Heinz Abels: Identität
Rezensiert von Dr. Juliane Noack Napoles, 29.09.2010

Heinz Abels: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität [...].
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
2., überarbeitete und erweiterte Auflage.
509 Seiten.
ISBN 978-3-531-16119-8.
34,95 EUR.
(Fortsetzung des Untertitels:) ...und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt.
Reihe: Lehrbuch.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-658-14154-7 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Bei dem 2006 in erster und 2010 in überarbeiteter und erweiterter Auflage erschienenen Buch von Heinz Abels „Identität: Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt“ handelt es sich um ein Lehrbuch. Der Autor geht von der These aus, dass wir in einer fortgeschrittenen Moderne leben, in der wir immer häufiger auf die Frage gestoßen werden, wer wir sind (S.15). Der soziologische Begriff für die Antwort auf diese Frage laute Identität und diese wird wiederum als Konstrukt konzipiert. Das Thema des Buches ist die soziologische Diskussion über Identität, die der Autor als Sozialgeschichte eines dreifachen Anspruchs wiederzugeben intendiert: Da sei erstens der Anspruch des Menschen, ein Individuum zu sein, zweitens der Anspruch, Individualität auszubilden und sie zu zeigen, und drittens der Anspruch, in seiner Identität anerkannt zu werden (S.16).
Aufbau und Inhalt
Das 509 Seiten umfassende Werk ist in dreißig Kapitel unterteilt, die im Durchschnitt aus fünf Unterkapiteln bestehen. Inhaltlich besteht die Arbeit aus zwei gleich großen Teilen. Der erste versteht sich als historische Soziologie der Individualität und umfasst die ersten siebzehn Kapitel. Um sich ein Bild über die Inhalte machen zu können, liste ich diese namentlich auf:
- 1. Einladung zu einer historischen Soziologie der Individualität
- 2. Typische Individualität und traditionelles Verhalten
- 3. Erste Definitionen von Individualität und Individualisierung
- 4. Ökonomische Entwicklungen im Wandel zur Moderne
- 5. Normative Krisen
- 6. Humanismus: Der Mensch lernt Zutrauen zu sich selbst
- 7. Reformation: Der eigene Weg zum Heil und der Zwang zum Erfolg im Beruf
- 8. Innenleitung
- 9. Aufklärung
- 10. Zwei Formen des Individualismus und eine Definition von Individualität
- 11. Differenzierung, Individualität, Kampf um Aufmerksamkeit
- 12. Anlehnung und Unterscheidung. Über Mode und Lebensstile
- 13. Individualisierung – zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition
- 14. Differenzierung, Individualisierung, Individualität
- 15. Zweckrationalität, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens
- 16. Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede
- 17. Individualisierung und reflexive Modernisierung.
Hergeleitet und dargelegt wird, dass die Geschichte der Individualität in der Moderne die Geschichte einer doppelten Freiheit ist. Die eine Freiheit bezeichnet Abels als „Freiheit zur Individualität“, womit jedoch auch die andere, die „Freiheit von einem einheitlichen gesellschaftlichen Orientierungsrahmen, in dem die Individualität für einen selbst und vor anderen Sinn machen würde, beginne. Insofern sei es eine zweifache Individualisierung gewesen, die das Individuum durchgemacht habe und durchmache: „Es wird angehalten, auf eigenen Füßen zu stehen, selbst zu denken und seine Einzigartigkeit zu zeigen. Gleichzeitig sieht es sich aber auch alleingelassen, denn soziale Bindungen lösen sich auf, feste Orientierungen verflüchtigen sich, und einzigartige Entscheidungen laufen ins Leere, weil für alles schon Muster vorliegen, die zu missachten nicht opportun ist, weil man sonst Anerkennung verliert.“ (S. 242) Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei pluralisiert und deshalb gebe es bei vielen Entscheidungen, wenn man sie überhaupt treffe, gute Gründe, sie auch ganz anders zu treffen. Das Individuum behelfe sich, indem es sich nie ganz und endgültig festlege und die Frage, wer es in all diesem eigentlich selbst sei, nicht aufkommen lasse. Diese Frage, wer bin ich, lasse sich auch differenzieren und die auf einander bezogenen einfachen Fragen lauteten dann: „Wie bin ich geworden, was ich bin?“, „Wer will ich sein?“, „Was tue ich?“ und „Wie sehen mich die anderen?“ (S. 245) Die Auseinandersetzung mit dem soziologischen Begriff für die Antworten auf diese Fragen – Identität – konstituiert den zweiten Teil des Buches bestehend aus folgenden Kapiteln:
- 18. Identität: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel
- 19. Identität – sich selbst zum Objekt machen
- 20. Identität als Integration von Grundhaltungen
