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Silvia Kontos: Öffnung der Sperrbezirke

Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 20.06.2011

Cover Silvia Kontos: Öffnung der Sperrbezirke ISBN 978-3-89741-285-9

Silvia Kontos: Öffnung der Sperrbezirke. Zum Wandel von Theorien und Politik der Prostitution. Ulrike Helmer Verlag (Sulzbach/Taunus) 2009. 429 Seiten. ISBN 978-3-89741-285-9. 32,90 EUR.
Reihe: Unterschiede - Band 8.

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Entstehungshintergrund

Die vorliegende Schrift verdankt sich einer Beschäftigung der Autorin mit dem Thema „Prostitution“ seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das ist eine sehr lange Zeitspanne für ein Buchprojekt, und mensch wird sagen können, sie umfasst fast die gesamte Spanne eines Forscherinnenlebens. Davon profitiert die zu besprechende Perspektive auf die Prostitution, die historisch den Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart spannt, theoretisch die maßgeblichen Theorien von Lombrosos Positivismus bis zum Konstruktivismus und der Theorie der Geschlechterverhältnisse unserer Tage referiert sowie in einer weitausholenden Rekonstruktion die Prostitutionspolitiken der Moderne durchmustert. Ein Gewinn für die Leser, die von einer belesenen und reflektierten Autorin durch die fast 400seitige Studie geführt werden, wenn auch unter einer eingeschränkten und geschlechterpolitischen Perspektive.

Aufbau und Inhalt

Frau Kontos macht gleich von Anfang an klar, dass sie nicht von „sexueller Dienstleistung“ oder „Sexarbeit“ sprechen will, wie es die Sprachregelung der emanzipatorischen Hurenbewegungen nahelegt, sondern von „Prostitution“. Denn die Autorin ist nicht an einem berufspolitischen Reduktionismus interessiert ist, der diese Tätigkeit als bloß ökonomische konzipieren und so ihre Marktgängigkeit fördern möchte. Vielmehr entwickelt sie „Prostitution“ gesellschafts- und geschlechterpolitisch, also als einen „gesellschaftlichen Blick“ (Kontos 2009:12), „auf dem nicht nur über Arbeitsbedingungen und Lebenschancen von Prostituierten verhandelt wird, sondern immer auch über einen hierarchischen Zusammenhang von Sexualität und Geschlecht.“(ebd.:11) Schauplatz dieser grundsätzlichen Verhandlung ist für Kontos die „bürgerliche Gesellschaft“ und deren widersprüchlichen Umgang mit Prostitution, an der sie exemplarisch die „gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Konstruktion von Geschlecht, die Sexualisierung von Herrschaft und ihre Verknüpfung mit anderen Über- und Unterordnungen“(ebd.:13) festmachen will. Widersprüchlich ist dabei die inoffiziell zum Vorteil der Männer legitimierte und offiziell zu Lasten der Frauen illegitimierte Prostitution, die trotz aller Ächtungen und Stigmatisierungen zur Normalität dieser Gesellschaft dazu gehört.

Im ersten Teil ihres Buches analysiert Frau Kontos die „Theorien“ als Begründungen bzw. Kritiken von Prostitution und konstatiert eine Entwicklung weg von einem legitimatorischen Funktionalismus weiblicher Sexualität hin zur einer „Verhandlungssexualität“ (ebd.: 229), die heutigentags den Status einer „sexuellen Option“ (ebd.) statt einer Kompensation erhält und auf dem Feld der Prostitution am deutlichsten hervortritt.

Zentral für die Kompensationstheorie der Prostitution ist hier die Einsicht der Autorin, dass die Theorie der Prostitution die männliche Sexualität als eine Art triebhydraulischer Biomechanismus fasst. Männliche Sexualität komme dieser zufolge in der bürgerlichen Monogamie so unter Stauungsdruck, dass eine Veranstaltung wie die Prostitution notwendig erscheint, um diesen Überdruck durch die Ventilsitte der Prostitution abzuführen und – noch wichtiger – kulturell zu bändigen.

