Martina Goblirsch: Biographien verhaltensschwieriger Jugendlicher [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Eva-Mia Coenen, 24.02.2011
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Martina Goblirsch: Biographien verhaltensschwieriger Jugendlicher und ihrer Mütter. Mehrgenerationale Fallrekonstruktionen und narrativ-biographische Diagnostik in Forschung und Praxis.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
379 Seiten.
ISBN 978-3-531-16928-6.
39,95 EUR.
Reihe: VS research.
Autorin
Dr. Martina Goblirsch ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel im Fachbereich Sozialwesen, Fachgebiet "Sozialwissenschaftliche Grundlegung von Fallanalysen", tätig.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Biographie- und videogestützte Interaktionsanalyse, fallrekonstruktive Erzählforschung, Migration, Jugendhilfe
Entstehungshintergrund und Thema
Das vorliegende Buch fußt auf der Dissertation der Autorin, deren Inhalt methodisch in der Tradition der Sozialpädagogik als auch in der Soziologie verankert ist. Das Ziel dieser Dissertationsschrift bestand darin, eine narrativ-biographische Diagnostik zu entwickeln, die auf der struktural-hermeneutischen Analyse biographischer Textpassagen und einer soziolinguistischen Positionierungsanalyse basiert. Die Originalität der Untersuchung besteht, wie bereits im Geleitwort vermerkt, darin, dass die Biografieforschung als wissenschaftliche Analyse und Diagnostik integrativ vorgestellt und die Diagnostik in der Praxis erfolgreich eingesetzt wird. Die narrativ-biographische Diagnostik wird also in Anbindung an eine stationäre Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt, dort erprobt und in den Praxisalltag der Einrichtung implementiert.
Zielgruppe
Dieses Buch richtet sich vorwiegend an Führungskräfte in der Kinder-und Jugendhilfe, Studierende der Heil - und Sonderpädagogik, aber auch der Sozialpädagogik sowie an Methodiker der Fachhochschulen und Universitäten.
Aufbau
Das vorliegende Buch ist in sieben Kapitel untergliedert, beginnt mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Andreas Hanses (TU Dresden), einem Abbildungs- und Tabellenverzeichnis und einer Einführung der Autorin mit folgenden Schwerpunkten:
- Jugendliche in schwierigen Lebenslagen
- Soziologische Zugänge zur biographischen Entwicklung
- Zum Generationsbegriff in der mehrgenerationalen Biographieforschung
- Biographische Fallrekonstruktion in Forschung und Praxis
- Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit
Den sieben Kapiteln schließt sich ein ausführliches Literaturverzeichnis an.
Einführung
Im Mittelpunkt steht die Frage, welchen schwierigen Lebenslagen Randgruppen - Jugendliche in der Gegenwart ausgesetzt sind, welche psychosozialen Zusammenhänge zwischen den Verhaltensweisen der Jugendlichen in der Gegenwart und dem Biographiehintergrund der Eltern bzw. Großelterngeneration bestehen und inwiefern man mit Hilfe der mehrgenerationalen Biographieforschung (insbesondere durch die Fallrekonstruktion) differenzierte Aufschlüsse über die Ursachen der Verhaltensstörungen der Jugendlichen erhalten kann.
Die Autorin formuliert deshalb folgende Forschungsfrage, die sich in einen theorie- und einen praxisorientierten Teil gliedert und in der vorliegenden Arbeit beantwortet wird:
- Wie sehen mehrgenerationale biographische Strukturierungen von Müttern und ihren Kindern im Jugendalter aus, wenn der Sozialisationsprozess nicht zur erwarteten Bewältigung der Aufgaben durch die Heranwachsenden führt und ihre künftige autonome Erwachsenenpraxis gefährdet ist?
- Welche Möglichkeiten gibt es innerhalb der professionellen Hilfe, hier der stationären Jugendhilfe, diese Strukturen zu erkennen und im professionellen Kontext zugunsten der Klienten zu nutzen? (vgl. S. 39)
Gesellschaftliche Moderne und Biographie
Anhand von gesellschaftstheoretischen Überlegungen zur funktional differenzierten Moderne wird daraus ein Konzept der Biographie als biographische Kommunikation abgeleitet. Biographien werden nicht als „fertige Produkte“ (vgl. S. 43) verstanden, sondern als kommunikative Konstruktionen.
