Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart
Rezensiert von Dr. phil. Sven Kluge, 29.07.2010
Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung.
Oldenbourg Verlag
(München) 2010.
2., durchges. und korr. Auflage.
514 Seiten.
ISBN 978-3-486-59107-1.
49,80 EUR.
Reihe: Hand- und Lehrbücher der Pädagogik.
Thema
Die in den Dekaden vor 1900 aufkommende, ihren Zenith in den ersten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts erreichende Reformpädagogik gilt heute sowohl innerhalb von erziehungswissenschaftlichen Fachdiskursen als auch in weiten Teilen der öffentlichen Wahrnehmung als ein umstrittenes Feld; nicht selten begegnet man tendenziösen Wahrnehmungen und Beurteilungen in positiver (verklärende Idealisierungen) wie in negativer Hinsicht (entschiedene Ablehnung). Im Hinblick auf die erziehungswissenschaftliche Historiographie ist zudem noch immer eine bis in die 70er Jahre hinein dominante Kanonbildung wirkungsmächtig, welche von der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, insbesondere dem Kreis um Nohl, vorangetrieben und auf Dauer gestellt wurde. Der von Nohl, Scheibe, Flitner u.a. begründete ‚Kanon‘ an reformpädagogischen Klassikern und Theorieansätzen bestimmt oder beeinflusst zumindest vielerorts weiterhin die Wahrnehmung dieser facettenreichen Strömung; als verhängnisvoll haben sich insbesondere zwei Verengungen erwiesen: Zum einen die überwiegende Begrenzung auf das Spektrum der ‚deutschen Reformpädagogik‘ und zum anderen der kulturkonservative Zugriff auf reformpädagogische Modelle.
Entstehungshintergrund und Autor
Das vorliegende Werk erhebt entgegen diesen Tendenzen den Anspruch einer kritischen Einführung in die Reformpädagogik, die zumal nicht allein von einem historischen Erkenntnisinteresse geleitet ist, sondern ebenso nach der gegenwärtigen Relevanz reformpädagogischen Denkens fragt. Die Abstandnahme von einseitigen Darstellungen und Kategorisierungen gehört ebenso wie die Berücksichtigung der jüngeren Auseinandersetzungen um die Reformpädagogik zum grundlegenden Programm des Autors, der an der Universität Flensburg als ausgewiesener Experte für dieses Fachgebiet tätig ist. Skieras 531 Seiten starkem, nunmehr in einer zweiten, durchgesehenen Auflage erscheinendem Werk kommt ein Handbuchcharakter zu; es ist gleichermaßen an Studierende, Lehrende an der Universität und in der Praxis tätige Pädagogen adressiert. In insgesamt 16 Kapiteln ist der Autor darum ersucht, dem Leser „unter historischen, theoretisch-systematischen aber vor allem auch pragmatischen Aspekten eine zusammenhängende Sicht auf die Reformpädagogik in ihren zahlreichen Verzweigungen zu geben“ (475), ohne hierbei die in diesem weiten Feld vorherrschende innere Pluralität zu vernachlässigen.
Aufbau und Inhalte
Das erste Kapitel bietet eine Hinführung zur Thematik, die ihren Weg über eine Diskussion älterer und neuerer Kontroversen nimmt. Besonders schwer wiegt hierbei der seit Regeners früher Kritik (1910) immer wieder geäußerte Vorwurf des „Antimodernen“. Dabei wiederspricht Skiera der bis dato geläufigen These, wonach reformpädagogische Ansätze unter Rekurs auf (spät-)romantische Motive den mit dem Modernisierungsprozess einhergehenden Fragmentierungen und Entzauberungen eine „heile pädagogische Binnenwelt“ (8) entgegensetzen, von Beginn an: Gerade die Reformpädagogik bringe die sozialen Beziehungen innerhalb der Schule überhaupt erst „auf den Stand der Moderne“ (9); eigens die vielfältigen Modifizierungen des Erziehungs- und Lernbegriffes weisen dem Autor nach in diese Richtung. Jener Befund könne zudem dann Plausibilität für sich beanspruchen, wenn ein erweitertes, d.h. nicht rein instrumentell-funktionalisches Verständnis von Modernisierung zu Grunde gelegt wird, das den wichtigen Aspekt der „Rehabilitierung des Menschen als Subjekt und Mitgestalter seiner Welt“ (10) mitumfasst. Von diesem Hintergrund aus wird des Weiteren nach den tieferen Ursachen für den Erfolg und die bleibende Aktualität reformpädagogischer Krisendiagnosen gefragt, ohne dass hierbei die in pädagogischer und politischer Hinsicht problematischen Facetten ausgeklammert bleiben. Die für die in sich heterogenen Varianten einer reformpädagogischen Entfremdungskritik charakteristische Durchmischung von rational-aufklärerischen Argumenten mit irrationalen bzw. antirationalen Momenten soll im Folgenden jeweils differenziert und unter Einbeziehung der relevanten (historischen) Kontexte analysiert werden. Skieras Plädoyer für einen „mehrperspektivischen Blick“ (28) widerspricht von vornherein generell der Bevorzugung eines simplifizierenden Analyse- und Bewertungsmusters, das dem komplexen Gegenstand unmöglich gerecht werden kann.
