Bardo Herzig, Dorothee M. Meister et al. (Hrsg.): Medienkompetenz und Web 2.0
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 07.07.2010

Bardo Herzig, Dorothee M. Meister, Heinz Moser, Horst Niesyto (Hrsg.): Medienkompetenz und Web 2.0.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
368 Seiten.
ISBN 978-3-531-16944-6.
49,95 EUR.
Reihe: Jahrbuch Medienpädagogik - 8.
Thema
Das aktuelle Jahrbuch Medienpädagogik greift zwei Schlagworte auf, die auch in der Öffentlichkeit stark wahrgenommen werden: Zum einen ist dies „Medienkompetenz“, wozu eine Vielfalt an Konzepten existiert. Zum anderen handelt es sich um das „Web 2.0“: Meist werden damit jene Sektoren des Internets bezeichnet, in denen die NutzerInnen auch ProduzentInnen von Inhalten für eine Allgemeinheit sein können. Wie es im Jahrbuch heißt, dränge sich insbesondere die Frage auf, ob bisherige Bestimmungen des Konzepts Medienkompetenz angesichts der Entwicklungen des Web 2.0 noch tragen.
Herausgeber und Herausgeberin
Dr. Herzig ist Professor für Didaktik, Schulpädagogik und Medienpädagogik an der Universität Paderborn. Dort ist ebenso Dr. Meister Professorin für Medienpädagogik sowie Medienforschung.
Dr. Moser leitet die Abteilung „Unterrichtsprozesse und Medien“ an der Pädagogischen Hochschule Zürich und ist Honorarprofessor für Medienpädagogik an der Universität Kassel. Dr. Niesyto vertritt den Schwerpunkt Medienpädagogik als Professor für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Entstehungshintergrund
Das Jahrbuch wird herausgegeben von der Sektion „Medienpädagogik und Umweltpädagogik“ (ab 2010 Sektion „Medienpädagogik“) der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Aufbau
Auf ein achtseitiges Editorial – „Medienkompetenz im Zeitalter des Web 2.0“ – folgen 18 Beiträge. Der Band gliedert sich dabei in drei Teile: „Theoretisch-konzeptionelle und empirische Zugänge zur Medienkompetenz“, das ist der erste und mit 164 S. der weitaus umfangreichste Teil. Es folgt „Web 2.0 und Medienkompetenz“ – hier geht es um die „medienpädagogischen Grundlagen und Konsequenzen verschiedener Aspekte des Web 2.0“ (Editorial, S. 13). Der letzte Teil widmet sich Fragen von „Medienkompetenz und Web 2.0 in Bildungsinstitutionen“.
Inhalt
Die Beiträge des Teils zur Medienkompetenz beginnen mit einem theoretischen Modell der Medienbildung (von Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen). Und sie reichen bis zu methodologischen und methodenpraktischen Fragen einer möglichen Erfassung und Messung von Medienkompetenz. Unter anderem geht es dabei auch um eine Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsverfahren.
Die Frage der Medienkompetenz wird auch bezogen auf die allgemeine Diskussion um Kompetenzen und Bildungsstandards – eine Diskussion, wie sie derzeit in verschiedenen pädagogischen Feldern geführt wird, sei es in Schulpädagogik, Berufs- oder Erwachsenenbildung.
Zwei interessante Sichtweisen werden von außerpädagogischen Disziplinen beigetragen:
- Der Mediensoziologe Tilmann Sutter fasst die Nutzung des Web 2.0 in einem theoretischen Beitrag unter der Perspektive der Selbstsozialisation, der er eine „gesteigerte Bedeutung“ im Umgang mit den Neuen Medien beimisst (S. 52). Er zieht hieraus Schlüsse für den Erwerb von Medienkompetenz.
- Der Informatiker Reinhard Keil macht sich für eine grundsätzlichere Verständigung zwischen Technik und Didaktik stark. Er versucht „zu zeigen, dass und wie Technik und die Art und Weise, über sie zu reden wie auch sie zu gestalten, für den Bildungsdiskurs anschlussfähig sein kann“ (S. 121).
Im zweiten Teil des Bandes werden Nutzungspraktiken des Web 2.0 dargestellt. Es wird gefragt und erwogen, welche Impulse die Praktiken der NutzerInnen für die Diskussion in der Medienpädagogik geben können. Das Web 2.0 gilt dabei als eine pädagogische Herausforderung. Können neue Lernkulturen entstehen, was wären deren Chancen und Risiken? In diesem Zusammenhang wird eine spezielle Variante der Medienkompetenz thematisiert: Risikokompetenz. Es wäre zu vermitteln, wie Wissensangebote kritisch eingeschätzt werden können und wie sich mit Ungewissheit umgehen lässt.