Es wird auf das gesellschaftstheoretische Verständnis nach Fischer-Rosenthal und Luhmann rekurriert und auf die besonderen Herausforderungen an das Individuum in der Moderne verwiesen, wobei der Identitätsbegriff kritisch hinterfragt und das Konzept biographischer Strukturierung abgeleitet wird.
Das soziologische Biographiekonzept bewegt sich im „Kreuzungsbereich des Konzepts persönlicher Identität und sogenannter strukturaler gesamtgesellschaftlicher Bedingungen.“(S. 49)
Folgende Thesen charakterisieren zusammenfassend das Konzept der biographischen Strukturierung (vgl. S. 54; Fischer-Rosenthal 2006, S.67f):
- Biographische Strukturierung ist ein multi-relationales und polytextuelles Konstrukt, das kontingent, aber nicht beliebig ist.
- Soziale Interaktion benötigt mehrere Akteure, demzufolge ist das Konzept nicht auf eine fixe lokale Zuordnung in der Gesellschaft fokussiert. Es ersetzt die statische Größe einer fixen Zuordnung durch einen interpretativen Prozess, wie man geworden ist.
- Biographische Strukturierung ist dialogisch und interaktiv.
- Die Analyse autobiographischer Texte sollte hermeneutisch und rekonstruktiv sein.
- Eine Biographie bezieht sich immer auf die Geschichte des Erzählers und dessen Leiblichkeit zugleich.
- dieses Konzept der Biographie verhindert die Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft.
„Biographische Strukturierung ermöglicht aber auch die Formulierung von Prognosen. Dabei werden die rekonstruierten biographischen Strukturen gedanklich fortgeschrieben und es wird aufgezeigt, [wohin es führt, E.-M. Coenen], wenn sich die biographische Strukturierung in ähnlicher Weise fortsetzt wie bisher.“ (S. 56)
Das fallkonstruktive Verfahren der struktural-hermeneutischen Analyse biographischer Texte und die Positionsanalyse sind die empirischen Antworten auf die skizzierten gesellschaftstheoretischen Überlegungen. (vgl. S. 62ff)
Forschungsdesign und Methoden
In diesem Kapitel wird anhand eines Theorie-Praxis-Projektes, das von 2001 bis 2007 von der Autorin in einer Jugendhilfeeinrichtung durchgeführt wurde und neben der Datenerhebung auch die Implementierung der narrativ-biographischen Diagnostik beinhaltet, die konkrete empirisch Vorgehensweise und die Auswertung der Daten beschrieben. Im Rahmen des Samples wurden 28 narrativ-biographische Interviews erhoben und analysiert. Die Interviews umfassen 12 Fälle, wobei mit Fällen ganze Familien gemeint sind.
Biographische Strukturierung verhaltensschwieriger Jugendlicher und ihrer Mütter – mehrgenerationale Fallrekonstruktionen in der Forschung
Dieses Kapitel beinhaltet drei „typische“ (S. 253) mehrgenerationale Fallrekonstruktionen, die exemplarisch das Konzept der biographischen Strukturierung abbilden:
- „Fallrekonstruktion Petra und Benny Maier: immer die gleiche Mutter, aber drei verschiedene Väter“ (S. 111ff)
- „Fallrekonstruktion Sanna und Lena Gambasch: weil wir aus Rumänien kommen“ (S.151ff)
- „Fallrekonstruktion Elisabeth und Samuel Klein: meine halbe Familie wohnt in Russland“ (S.192 ff)
Die obengenannten Fallrekonstruktionen sind nach folgendem Muster gegliedert:
- Biographische Strukturierung von Mutter und Kind im mehrgenerationalen Bezug
- Erlebte Lebensgeschichte des Kindes
- Erzählte Lebensgeschichte des Kindes
- Zusammenfassung
Narrativ-biographische Diagnostik- mehrgenerationale Fallrekonstruktionen in der professionellen Praxis
Im vorangegangenen Kapitel wurden im Rahmen des Theorie-Praxis-Projekts drei typische Fälle dargestellt und die Rekonstruktion ergebnisorientiert im Sinne einer Theoriegenerierung präsentiert. (vgl. S.253) In diesem 6. Kapitel wird nun anhand eines weiteren Falles von Ursula und Markus Walter: „ich bin adoptiert“ (S. 265) die Vorgehensweise nach der narrativ-biographischen Diagnostik vorgestellt.