Im Rahmen der sich anschließenden Kapitel zwei und drei steht derweil zunächst die Erschließung der historischen Dimensionen sowie der allgemeinen Anknüpfungspunkte für reformpädagogische Konzepte im Zentrum. Zum einen legt der Autor den Akzent auf die „frühe Schulkritik und die Idee einer menschenfreundlichen Schule“, wie sie von Augustinus, Erasmus von Rotterdam und Comenius entfaltet wurde. Deren Entwürfe einer „menschen- und kinderfreundlicheren Schule“ stellen einen bedeutsamen Fundus für reformpädagogische Protagonisten dar, welche diese weitestgehend unabgegoltenen Ideen „zu bündigen Schul- und pädagogischen Handlungskonzeptionen (integrieren)“ (43). Dieser Rückgriff erfolgt indes unter dem starken Eindruck der zeitgenössischen Moderne- und Zivilisationskritik, auf die im dritten Kapitel fokussiert wird. Deren Vertreter reagieren in erster Linie auf die im Verlaufe der Etablierung industriegesellschaftlicher Strukturen auftretenden Verwerfungen und Entfremdungsprozesse. Zu diesen zählt (a) „das Fremdsein im eigenen Körper als Folge seiner umfassenden Disziplinierung durch die Industrie“ (47), (b) die Entwurzelung aus den (ländlichen) Herkunftswelten, (c) die Ausbreitung von entfremdeten, krisenanfälligen Arbeitsverhältnissen, (d) der allgemeine Bedeutungsverlust der Religion und ihrer integrativen Funktion sowie (e) die politische Ausgrenzung eines Großteils der Bevölkerung (Arbeiter, Bauern, Frauen), welche einer demokratischen Bewusstseinsbildung zuwiderläuft. In diesen Entfremdungserfahrungen liegt unübersehbar der Nährboden für sehnsuchtsgeladene Gegenentwürfe und „die Suche nach einer anderen, besseren Welt“ (48) (d.h. nach ‚Gemeinschaft‘ und der (Wieder-)Erlangung einer ‚organischen Ganzheit‘). Reformpädagogische Ansätze nehmen nun Elemente der Entfremdungskritik auf; allerdings ist zu betonen, dass um 1900 speziell von der Lebensphilosophie Nietzsches, Lagardes und Langbehns – die in ihren Schriften allesamt eine bildungsbürgerlich-elitäre sowie antidemokratische Grundhaltung an den Tag legen – prägende Wirkungen ausgehen. Als reizvoll erweisen sich eigens aus pädagogischer Sicht lebensreformerische Visionen, die von diesen Autoren ebenso verkündet werden wie binnen der – z.T. von ihren kulturkritischen Ideen inspirierten – Wandervogel-/Jugendbewegung: Forderungen nach einer neuen Spiritualität, schöpferischem Leben und einer auf Sinnlichkeit beruhenden Naturnähe, die gegen als kalt, mechanisch und rationalistisch-abstrakt empfundene Lebensformen auf den Plan gerufen werden, rücken auf breiter Front in reformpädagogische Konzeptionen ein und verleihen diesen oftmals messianische Züge. Propagiert wird in der Konsequenz nichts Geringeres als eine „Überwindung der großen Widersprüche in der Gesellschaft der Moderne“ (97), welche eben hauptsächlich durch die ‚rettende Pädagogik‘ vollbracht werden soll. Just dieser Anspruch ist, so Skiera, typisch für das klassische reformpädagogische Denken; von ihm geht zugleich eine gravierende Veränderung der Sichtweisen auf das Kind sowie den Erzieher/Lehrer aus, welche in ihren Konsequenzen als ambivalent eingestuft wird.