Ein anregender Beitrag – der von einem mehr oder minder umfänglichen Lernszenario absieht – befasst sich mit „Mikrolernen“ (Theo Hug). Damit ist ein „Lernen mit kleinen und kleinsten Einheiten“ gemeint, wie sie das Web 2.0 in großer Vielfalt bietet (S. 227). Mikrolernen bezieht sich dabei sowohl auf den Umfang des Lernstoffs als auch auf die zeitliche Dimension. An Beispielen werden Möglichkeiten einer Didaktisierung aufgezeigt.
Die Beiträge des dritten Teils sprechen eine Reihe von institutionellen Feldern der Pädagogik an, die üblicherweise bezüglich Medienkompetenz und Web 2.0-Anwendungen angeführt werden: Hochschule, Schule, Berufs- und Erwachsenenbildung.
- So werden in Bezug auf die Hochschulen Überlegungen angestellt zur Medienkompetenz und Medienbildung sowohl der Lehrenden als auch der Studierenden. Dabei steht das so genannte „E-Learning 2.0“ im Mittelpunkt, das eine stärkere aktive Beteiligung und den Austausch zwischen den NutzerInnen ermöglichen soll.
- Für das Feld der Schule finden sich Darstellung und Reflexion eines Pilotprojekts, bei dem „Wikis“ und „Weblogs“ im Projektunterricht eingesetzt wurden. Ein weiterer Beitrag behandelt ein Fortbildungsprojekt, bei dem Lehrkräfte des Faches Chemie Medienkompetenz erwerben sollen. Dabei interessieren geeignete Fortbildungsmodelle.
- Für die Berufsbildung wird die Frage diskutiert, ob sich durch die Nutzung des Web 2.0 berufliche Handlungskompetenzen entwickeln können oder ob es unerwünscht zu einer dominanten Überlagerung durch die Medien kommt. Grundlage sind Modellprojekte aus der Glasbranche.
- Schließlich wird ein Überblick zur Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung gegeben. Die Darstellung des Forschungsstandes bezieht sich dabei sowohl auf das vorhandene Angebot als auch auf die tatsächliche Nachfrage.
Diskussion
Bisherige Bestimmungen des Konzepts Medienkompetenz werden durch die gegenwärtige Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzvermittlung im Bildungswesen herausgefordert und ebenso durch die neuen Möglichkeiten des Web 2.0. Die Medienpädagogik hat es dabei mit Schwierigkeiten einer Ein- und Abgrenzung zu tun, weil sowohl Medienkompetenz als auch Web 2.0 „Schlagworte“ darstellen, „die höchst unklar bestimmt sind“, so Sutter (S. 41; ähnlich äußern sich auch andere AutorInnen des Bandes).
Herausfordernd ist ebenso eine weitere These Sutters. Sie besagt, dass „der Erwerb von Medienkompetenz [...] mehr und mehr ein Fall des selbstgesteuerten Umgangs der Nachwachsenden mit neuen Medien“ werde „und immer weniger ein Fall geplanter und gesteuerter Instruktion und Vermittlung“ (S. 54). Medienpädagogisches Handeln könnte dem tatsächlich entsprechen, wenn, wie Moser fordert, Schule dazu überginge, auf diesem Gebiet mehr „eigenständige Lernprozesse anzuregen“, und weniger, „klar definierte und vorgegebene Fertigkeiten des Umgangs mit digitalen Medien zu vermitteln“ (S. 76).
Bemerkenswert ist, dass hochgesteckte pädagogische Erwartungen an das Web 2.0 auch relativiert werden, und das zum Teil sehr deutlich. So schreibt Hug (wenn auch in einer Fußnote): „Wie immer man die Web 2.0-Euphorien beurteilen mag, E-Learning hat im Großen und Ganzen als Hoffnungsträger für pädagogische oder sozial-kritisch motivierte Reformen und Veränderungsprozesse ausgedient“. (S. 222) Probleme sieht er in „Dynamiken der Normierung didaktischer Arrangements, der Reduktion von Optionen mediengestützter Lehr-/Lernprozesse auf den Funktionshorizont“ einer speziellen Software (ebd.). Ferner sieht er die Gefahr „der Favorisierung technologiegetriebener Entwicklungen“ oder „der Trivialisierung von Prozessen de[s] Wissens- und Kompetenzerwerbs“ (ebd.).
Fazit
Der Band zeigt, mit welchen Herausforderungen sich Medienpädagogik aktuell auseinandersetzt. Begrüßenswert ist, dass durchaus auch konträre Positionen zu Wort kommen. Das Jahrbuch dürfte in erster Linie ein Fachpublikum ansprechen – dabei ist vor allem die Frage nach operationalisierbaren Konzepten der Medienkompetenz interessant.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website
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