Kontos verfolgt diese Idee durch die unterschiedlichsten Epochen und Autoren hindurch und nennt sie gemäß ihrem Ursprung bei Thomas von Aquin die „Kloakentheorie der Prostitution“. Wer die Prostitution verbiete oder unterdrücke, sorge dafür, dass sich die mit ihr verbundene „Unreinheit“ und der mit ihr zusammen hängende verderbliche Einfluss an anderer Stelle zum Schaden der Gesellschaft unkontrolliert und destruktiv entfalten können. Diese Konzeption transportiert aber ein Verständnis des Geschlechterverhältnisses, das von der Unterordnung der weiblichen Sexualität unter die Trieberfordernisse des Mannes ausgeht und weibliche Erotik und Sexualität in ihrer Eigensinnigkeit vollkommen ignoriert. Auf diese Weise wird männliche Sexualität mythologisiert und auf dieser Grundlage dann das Verhältnis der Geschlechter und die geschlechtsspezifische Sexualität in dieser Gesellschaft zu Gunsten der Männer und zu Ungunsten der Frauen überhaupt hegemonial konstituiert: Als hierarchisches Unterordnungsverhältnis der Frau und ihrer Sexualität unter den Mann und der seinigen.

Im zweiten Teil stehen die politischen Regime der Prostitution und ihre rechtlichen wie institutionellen Regulierungen in der Wirklichkeit von Gesellschaften im Mittelpunkt. Die von Frau Kontos betrachteten Akteure sind nicht nur der Staat und seine Organe wie Polizei, Gesundheitsbehörden und Parteien, sondern auch Arbeiterbewegung und Frauenbewegung, mit besonderer Akzentuierung letzterer. Dabei nimmt die Autorin sowohl die Gesetzgebung als auch die lokale Kontrollpraxis bezüglich der Prostitution in den Blick.

Insgesamt konstatiert die Autorin keine durchgehende Linie, sondern eine „Fluidität“ in der Prostitutionspolitik, die die Institutionalisierungen von Ehe und Familie einerseits, Prostitution andererseits flexibel aufeinander zu beziehen und ihr Verhältnis gemäß den jeweils dominierenden Interessen und ihren Trägergruppen zu gestalten und gewichten erlauben. Dabei kommen in dieser Fluidität noch die ganz unterschiedlichen Interessensorientierungen der beteiligten Akteure mit ins Spiel und beeinflussen die jeweiligen Politikregime auf dem Feld der Prostitution, was keine einheitliche Politiklinie erkennen lässt.

Resümierend stellt die Autorin eine historische Entwicklung hin zu einer „Öffnung der Sperrbezirke“ fest. Beginnend mit einer „Eingrenzung durch Ausgrenzung“ in den Bordellen des Kaiserreiches, fortgesetzt in den sozialreformerischen Öffnung in der Weimarer Republik und in der militärischen Indienstnahme der Prostitution an der Kriegsfront des 2. Weltkrieges, befindet sich die gegenwärtige Prostitutionspolitik in einer liberalen Phase. „Moralische Entwertung der Prostitution und soziale Ausgrenzung der Prostituierten“(ebd.: 392) ist seit dem kulturellen Wandel der endsechziger Jahre stetig schwächer geworden und im Zuge ihrer menschenrechtlichen Rehabilitierung ist die Prostitution auf den Pfad ihrer Kommerzialisierung eingeschwenkt: „…Prostitution wird tendenziell als freies Gewerbe normiert und normalisiert.“(ebd.:392).

Aus ihrer geschlechterpolitischen Perspektive kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die Definition von Sexualität und die daraus abgeleitete Konstitution des Geschlechter-verhältnisses sich allerdings auch unter der gegenwärtigen Kommerzialisierung nicht wesentlich verändert haben. Zwar hat sich die Bedeutung der Kompensationsfunktion der Prostitution gewandelt, sie selbst aber ist in anderer Ausrichtung erhalten geblieben. So stellt sie heute keine Kompensation für den Triebüberschuss monogam beschränkter Männer mehr dar, sondern eine Ausweichmöglichkeit für die „gewachsenen, und vor allem von Frauen artikulierten Ansprüchen an egalitäre Beziehungen.“ (ebd.:393) Prostitution bleibt somit für Frau Kontos daher auch heute mit einer Ausweichfunktion für die Männer bei still-schweigender Tolerierung durch die Frauen verbunden, die sich den „Mühen tiefgehender Selbstveränderung durch Kauf allzeit verfügbarer Dienstleistungen zu entgehen versucht.“(ebd.)