Die Thematisierung dieser Ambivalenzen stellt einen wesentlichen Bestandteil der nächsten Kapitel (vier und fünf) dar, in denen von dieser Basis aus eine Reihe von reformpädagogischen Hauptvertretern und Modellen vorgestellt werden. Am Beginn steht eine Auseinandersetzung mit der Arbeitsschul- und Kunsterziehungsbewegung; in einem weiteren Schritt wird die Institution ‚Landerziehungsheim‘ detailliert beleuchtet. Sämtliche in diesen Spektren zu verortenden Ansätze teilen miteinander die Kritik an der ‚Kopf- und Buchschule‘ und das dieser entgegensetzte Ideal einer möglichst ganzheitlichen Erziehung. Eine wesentliche pädagogische Intention besteht in diesem Kontext in der Reduzierung bzw. Aufhebung von etablierten Trennungen (zwischen Hand- und Kopfarbeit, Schule und Lebenswelt, der Bildung des Intellekts und derjenigen der Sinnlichkeit etc.) zugunsten einer allseitigeren Persönlichkeitsbildung. Der Autor betont, dass diese Reformmodelle zweifelsohne etliche nach wie vor wertvolle Impulse in sich bergen, spart aber andererseits nicht mit Kritik an der häufig feststellbaren Kluft zwischen Anspruch und Umsetzung (z.B. mit Bezug auf das Arbeitsschulmodell Kerschensteiners, welches im Grunde doch die hergebrachte Dichotomie zwischen Kopf- und Handarbeit konserviert oder dasjenige von Blonskij, welches von einem das Postulat der ‚Allseitigkeit‘ desavouierenden Technik- und Industriefetischismus durchdrungen ist) sowie an den ubiquitären Ganzheits- und Einigungsphantasien. In vielen Fällen werden jenen „ideologische Einschläge“ (105) attestiert, die zu einer Missachtung der Freiheit des Einzelnen führen (die Bandbreite reicht von nationalistischen Konnotationen über die Propagierung einer staatsbürgerlichen Dienstethik bis hin zur Vorstellung eines sozialistischen Organismus). – Hinsichtlich der Einschätzung des Programms der Landerziehungsheime gelangt der Autor ebenso zu einem gemischten Fazit: Fruchtbaren (Erziehungs-)Initiativen, die im Wesentlichen mit den Intentionen der Arbeitsschul- und Kunsterziehungsbewegung übereinkommen, stehen – insbesondere mit Blick auf das als repräsentativ eingestufte Konzept von Lietz – Gefahren gegenüber, die zum einen mit dem auch von Lietz bevorzugten Ideal der Ganzheit (dieses ist von nationalistischen und aristokratischen Inhalten durchdrungen) und zum anderen mit den institutionellen Rahmenbedingungen dieser Einrichtung zusammenhängen (enges, abgeschlossenes Gemeinschaftsleben; übermäßige Distanz zum städtischen Lebensraum, dem Elternhaus und dem praktischen Leben; unheilvolle Rolle einer „übermächtigen Lehrerpersönlichkeit“ (192)). Als fruchtbar erscheint indes das stete Bemühen des Autors, dem Leser Zugänge zu alternativen Entwürfen (die z.B. im Umfeld der sozialen Bewegungen der 70er Jahre entstanden sind) und produktiven, kritische Einwände verarbeitenden Weiterentwicklungen zu eröffnen; hiermit wird der Ausbildung von vorschnellen Gesamturteilen und reduktionistischen Sichtweisen vorgebeugt.
