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Günther Wallraff: Aus der schönen neuen Welt

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 28.07.2010

Cover Günther Wallraff: Aus der schönen neuen Welt ISBN 978-3-462-04049-4

Günther Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen in Landesinnere. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2009. 325 Seiten. ISBN 978-3-462-04049-4. D: 13,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 26,90 sFr.
Reihe: KiWi - 1069 - Paperback.

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Autor

Günter Wallraff ist Schriftsteller und Journalist aus Köln. Bekannt geworden ist er durch seine zahlreichen Sozialreportagen seit den 1960er Jahren, die er über Großunternehmen und die Bild-Zeitung schrieb. Undercover als „Hans Esser“ schlich er sich in die Redaktion der Bild-Zeitung ein. Als Türke „Ali“ erforschte er die Lebens- und Arbeitsbedingungen von „Gastarbeitern“. In den 1990er war es ruhig um den Enthüllungsjournalisten geworden. Im Mai 2007 begann der 65-Jährige für das wiederbelebte Zeit-Magazin Leben zu recherchieren.

Thema

Das Buch versammelt eine ganze Reihe von Sozialreportagen, wovon einige bereits in der Zeit erschienen, einige auch verfilmt als Dokumentationen im Fernsehen gelaufen sind. Günter Wallraff begibt sich inkognito in die „Stätten der schönen neuen Welt“, in denen die „VerliererInnen“ der Globalisierung arbeiten und leben: Supermarkt-Discounter, Callcenter, Gastronomie - Orte, an denen Arbeitsrechte mit Füßen getreten werden und gewerkschaftliche Organisierung mit allen Mitteln verhindert wird. Zwei weitere Reportagen berichten über den alltäglich erfahrenen Rassismus in Deutschland sowie aus Obdachlosenheimen. Nicht in allen Stätten, über die er schreibt, ist er selbst gewesen. Die Geschichten basieren teils auf investigativen Recherchen, teils auf Schilderungen von Menschen, die dort arbeiten.

Einblicke in die Stätten der schönen neuen Welt

Die erste Reportage „Schwarz auf Weiß“ sticht direkt aus der Sammlung an Sozialreportagen heraus. Wallraff war über den Zeitraum von einem Jahr immer wieder als somalischer Flüchtling begleitet von einem versteckten Kamerateam in Deutschland unterwegs. Mit Hilfe einer Maskenbildnerin hat er sich eine dunkle Hautfarbe schminken lassen, um zu erfahren, wie es sich als „Schwarzer“ hierzulande lebt. Dabei entdeckte er auf vielen Stationen seiner Reise offenen oder versteckten Rassismus: auf Wohnungssuche in Köln, bei einem Fußballspiel in Cottbus, auf Suche nach einem Dauerstellplatz für einen Wohnwagen im Teutoburger Wald, in Kleingartensiedlungen und Biergärten im Ostteil Berlins.

Im Winter 2008/2009 recherchierte Wallraff undercover in Obdachlosenunterkünften in Köln, Koblenz, Frankfurt am Main und Hannover. Er schlief bei 15 Grad minus zusammen mit Obdachlosen unter freiem Himmel, um am eigenem Leibe zu erfahren, wie es sich auf der Straße lebt. Dabei deckte er zahlreiche Missstände in Sammelunterkünften auf. So verwundert es nicht, dass Obdachlose den Schlafplatz auf der Straße oft diesen Heimbetten vorziehen – ganz gleich wie kalt es draußen ist.

Als „Michael G.“ verkleidet recherchierte Wallraff auch den Arbeitsalltag in Callcentern. Dort verkaufte er System-Lottoscheine an Ahnungslose, eingerahmte Exemplare des Jugendschutzgesetzes an verunsicherte GaststättenbetreiberInnen oder Telefonverträge an ältere Damen. Wallraff berichtet, wie MitarbeiterInnen drangsaliert und Angerufene belästigt, falsch informiert und betrogen werden. Er kritisiert die unseriösen und betrügerischen Verkaufspraktiken, um Vertragsabschlüsse zu erzwingen. Gegen das – seiner Meinung nach viel zu lasche – „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ vom Juni 2009 werde permanent verstoßen.

In der Reportage „Kleine Brötchen für Lidl“ deckt Wallraff die Machenschaften im Lebensmittelsektor auf. 2008 arbeitete er einen Monat lang als „Frank Kimmerle“ im Niedriglohnsektor für eine Brotfabrik aus Stromberg, deren einziger Abnehmer der Lebensmitteldiscounter Lidl war. Er kritisiert, dass die Billigdiscounter mit ihrer Marktmacht Schuld daran seien, dass bei den Zulieferern die Arbeitsbedingungen wieder auf ein frühkapitalistisches Niveau absenken würden: schlechte Bezahlung, kaum Arbeitsschutz gravierende Sicherheitsmängel und skandalöse Hygienezustände.

In zwei weiteren Kapiteln berichtet er über die skandalösen Zuständen als (auszubildender) Koch in der Edelgastronomie und als VerkäuferIn beim Kaffeehaus Starbucks.

Bereits im April 2009 deckte Günter Wallraff in der Zeit einen weiteren Datenskandal bei der Deutschen Bahn auf, die zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen in den Negativschlagzeilen war. Unter Hartmut Mehdorn war dort ein Überwachungs- und Begünstigungssystem entstanden, um das Staatsunternehmen börsenreif zu machen: MitarbeiterInnen wurden eingeschüchtert und KritikerInnen der Privatisierung ruhig gestellt. Die beiden der Konzernleitung unterstellten Abteilungen „Revision“ und „Konzernsicherheit“ dienten dazu, dieses Regime aufrechtzuerhalten.

Im letzten Kapitel dokumentiert Günter Wallraff das Treiben einer unseriösen Anwaltskanzlei, die sich auf das Mobbing von GewerkschafterInnen in Betrieben spezialisiert habe, um Firmen auf Wunsch der Chefs zu gewerkschaftsfreien Zone zu machen.

Fazit

Günter Wallraff ist sich treu geblieben – journalistisch und politisch. Mag sich die (Arbeits-)Welt verändern, seine undercover-Methoden, bleiben die gleichen. Wer allerdings bereits die Reportagen der letzten zwei Jahre aus der Zeit von ihm kennt, findet in dem Reportageband nicht viel Neues. Die besten Stücke sind vorab in der Presse erschienen. Auch sind einige Ideen nicht neu: In die Rolle des Obdachlosen und „Schwarzen“ ist er schon vor Jahrzehnten geschlüpft. Doch sein Talent bleibt Wallraff erhalten: Er trifft die Dinge zur richtigen Zeit auf den Punkt. Sein anklagend-moralisierender Stil trifft das Gefühl der Menschen, die sich tagtäglich zu immer schlechteren Bedingungen abrackern müssen – und der Arbeitslohn nicht mehr zum Leben reicht. Dies haben die zahlreichen Skandale um Überwachung, Kündigungen wegen Lappalien, Mitarbeiterüberwachung, Gewerkschaftermobbing gezeigt. Seine Recherchen haben erheblich zur Skandalisierung beigetragen.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 28.07.2010 zu: Günther Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen in Landesinnere. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2009. ISBN 978-3-462-04049-4. Reihe: KiWi - 1069 - Paperback. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9541.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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