaktik für die integrative Thematik öffnen: Durch Differenzierung, Handlungsorientierung und kooperativem Lernen an einem Gemeinsamen Gegenstand. Er sieht Didaktik dabei im Zentrum der Überlegungen für eine integrative Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. In diesem Kontext werden allerdings lediglich die momentanen (bis heute bestehenden) Missstände angeprangert, nicht jedoch kritisch darauf geblickt, ob genügend Transformationsarbeit geleistet wurde, um die entwicklungslogische Didaktik im integrativen / inklusiven Schulunterricht kompatibel und umsetzbar zu machen.
Fazit
Die resümeeartige Haltung des Sammelwerkes in Bezug auf die Aktivitäten und Leistungen der Integrationsbewegung, auf die Ursprünge in der Elternbewegung, der Aufnahme reformpädagogischer Konzepte bis zu einer integrativen / inklusiven Lernkultur heute, bietet einen guten, sachlichen Überblick über die Integration von Menschen mit Behinderung in unterschiedlichsten Lebensbereichen. Die Beiträge sind dabei gut gewählt, wenngleich die Stimmen aus der integrativen Praxis (außer im Beitrag von Douglas Ross „Was Eltern wollen“) kaum hörbar sind. Vielmehr geht es um eine theoretische Begründung der Integration, um die Subsumierung der Konzepte und Ansätze einer integrativen / inklusiven Pädagogik. Die Darstellung der sich wandelnden Perspektive, hin zu einer offenen Lernkultur, hin zu neuen integrativen Konzepten im Bereich Sport, Freizeit und Wohnen, ist überzeugend. Allerdings bleibt die Perspektive eher retrospektiv und Zukunft weisendes fehlt.
Rezension von
Andreas Köpfer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität zu Köln, Pädagogik und Didaktik bei Menschen mit
geistiger Behinderung
Es gibt 2 Rezensionen von Andreas Köpfer.
Zitiervorschlag
Andreas Köpfer. Rezension vom 31.05.2010 zu:
von Hans Eberwein, Johannes Mand (Hrsg.): Integration konkret. Begründung, didaktische Konzepte, inklusive Praxis. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2008.
ISBN 978-3-7815-1639-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9488.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.
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