Wolf Rainer Wendt (Hrsg.): Wohlfahrtsarrangements
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 20.10.2010

Wolf Rainer Wendt (Hrsg.): Wohlfahrtsarrangements. Neue Wege in der Sozialwirtschaft.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2010.
131 Seiten.
ISBN 978-3-8329-5244-0.
24,00 EUR.
CH: 43,50 sFr.
Reihe: Forschung und Entwicklung in der Sozialwirtschaft - Band 6.
Thema
„In Arrangements sozialer Versorgung stellen sich Personen und Organisationen auf individuelle Bedarfskonstellationen ein. Aktuell entwickeln sich neue, flexible Formen von Diensten und Einrichtungen im Angebot gemischter Wohlfahrtsproduktion. Ihre Konzeption ist Gegenstand der theoretischen und empirischen Studien in diesem Band. Muster von Arrangements, mit denen man informell und dienstlich den Herausforderungen komplexer sozialer und gesundheitlicher Problemlagen begegnen kann, werden vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher Konzepte beschrieben.“ (Klappentext)
Herausgeber
Dr. Wolf Rainer Wendt war bis zu seiner Emeritierung Professor und Leiter des Ausbildungsbereiches Sozialwesen der Berufsakademie Stuttgart.
Er ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) und Sprecher der Fachgruppe Sozialwirtschaft der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit.
Aufbau und Inhalt
Der Herausgeberband versammelt fünf Artikel von einschlägig ausgewiesenen Autoren.
Im ersten Artikel (S. 11 – 52) setzt sich der Herausgeber Wolf Rainer Wendt mit „Arrangements der Wohlfahrtsproduktion in der sozialwirtschaftlichen Bewerkstelligung von Versorgung“ auseinander. In zwölf Kapiteln werden u. a. Fragen der Sozialen Produktivität, des Capabilities-Ansatzes, der Anordnung und Übereinkunft im Versorgungsgeschehen, der sozialräumlichen Dimension von Arrangements und des Verhältnisses von Arrangeuren untereinander diskutiert. Dabei wird deutlich, dass Wendt „Wohlfahrtsproduktion“ sehr breit definiert, nämlich als „eine Bereitstellung solcher Güter, die in der Bevölkerung direkt zu individueller Wohlfahrt als einer Kombination von objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden“ führen (S. 17), zunächst völlig unabhängig davon, ob sie von den Einzelpersonen in Eigenregie oder durch formelle Dienste hergestellt werden. In „Arrangements werden Tätigkeiten in ihrem Zusammenhang organisiert und die Beziehungsverhältnisse, in denen sie stattfinden und ihren Zweck erfüllen, geordnet.“ (S. 29). An vielen, auch internationalen Beispielen erläutert Wendt dann solche „Unterstützungsmodalitäten“.
Ein Beispiel für neue „Arrangements“ stellt in Kapitel 2Herbert Schubert vor. Sein Artikel ist überschrieben: „Neue Arrangements der Wohlfahrtsproduktion – am Beispiel der Organisation von Netzwerken früher Förderung“ (S. 53 – 86). Sein Vernetzungsmodell geht von der beklagenswerten Feststellung aus, dass für Klienten häufig vorhandene Dienstleistungen nicht nutzbar sind, weil sie in funktional zergliederten und hierarchisch segmentierten Organisationen produziert werden: „Gemeinsame Schnittstellen werden nicht wahrgenommen, was zum Aufbau von Doppelstrukturen und zu Wiederholungen von Handlungsansätzen beiträgt.“ (S. 54) Die Idee der Netzwerkkooperation: „Die Kooperation auf der meso- und makrosozialen Ebene findet in der Regel zwischen zwei oder mehr wirtschaftlich und rechtlich selbstständigen Organisationen zur Erreichung eines oder mehrerer gemeinsamer Ziele statt, indem zweckorientiert eine Funktionskoordination und gemeinsame Funktionserfüllung erfolgt.“ (S. 58) Nach ausführlichen theoretischen Begründungen wird ein Beispiel vorgestellt: das „Netzwerk Frühe Förderung“ (NeFF) (S. 67 ff). In diesem Netzwerk haben sich Familienzentren und Kitas zu einem „Netzwerk für Familie und Kinder“ zusammengefunden. Unter der Führung des kommunalen Trägers wird durch eine „Bündelungsstelle“ und Netzwerkkooperation versucht, die „Versäulung und das isolierte Handeln der professionellen Akteure auf operativen Inseln zu verringern.“ (S. 68) Anhand von fünf Bausteinen wird dargestellt, wie sich Netzwerke konstruieren lassen. Der Autor thematisiert insbesondere auch die nötigen Managementbedingungen (z. B. Aufbauorganisation), die für eine solche Netzwerkarbeit nötig sind, wenn sie diesen Namen verdienen soll.