In den Kapiteln sechs bis zehn erfolgt eine Insichtnahme von prominenten ‚Gründerpersönlichkeiten‘ und ihren Schulmodellen; der Reihe nach gelangen Montessori, Steiner, Parkhurst, Petersen und Freinet in den Horizont. Einen erheblichen Raum nimmt die Aufschlüsselung der weltanschaulichen Hintergründe dieser reformpädagogischen Ansätze ein, deren Erschließung für ein angemessenes Verständnis der pädagogischen Theorien und der Formen ihrer praktischen Umsetzung unverzichtbar ist. Mit Bezug auf Montessori streicht der Autor die hohe Relevanz des Positivismus heraus; die italienische Pädagogin teile grundsätzlich den „wissenschaftlichen Fortschrittsglauben“ (209) ihrer Zeit und übertrage diesen unter Hinzufügung einer „religiös-mystischen Färbung“ (ebd.) auf das Terrain der Erziehung. Kritisch wird vor diesem Hintergrund vor allem der bei Montessori gesetzte Gehorsamsaspekt bewertet: Überhaupt nicht vorgesehen sei in ihrem Konzept „der Gedanke eines legitimen anderen kindlichen Willens, d.h. eines solchen, der den im pädagogischen Arrangement eingeschriebenen Anforderungen zuwiderläuft (…)“ (217). Die phasenspezifischen Entwicklungsbedürfnisse und die generelle Entwicklungsdynamik erscheinen Skiera zufolge ebenso als gesetzt wie das Bildnis eines ‚normalen Kindes‘; an diesen Vorgaben hat sich letztlich die Gestaltung der (Lern-)Umwelt zu orientieren. Dieses Arrangement repräsentiert ein Mittel der indirekten Intervention, das – wenn nötig – durch direkte Interventionen ergänzt werden kann. Vernachlässigt werden durch dieses auf „Einspurung“ (230) angelegte methodische Vorgehen andere Momente des Erziehungs- und Bildungsprozesses wie etwa der Dialog oder der freie schöpferische Ausdruck; der abgesteckte Rahmen der Montessoripädagogik schließe Formen einer rationalen Konfliktbewältigung aus. Auch an Steiners Waldorf-Pädagogik werden kritische Rückfragen adressiert: Der Autor zeigt die aufklärungsfeindliche Grundtendenz der Steinerschen Anthroposophie in aller Klarheit auf; dessen Lehre von einer „wahren Menschenkenntnis“ (236) entpuppe sich als ein „phantastisches, grandioses Gedankengebäude, das den Boden einer im modernen Sinne wissenschaftlichen Beweisführung und Argumentation völlig hinter sich lässt“ (240). Richtungsweisend ist zunächst die entschiedene Distanzierung von der sinnlich erfahrbaren Welt zugunsten einer Erschließung der Sphäre des ‚Übersinnlichen‘ und ‚Vorbegrifflichen‘, welche einen unabhängigen Status einnehme und die sinnliche Welt zugleich bestimme. Nicht Mündigkeit und die Herausbildung einer rationalen Urteilskraft werden daher als Erziehungsziele formuliert, sondern die Einfügung in die den Menschen formende übersinnlich-kosmische Entwicklungsdynamik. Skiera spricht hier einerseits unumwunden von einem „weltanschaulichen Totalitarismus“ sowie einer „totalitären Metaphysik“ (264), attestiert der Waldorf-Pädagogik aber im gleichen Moment, auf Desiderate der modernen Pädagogik aufmerksam zu machen (z.B. den Wert der ästhetischen Durchdringung des Schullebens, die Möglichkeiten einer ‚ganzheitlichen‘ Bildung und den Sinn einer rhythmischen Gliederung des Unterrichts). In Differenz zu diesen Konzepten zeichnet sich Parkhursts Dalton-Plan durch demokratisch-liberale Wertorientierungen aus; das Kind wird von ihr als ein Wesen angesehen, „das von sich aus lernen will“ (283). Im Zentrum des Dalton-Plans steht der Versuch einer – für die Entfaltung von autonomen Persönlichkeiten notwendigen – Vermittlung von Individuierung und Vergemeinschaftung: „Sein eigentlicher Wert liegt (…) in der praxisnahen, detaillierten methodisch-didaktischen Ausarbeitung des Individualisierungskonzeptes unter gleichzeitiger Berücksichtigung der sozialerzieherischen Komponente“ (272). Die sozialerzieherische Komponente spielt derweil in der Schulpädagogik Petersens gleichfalls eine tragende Rolle; dieser bleibt jedoch in seinen pädagogischen Reflexionen hinter der von Parkhurst geleisteten Vermittlung zurück. Ausschlaggebend für seine Gedankengänge ist die antiliberale Idee einer „organisch verbundenen Lebensgemeinschaft“ (289); Petersen