Diskussion

Am Ende der Besprechung möchte ich als männlicher Leser und aussichtslos in meiner geschlechtsbedingten Wahrnehmung gefangen und also befangen, doch noch eine kritische Anmerkung zu dieser informationsreichen Untersuchung anbringen, die sich ausdrücklich als Sekundäranalyse unter einer feministischen Deutungsperspektive auf Prostitution versteht. „Prostitution“ wird als diejenige gesellschaftliche Arena verstanden, wo der Kampf um Geschlechtsidentitäten und Geschlechterverhältnisse am Beispiel käuflicher Sexualität offen ausgetragen werden würde. Aus feministischer Perspektive gedeutet, ist klar und nicht überraschend, Prostitution verdeutliche: Männer beherrschen die Frauen hierarchisch und interessieren sich nur für den Frauenkörper als Quelle sexueller Lust, beuten also die Sexualität der Frauen aus und zementieren so die männliche Hegemonie im Geschlechterkampf. Prostitution bringe auf diese Weise ungeschminkt die Geschlechterverhältnisse als das heraus, was Bigotterie und Doppelmoral verschleiern: Das Geschlechterverhältnis ist verkappte Männerherrschaft, der es auf immer und ewig um egoistischen Gebrauch weiblicher Sexualität geht.

Ist das ein Ergebnis, das durch unvoreingenommene Deutung entstanden ist? Wohl kaum. Was dabei unterschlagen wird, sind „bürgerliche“ Geschlechterverhältnisse, die gerade das Gegenteil von sexueller Ausbeutung darstellen und sich gerade nicht dadurch erkennen lassen, dass sie vom käuflichen „Sex“ her betrachtet werden. Mir geht es dabei nicht um eine Apologie patriarchalischer Geschichtsschreibung oder um eine antiemanzipatorische Zurücknahme von Frauenbewusstsein und selbst bestimmtem Frauenleben. Vielmehr wäre an dieser Stelle eine Geschichtsschreibung gefragt, die nicht nur aus der theoretischen Konzeptualisierung von Prostitution einen Analysebezug auf das Verhältnis der Geschlechter gewinnt, unter der normativen Annahme, dass Männer per se Frauen beherrschen und zwar analog zu der Art, wie Freier zu Prostituierten stehen.

Um nur ein Beispiel zu geben, und zwar eines aus der Quelle der „bürgerlichen Literatur“, die nicht nur männliche, sondern auch weibliche Ausbeutung erotischer Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern deutlich macht – eine Perspektive, die die Sozialgeschichte in unseren Zeiten tabuisiert. Die Literatur des bürgerlichen Realismus bietet Beispiele, in denen auch „die“ Frauen – wie, um nur das berühmteste Beispiel zu nennen, die Carmen aus Prosper Merimees gleichnamiger Novelle „Carmen“ vorführt -, „die“ Männer mittels erotischer und sexueller Anziehungskraft nicht nur an der „Nase“ herumführen, sondern auch aus Berechnung ausbeuten – vielleicht am deutlichsten in der französischen Tradition der de Musset, Flaubert, Maupassant, Zola und anderen, die als weltmenschliche Literaten weniger prüde über Erotik und Sexualität schrieben als ihre hier doch eher „undeutlicheren“ Zeitgenossen in England, Skandinavien und Deutschland, Spanien, Italien und Russland.

Fazit

Am Ende ihrer Deutung der Deutung der Prostitution durch die Theoretiker und am Ende ihrer Deutung der Praxis der Praktiker der Prostitutionspolitiken der bürgerlichen und nachbürgerlichen Gesellschaften kommt die Autorin somit am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen wieder an. Eine primär (geschlechter-)politische Analyse ist immer Macht-Analyse, denkt in terms of strategies und Interessen und muss damit mit einer gewissen Zirkularität und auch Begrenztheit behaftet sein. Mich überzeugt die Prostitution als Vergrößerungsglas nicht, in dem die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zu ihrem eigentlichen Ausdruck gelangten. Ein Buch, das uns viel über die theoretischen und praktischen Strategien gegenüber dem Phänomen der Prostitution lehren kann, aber wenig über die doch viel differenziertere Realität zwischen den Geschlechtern jenseits von Feminismus und Prostitution.

Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.

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ISSN 2190-9245