Gegenstand von Kapitel 3 (S. 87 – 99) sind die „Circles of Support. Ein soziales Arrangement im Kontext von Behinderung“, Autorin ist Alina Kirschniok. Damit sind „Unterstützerkreise“ von Akteuren gemeint, „die sich in regelmäßigen Zeitabschnitten treffen, um einen Akteur mit Behinderung bei der Erreichung selbst gesetzter Ziele zu unterstützen“. (S. 88) Nach etymologischer und funktionaler Herleitung der „Circles of support“ (COS) betont die Autorin, es sei nun „das COS-Modell am Dortmunder Beispiel in den Blick zu nehmen“ (S. 91). Sie tut dies anhand von Protokollen und Jahresberichten, Aufzeichnungen über unstrukturierte Beobachtungen, informellen Gesprächen, Eindrücken usw. Sie beschreibt in inhaltsanalytischer Auswertung dieser Materialien eine „strukturelle und inhaltliche Morphologie der Circles of Support am Dortmunder Beispiel“ (S. 92). Hierbei geht es um eine Gruppe von 57 Studierenden, die in einem Zeitraum von zehn Jahren insgesamt elf vorwiegend erwachsene Autisten betreut haben. Es werden abschließend studentische Akteure zitiert, die sich mit dem Thema „Behinderung“ reflexiv auseinandersetzten. Die Autorin nimmt ein Spannungsfeld zwischen Behinderung, Unterstützung und Verantwortung wahr.
Das vierte Kapitel (S. 101 – 114) von Volker Brinkmann ist überschrieben mit „Konzept der intermediären Leistungserstellung – Ein Beitrag zur Theorie intermediärer Engagements in der Sozialwirtschaft“. Sehr systematisch entwickelt der Autor das, was unter „Sozialwirtschaft“ verstanden wird, er definiert Begriffe wie „Hilfe, Intermediarität, Human- und Sozialkapital“, um anschließend die „Intermediäre Funktionen der Sozialwirtschaft“ zu erläutern. Dazu definiert er sozialwirtschaftliche Organisationen wie folgt: „Die Sozialwirtschaft ist durch differente, aber ergänzende Herstellungsweisen niedrigschwelliger Organisationen der Selbsthilfe mit höherschwelligen Dienstleistungseinrichtungen der privatgemeinnützigen Träger der Wohlfahrtspflege und der marktlich orientierten Unternehmen verbunden und gestaltet die Produktion sozialer Hilfedienste und Dienstleistungen mittels einer Mischung aus Versorgung, Fürsorge, Gesetzen, vertraglichen Regelungen, gegenseitiger Hilfe und Freiwilligenarbeit synergetisch.“ (S. 106) Aus dieser Definition von Intermediarität werden einige Folgerungen für das Management gezogen. Schließlich erläutert der Autor einige Aspekte des sozialwirtschaftlichen Nutzens sozialer Netzwerke. Er geht dabei auf eine Veränderung in den Leitbildern moderner Verwaltung ein (von der Government-Orientierung zum Governance-Ansatz), um schließlich mit Case Management als „Methode des intermediären Engagements“ (S. 112) die Organisation intermediären Engagements zu thematisieren.