geht in beträchtlichem Maße mit lebensphilosophisch-biologistischen Anschauungen und Deutungsmustern ((organisch-natürliche) Gemeinschaft versus (mechanisch-künstliche) Gesellschaft; (deutsche) Kultur versus Zivilisation, Volk versus Masse etc.), die freilich von einem Gros der damaligen deutschen Reformpädagogen geteilt werden, d´accord. Von dieser Weltanschauung ist Petersens Jenaplan-Pädagogik infiltriert – die Ausbreitung des Jenaplans vollzieht sich jedoch, so Skiera, „bald relativ losgelöst von der Erziehungstheorie seines Begründers“ (290). Zu beobachten sei eine Diskrepanz zwischen dem ursprünglichen Ansatz und aktuellen Modifizierungen, wie sie z.B. in den Niederlanden eingeleitet worden sind: Jene verabschieden sich von dem repressiven Gemeinschaftsgedanken Petersens und ersetzen diesen durch eine humanistisch-emanzipatorische Sozial-Pädagogik. Abgerundet wird der Kapitelblock zu reformpädagogischen Klassikern schließlich durch Ausführungen zur in Frankreich ins Leben gerufenen Freinet-Schule. Mit Freinet thematisiert Skiera einen undogmatisch-sozialistischen Reformpädagogen, der die Verbesserung der Lage von subalternen Volksschichten anstrebt und die Erziehungsfrage systematisch in die soziale Frage einbettet. Es kann nicht überraschen, dass der Begriff der ‚Arbeit‘ innerhalb der pädagogischen Konzeption Freinets eine wichtige Position einnimmt; allerdings weicht dieser signifikant von dem technizistischen Arbeitsverständnis Blonskijs ab: Gerade die „erlebbare Verbindung“ zwischen ihrem „soziale(n) Sinn und Nutzen mit dem, was individuell gewollt und gefühlt wird“ (319) macht bei Freinet die persönlichkeitsbildende Qualität von Arbeitsprozessen aus; die Schaffung von experimentellen und natürlichen Lernsituationen soll ein selbstständiges Lernen in einer freien Gemeinschaftlichkeit befördern. Insbesondere im Hinblick auf neuere Rezeptionslinien sei derweil zu beachten, dass der Lernbegriff und die konkreten Methoden der Freinet-Pädagogik (freier Text, Klassenrat, Klassenkorrespondenz etc.) nur um den Preis einer „einseitigen Rezeption“ (328) aus den politischen Kontexten herausgelöst werden können.
Binnen des elften Kapitels, das inhaltlich noch an die vorherigen anschließt, konzentriert sich der Autor nunmehr auf das Gebiet der freien Alternativschulen. Diese Schulversuche entstehen im Laufe der Dekade nach 1968; ihre Begründer rekurrieren dabei oftmals auf vergessene bzw. verdrängte Wegbereiter (Tolstoi, Robin, Ferrer, Neill). Zu den prägenden „geistig-ideologische(n) Orientierungen“, die in der Tat von einer großen Nähe zu diesen ‚Vorläufern‘ künden, gehören nach Skiera eine „radikale Kapitalismuskritik“, die nicht minder radikale „Kritik an Institutionen und großen Systemen“, „basisdemokratische Ideen“ und das Vorhaben einer „Antiautoritäre(n) Pädagogik“, welches unmittelbar mit dem „Konzept der Selbstregulierung“ (334f.) verbunden ist. Belangvoll mit Bezug auf die zuletzt aufgeführten, nicht selten missverstandenen Punkte ist die bereits von Neill akzentuierte Differenz zwischen Freiheit und Zügellosigkeit; eine gelingende Selbstregulierung offenbart sich nicht in individualistischer Willkürfreiheit, sondern in der autonomen Wahrnehmung eigener Interessen, die wiederum nur in kooperativen Aktionen und Organisationsformen gelernt werden kann. In diesem Sinne streben die vielfältigen Alternativschulkonzepte allesamt eine umfassende „Einübung in Alltagsdemokratie“ (348) an; gegenwärtig nehmen in diesem Zusammenhang die Aspekte der „ökologischen Vernetzung“, des „partizipatorischen Lernens und Lebens“ sowie des „offenen Lernens“ (350) (in Abgrenzung zu einem erfahrungsunabhängigen, intellektualistisch verkürzten Lernbegriff) eine besonders gewichtige Position ein. Im Vergleich zu den 70er Jahren haben sich mithin Skiera zufolge die Erwartungen der Elterngeneration signifikant verändert: So hegen die ‚neuen Eltern‘ vermehrt einen pragmatischen Bezug zu diesen Schulmodellen; dominant sei ebenso ein von den ehemals vorherrschenden politischen Reformperspektiven abweichender „individualpsychologischer Ansatz“ (336).