- 21. Identität – stabile Orientierung in einem komplexen Rollensystem
- 22. Außenleitung
- 23. Wir alle spielen Theater
- 24. Spiegel und Masken
- 25. Beschädigungen und mögliche Gefährdungen der sozialen Identität
- 26. Ansprüche
- 27. Behauptungen, Revisionen, Verwandlungen
- 28. Die Krise der Lebenswelt: Entzauberung, Kolonialisierung, Ambivalenz
- 29. Die Krise der Identität in der Moderne
- 30. Kompetenzen
Ziel des Autors ist es hier, prominente Theorien zu referieren, die erklären unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Arbeit an der Identität vonstattengeht. Namentlich stellt Abels u.a. die Ansätze folgender Autoren vor: George Herbert Mead und dessen These, dass sich das Individuum seiner selbst bewusst wird, indem es sich mit den Augen des Anderen betrachtet. Erik H. Eriksons aus einer psychoanalytischen Entwicklungstheorie entwickelten Gedanken der Verschränkung von psychosozialer und psychosexueller Entwicklung. Talcott Parsons Ansatz, dass Identität bedeute, dem Rollenpluralismus, der durch die soziale Differenzierung entstanden sei, eine angemessene individuelle Integration entgegenzusetzen. David Riesman mit seinem Konzept der Außenleitung, d.h. das Individuum tue das, was alle tun, und sei bereit, sich immer wieder neu auf den Zeitgeist einzustellen, sodass es zum Schluss nicht mehr wisse, wer es sei und was mit ihm geschehe. Es wird Erving Goffmans These vorgestellt, dass Identität im Alltag eine Frage der Präsentation sei und deren Zuspitzung durch Anselm Strauss, dass wir in Interaktion mit anderen Masken aufsetzen, mit denen wir unsere Identität zum Ausdruck bringen wollen, und uns in den anderen spiegeln, die uns mit ihren Erwartungen und Reaktion sozial verorten. Charles Taylor führt Abels an, um zu erklären, warum das Individuum die Anerkennung der anderen braucht und was sie beinhaltet. Darüberhinaus werden die Ansätze und Gedanken von Uwe Schimank, Max Weber, Jürgen Habermas, Anthony Giddens, Jean-Francois Lyotard, Zygmunt Bauman, Peter L. Berger et.al., Richard Sennett, Lothar Krappmann, Aaron Antonovsky und Karl Mannheim skizziert.
Das Buch endet schließlich mit einem Kapitel „Kompetenzen“. Dieses soll „den soziologischen Blick auf die Identität in der Moderne wieder etwas weiten und sowohl Bedingungen nennen, unter denen sie gewonnen und behauptet werden kann, als auch Kompetenzen aufzeigen, die dafür vonnöten sind.“ (S. 432)
Diskussion
Das Ziel, das der Autor mit seinem Buch verfolgt, ist es, die soziologische Diskussion über Identität als Sozialgeschichte eines dreifachen Anspruchs wiederzugeben. In den ersten siebzehn Kapiteln wird der Leser Schritt für Schritt über die Konzepte der Individualität und Individualisierung bis hin zum eigentlichen Thema Identität geführt. Es wird nachvollziehbar, seit wann und wodurch ausgelöst sich der Mensch mit seinem eigenen So-Sein beschäftigt und warum dies zu einer immer größeren Herausforderung für ihn geworden ist. Der Autor macht deutlich, dass es sich nicht um monokausale Beziehungen handelt und wie unterschiedliche Erklärungsansätze zusammenhängen und sich ergänzen. Dies geschieht, ausgehend von dem Anspruch, dass es sich um ein Lehrbuch handelt, konsequent strukturiert und gegliedert. Eine weitere didaktische Raffinesse sind die immer wieder eingebauten Wiederholungen und Verweise auf bereits Geschriebenes oder auf noch Kommendes. Darüberhinaus animiert der Autor durch gezielt eingesetzte Denkanstöße bspw. in Fußnoten oder durch Zitate zu Beginn eines jeden Kapitels zum Selberdenken und dazu, den soziologischen Horizont zu erweitern.
Fazit
Das vorliegende Buch bereitet das Thema Identität unaufdringlich didaktisch und spannend auf. So kann es für Studenten, für die studieren im eigentlichen Sinne des Wortes noch bedeutet, sich um etwas zu bemühen bzw. sich mit etwas zu beschäftigen, ein Wegbereiter sein: Soziologisches Denken wird an sich erfahrbar, zum einen, da ja Identität kein genuin soziologisches Thema ist, das sich nicht auch aus pädagogischer, psychologischer oder rein philosophischer Perspektive diskutieren ließe. Zum anderen wird verstehbar, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zum Aufkommen und zur Problematisierung der Thematik geführt haben. Insofern ist es auch ein hervorragendes Buch für all jene, die verstehen wollen, was sich hinter den öffentlich geführten Individualisierungsdebatten und der in der heutigen Zeit als besonders schwierig geltenden Identitätssuche verbirgt.
Rezension von
Dr. Juliane Noack Napoles
Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln
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