Kapitel 5 (S. 115 – 129) von Ludger Kolhoff beschäftigt sich mit der „Synergetik in der Wohlfahrtsproduktion“. Hier diskutiert der Autor die Frage, ob „synergetische Ansätze hilfreich sind, um die komplexen Strukturen und Vorgänge der Wohlfahrtsproduktion besser verstehen und effizienter und effektiver handeln und Veränderungs- und Selbstorganisationsprozesse einleiten zu können.“ (S. 115) Er führt in einem ersten Schritt Begriffe aus der Physik (Kontrollparameter, Instabilität, Ordnerbildung) ein, die er in einem zweiten Schritt auf die Wohlfahrtsproduktion überträgt. Anwendungsbeispiele sind hier etwa die Generationenfrage, die Veränderung des Feldes der sozialen Dienstleistungen „vom Recht zum Markt“ oder der Paradigmenwechsel „von der Sach- zur Geldleistung“. Auf der „Mikroebene“ werden schließlich Handlungsoptionen im Sozialraum aufgezeigt.
Diskussion
Die Artikel sind sehr unterschiedlich in Länge, Qualität und Originalität. Nur einige Aspekte sollen herausgegriffen werden:
An Wendts Einleitungskapitel ist insbesondere die Fülle des verarbeiteten Materials, der verschiedenen Modelle und Ansätze, die der Autor kennt und manchmal beiläufig einfließen lässt, bemerkenswert. Allerdings hätte dem Artikel eine deutlichere Straffung gut getan.
Herbert Schuberts Artikel über Netzwerke ist in der Analyse und in seiner theoretischen Ausrichtung überaus lesenswert. Das Modell selbst ist sehr ähnlich dem, was seit längerer Zeit als „Systemsteuerung“ in der Case-Management-Praxis diskutiert wird. Es dürfte – so die Vermutung des Rezensenten aus eigener Anschauung –, insbesondere, was die Management-Aspekte betrifft, nicht so einfach zu implementieren sein, wie es das „Baustein“-System vielleicht vermuten lässt.
Was an den „Circles of Support“ als „Wohlfahrtsarrangement“ neu ist, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Man hat dies früher vielleicht anders benannt (Helferkreis?), aber die Aktivitäten ähneln doch sehr dem, was Wohlfahrtsverbände seit Jahrzehnten auch ohne englische Benennung tun. Es ist sicher nicht unwichtig, wenn als Ergebnis dieser Circles die Reflexionen der Studierenden über das Thema „Behinderung“ dargestellt werden. Für die heutigen Diskurse von wirkungsorientierter Hilfe wäre es allerdings wesentlich interessanter, welche Effekte die Circles bei den Adressaten der Hilfe haben.
Der für mich beste Artikel ist der von Volker Brinkmann. Er beschränkt sich auf einen theoretischen Abriss, bewältigt diesen aber sehr gut. Die Begriffe sind definiert, das Konzept von „Intermediarität“ wird klar erläutert, einige praktische Auswirkungen werden angerissen. Diesen Artikel könnte ich mir sehr gut in einer einführenden Vorlesung über „Sozialwirtschaft“ vorstellen.
Gleiches vom letzten Artikel zu sagen, wäre übertrieben. Dieser versucht, physikalische Gesetzmäßigkeiten für die sozialwirtschaftlichen Diskurse nutzbar zu machen. Leider werden nach der Darstellung der physikalischen Theorie nur noch die physikalischen Begriffshülsen benutzt, um vergleichsweise vertraute Themen (z. B. Überalterung der Gesellschaft, Marktorientierung der Sozialwirtschaft) zu präsentieren. Und dass die „Ebenen der Wohlfahrtsproduktion miteinander verschränkt [sind]“, sodass Veränderungen auf der Makroebene Auswirkungen auf die Mikroebene haben sollten (S. 127), hätte man vielleicht auch ohne Ausflug in die Physik verstanden.
Fazit
Das Buch bietet einiges Neues, ist aber insgesamt in weiten Teilen doch weniger innovativ, als sein Titel vielleicht suggeriert. Allerdings sind es einige systematische und theoretische Artikel wert, gelesen zu werden, da sie traditionelle Sichtweisen der Sozialwirtschaft infrage stellen. Über die eigene Praxis anhand analytischer Modelle nachzusinnen, ist allenthalben sinnvoll.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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