Die Kapitel 12 bis 15 offerieren dem Leser sodann einen Überblick über die ‚Neue Reformpädagogik‘ (Kapitel 12) – thematisiert werden die Education Nouvelle in Frankreich, der lebensweltorientierte Ansatz der Community Education, die eine Variante des erziehenden Unterrichts verkörpernde Reggio-Pädagogik und die ein projektartiges Lernen ermöglichende Storyline-Methode –, vertiefende Reflexionen über den reformpädagogischen Lernbegriff (Kapitel 13) und den Einfluss reformpädagogischen Denkens auf das aktuelle schulreformerische Engagement (Kapitel 14) sowie eine Betrachtung der außerschulischen Reformpädagogik (Kapitel 15), welche allerdings recht knapp ausfällt (behandelt werden an dieser Stelle etwa Korczak, Makarenko, die sozialdemokratische Kinderfreundebewegung und die sog. Volkshochschulbewegung). Hinsichtlich der Weiterentwicklung des Lernbegriffes formuliert Skiera einige allgemeine Prinzipien, die zugleich das bleibende Anregungspotential der Reformpädagogik dokumentieren sollen. Zu diesen zählen zuvorderst die Prinzipien des offenen Unterrichts und der freien Arbeit, fernerhin die gegen starre, lebensferne und fragmentierende Organisationsformen aufgebotenen Unterrichtsmethoden bzw. Lehrpläne. Als gewinnbringend gelten im Anschluss überdies die Wertschätzung der fächerübergreifenden Weltorientierung und das Ersuchen um die Fruchtbarmachung des persönlichen Erlebens für Lernprozesse. Schließlich erkennt Skiera in der gleichfalls unter dem Vorzeichen der Allseitig-/Ganzheitlichkeit vorgenommenen Gestaltung des Klassenraumes und der Einführung neuer Arbeitsmittel weitere wichtige Anstöße, die den vollzogenen „Wandel in der Einstellung zum Kind und zur Erziehung“ ebenso unterstreichen wie den Zuwachs an „Gestaltungsfreiheit und -kraft“ (417) für die Lehrperson. Bezüglich des Verlangens nach einer fortschreitenden Realisierung dieser Prinzipien ist laut Skiera zunächst das Engagement des Pädagogen gefragt: Eine konsequente Ausnutzung und Erschließung von Freiräumen, die innerhalb der von den bestehenden Vorschriften gezogenen Grenzen bestehen, wird als ein erster Weg aufgezeigt. Weitere Wege bestehen in Initiativen ‚von unten‘ (d.h. ausgehend von der Schulebene: Verabschiedung integrativer Konzepte, neuer didaktischer Modelle, Gründung einer Nachbarschaftsschule etc.) und ‚von oben‘ (d.h. ausgehend von der bildungspolitischen Ebene: Lehrplanreform, Förderung von Schulversuchen, Strukturreformen etc.). Exemplarisch geht der Autor im Folgenden auf die im Land Nordrhein-Westfalen in Gang gebrachten Veränderungen im Primar- und Sekundarbereich sowie auf niederländische Bildungsreformen ein.