Zu Beginn wird der Diagnostikbegriff historisch hergeleitet. Dabei wird auch die diagnosekritische Diskussion in der Sozialen Arbeit aufgegriffen und bei allen noch offen stehenden Fragen konstatiert, dass „ bei Anerkennung prinzipieller Differenzen zwischen Forschung und professioneller Handlungspraxis hier ein Konzept struktural-hermeneutischer Erzeugung neuen Wissens ausgearbeitet wird, das gerade auf Fallspezifik baut, um allgemeine Erkenntnisse zu gewinnen.“ (S.256)
Sehr detailliert und für den interessierten Leser nachvollziehbar wird zunächst die gelebte Lebensgeschichte, die erzählte Lebensgeschichte, die Feinanalyse und die Empfehlung bzw. Prognose vorgestellt.
Dieses fallrekonstruktive Verfahren der narrativ-biographischen Diagnostik eröffnet für Praktiker der Jugendhilfe in Ämtern bzw. Einrichtungen der Erziehungshilfe neue Möglichkeiten, um aufgrund der erstellten Diagnose passgenauere Erziehungsziele und pädagogische Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den Eltern zu konzipieren und umzusetzen.
Generalisierungen und Ausblick
Dieses Kapitel beantwortet zusammenfassend insbesondere den zweiten Teil der Forschungsfrage anhand der Ergebnisse des Theorie-Praxis-Projekts in einer Jugendhilfeeinrichtung und zeigt, „dass empirisch gestützte Verfahren den professionellen Praxisalltag aufgrund der Erweiterung von Wissen zwar nicht vereinfachen, ihn jedoch professionell stützen und ausdifferenzieren.“ (S.336)
Interessante Ergebnisse zeigt die Arbeit auch in Beantwortung des ersten Teils der Forschungsfrage, die typisierend anhand der drei skizzierten Mütter-Kind- Rekonstruktionen gewonnen werden konnten und hier kurz genannt werden sollen:
- Typus A: Der Sohn als Repräsentant des ungelebten Lebens seiner Mutter
- Typus B: Die Tochter als Repräsentantin der unbewältigten Vergangenheit ihrer Mutter
- Typus C: Der Sohn als Störung der symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Großmutter
Anhand von fallübergreifenden Generalisierungen werden noch einmal die Forschungsergebnisse resümiert und unter anderem neue Forschungen angeregt, die zum Beispiel die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Fähigkeit des Individuums, sich als Akteur zu verstehen, und Resilienz als einem spezifischen Handlungs- und Orientierungsmuster der Krisenbewältigung zu untersuchen. (vgl.S.358)
Die Autorin regt an, Soziologie, Linguistik, Psychologie, Soziale Arbeit und Grundlagenforschung interdisziplinär zu vernetzen und damit die Methodologie und die Methoden der Biographieforschung weiter auszudifferenzieren und anwendungsbezogene Einzelstudien besser zu fundieren. (vgl. S. 358)
Fazit
Dieses Buch erlaubt interessante Einblicke in den anspruchsvollen Ansatz der Biographieforschung als wissenschaftliches Analyse- und Diagnoseverfahren. Anhand der exemplarischen Fallrekonstruktionen ist auch für Fachkräfte der Jugendhilfe nachzuvollziehen, wie die narrativ-biographische Diagnostik zur Aufhellung der multifaktoriell bedingten Sozialisationsprobleme verhaltensschwieriger Jugendlicher beiträgt und infolge der sehr differenzierten Fallanalysen zu oft angemesseneren pädagogischen Entscheidungen führt.
Insgesamt liegt ein sehr lesens- und empfehlenswertes Buch vor, von dem zu wünschen ist, dass wichtige Erkenntnisse auch in andere Praxiseinrichtungen umgesetzt werden. Insgesamt handelt es sich um einen wichtigen Beitrag für die weitere Professionalisierung sozialpädagogischer Analyse und Diagnostik.
Rezension von
Prof. Dr. Eva-Mia Coenen
Studienrichtungsleiterin Hilfen für Erziehung an der Staatlichen Studienakademie Breitenbrunn
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