Das Schlusskapitel umfasst erwartungsgemäß zusammenfassende Argumentationen und die Diskussion von offen gebliebenen Fragen. Nochmals kehrt der Autor die Mannigfaltigkeit der reformpädagogischen ‚Bewegungen‘ hervor: Zu berücksichtigen seien vor allem die jeweilige politische Ausrichtung, die sozial-historischen Verankerungen und weltanschaulichen Fundierungen, aber auch die über lange Zeit vernachlässigte internationale Perspektive. Zum anderen, und hierfür liefert die vorliegende Studie einen überzeugenden Beleg, sei es durchaus möglich, diese heterogenen Strömungen unter übergreifenden Gesichtspunkten (Kritik an der ‚alten‘ Schule/Erziehung, Zivilisationskritik, gemeinsame pädagogische Motive/„Rettungsphantasien“ (454)) zu beschreiben und zu erforschen. Dieses Vorgehen dürfe jedoch keineswegs das Faktum unterschlagen, dass die (zunächst) zum Teil ähnlich wirkenden Motive und Phantasien mit höchst unterschiedlichen, bisweilen sogar gegensätzlichen Inhalten angereichert sind. Skieras Plädoyer für eine unverkürzte Wahrnehmung der „Grundzüge der Reformpädagogik in ihrer Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz“ (473) schließt indessen die Ablehnung der Haltung eines unreflektierten Anknüpfens an das reformpädagogische Erbe ein. Die vom Autor entgegen einem historisierenden Umgang mit reformpädagogischen Ansätzen erwünschte Aktualisierung im Rahmen von gegenwärtigen Theorie- und Praxiskontexten setzt seinem Urteil zufolge eine kritisch-multidimensionale Analyse unbedingt voraus.
Diskussion
Summa summarum hinterlässt dieser Band einen sehr anregenden Eindruck; Skieras profunde und ausgewogene Argumentation offeriert dem Leser nicht nur einen guten Einblick in verschiedene reformpädagogische Ansätze und Diskussionen, sondern weckt darüber hinaus die Lust zum eigenständigen Weiterstudium. Einen großen Vorzug stellt zudem der in die theoretischen und historischen Analysen eingelassene pragmatische Zugang zu den ausgewählten Modellen dar, auf welchen in dieser Besprechung nur ansatzweise eingegangen werden konnte (der Band wartet mit einer Fülle von konkreten Praxis- und Anwendungsbeispielen auf); dieses Vorgehen macht das Werk gerade auch für vorwiegend praktisch orientierte Pädagogen interessant. Hilfreich sind ferner die Überblickstafeln bzw. Resümees am Ende jedes Kapitels – diese bündeln noch einmal die wichtigsten Informationen und Thesen.
Ein Manko dieser Einführung besteht hingegen darin, dass die Ausführungen zur außerschulischen Reformpädagogik insgesamt zu dünn ausfallen; des Weiteren könnte man sich eine stärkere Gewichtung des Umfelds der sog. ‚Demokratischen Reformpädagogik‘ wünschen (z.B. des Bundes entschiedener Schulreformer, von Ansätzen aus dem Spektrum der Wiener Schulreform, von individualpsychologisch inspirierten Modellen (Rühle/Rühle-Gerstel, Kanitz) und undogmatisch-sozialistischen Erziehungstheorien (Siemsen, Löwenstein, M. Adler)). Im Übrigen wäre mancherorts eine kritischere Diskussion der reformpädagogischen Rationalitäts- und Zivilisationskritik sowie der weit verbreiteten messianischen Sehnsüchte angebracht gewesen – eigens ein systematischer Vergleich zur Aufklärungspädagogik in ihren verschiedenen Spielarten hätte im Hinblick auf die nicht zu unterschätzende Gefahr eines Abgleitens in romantisch-antirationale Fahrwasser bzw. in Formen eines (versteckten) Autoritarismus weiterführende Debatten eröffnen können.
Fazit
Abgesehen von diesen – letzten Endes eher marginalen – Einwänden bleiben der positive Gesamteindruck des Buches und dessen auch in Relation zu anderen Einführungsbänden bestehenden Vorzüge festzuhalten. Allen an dem Thema ‚Reformpädagogik‘ Interessierten sei dieses daher nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.
Rezension von
Dr. phil. Sven Kluge
Dipl.-Päd., Dipl.- Soz. Päd.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen
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Zitiervorschlag
Sven Kluge. Rezension vom 29.07.2010 zu:
Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung. Oldenbourg Verlag
(München) 2010. 2., durchges. und korr. Auflage.
ISBN 978-3-486-59107-1.
Reihe: Hand- und Lehrbücher der Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9511.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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