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Eva Tov: Leben mit der Vergewaltigung

Rezensiert von Dr. Michaela Schumacher, 03.09.2010

Cover Eva Tov: Leben mit der Vergewaltigung ISBN 978-3-86649-244-8

Eva Tov: Leben mit der Vergewaltigung. Narrative Identitätskonstruktionen bei Frauen mit sexualisierter Gewalterfahrung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2009. 445 Seiten. ISBN 978-3-86649-244-8. D: 48,00 EUR, A: 49,40 EUR, CH: 81,00 sFr.
Reihe: Rekonstruktive Forschung in der sozialen Arbeit - Band 7.

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Thema

In ihrer Dissertation geht die Autorin der Frage nach „Wie leben Frauen nach dem Erleben sexualisierter Gewalt? Was bedeutet es für das weitere Leben, mit einer solchen Gewalterfahrung fertig zu werden?“ Ihr erkenntnisleitendes Interesse gilt dem subjektiven, persönlichen Focus betroffener Frauen. Ziel ist es Einsichten und Erkenntnisse zu gewinnen, wie betroffene Frauen und ihre Umwelt hilfreicher unterstützt werden können.

Autorin

Eva Tov ist als Hochschullehrerin an der Hochschule für soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz tätig. Themenschwerpunkte sind Qualitäts- und Organisationsentwicklung, Evaluationen im Bereich Bildung, Konflikt und Gewalt mit Schwerpunkt familiäre und sexualisierte Gewalt.

Aufbau

Das Buch besteht aus einer Einleitung, 3 Teilen mit mehreren Kapiteln, einem Literaturverzeichnis und Anhang.

  • Einleitung
  • Teil A: Grundlagen
  • Teil B: Empirie I und Empirie II
  • Teil C: Vergleichende Betrachtungen
  • Literaturverzeichnis und Anhang

Inhalt

Nach der Begegnung mit den betroffenen Frauen und ersten Gesprächen veränderte die Autorin ihr Forschungsdesign, da deutlich geworden war, dass sowohl die Art wie erzählt wurde ebenso vielfältig und beeindruckend war wie das, was erzählt wurde. Das narrative Interview mit Sequenzanalyse nach Schütze (1983, 1987), das elaborierte Auswertungsverfahren – Grounded Theory - nach Glaser/ Strauch (1967) zur Entwicklung einer gegenstandsfundierten Theorie, sind empirische Methoden, die sowohl dem Inhalt als auch der Struktur der Erzählungen Rechnung tragen. In der Biografieforschung (Budde 1984; Rosenthal 1989, Roesler 2001) fokussiert die Autorin „die Rekonstruktion von Erfahrungsweisen und sozialen Sinnstrukturen“. In ihrem Zugang liefern die Untersuchungspersonen Deutungen I. Ordnung und die WissenschaftlerIn Deutungen II. Ordnung.

Die theoretische Fundierung des Forschungsgegenstandes erfolgt anhand der Variablen Biografie, Identität und Erzählen. Benannt und sowohl kurz und knapp als auch einleuchtend und überzeugend werden die für diese Arbeit relevanten Elemente der genutzten Ansätze erläutert: Konstituenten der Biografie – Sprache, Erleben und Erfahrung, Zeitlichkeit – ; Konstituenten der Identitätsforschung - soziale Umwelt, Individuelle Ressourcen, Kohärenz und Kontinuität, Vermittlungsfunktion, Produktion von Sinnhaftigkeit, psychopathologische Aspekte der Identitätsentwicklung, Identität und Selbst – und des Biografischen Erzählens – narrative Kompetenz, erzählerische Perspektive, Funktionen der Erzählungen sowie Sprachmodi, kognitive Figuren und Zugzwänge des Erzählens –.

Des Weiteren werden die Konzepte „Leben“, „Freiheit“ und Beeinträchtigung literarisch fundiert und auf ihre Relevanz für das Forschungsthema „Leben mit der Vergewaltigung“ geprüft. Es folgt eine Bearbeitung der Theorie und Empirie zum Thema Vergewaltigung und damit eine definitorische Klärung von Begrifflichkeiten und ihrer Bedeutungshöfen. Strafrechtliche und soziale Definitionen werden skizziert und sich für den Begriff „sexualisierte Gewalt“ entschieden. Zugleich betont die Autorin, dass und wie solche Begriffe und ihre Bedeutungshöfe „…letztendlich eine Frage der individuellen Konstruktion, der jeweiligen Geschichte“(44) sind. Es folgen statistische Werte zum Vorkommen sexualisierter Gewalt in unterschiedlichen Bezügen und eine überzeugende Kurzdarstellung der Folgen sexualisierter Gewalt. Deutlich wird die Notwendigkeit der Ergänzung durch den Verarbeitungsprozess aus dem Fokus der Konstruktion durch die Betroffenen.

Die Dynamik der Vergewaltigung und ihre Verarbeitung wird am ökologisch dialektischen Verlaufsmodell von Fischer/Riedesser (1998) fortschreitend von der Phänomenologie über die traumatische Erfahrung, die Pathogenese, die traumatische Reaktion, den traumatischen Prozess bis zur Verarbeitung der Vergewaltigung sachkundig und einfühlsam beschrieben.

Fazit des Dargelegten ist:

Vergewaltigung ist immer ein prozesshaftes, dynamisches und interaktives Geschehen. Meistens übersteigt das Trauma die subjektiven Möglichkeiten des Individuums, adäquat zu reagieren. Somit versucht die Psyche in den nachfolgenden Prozessen, mit dem Erlebten und Erfahrenen weiter zu leben. Auf drei Ebenen nimmt dabei der soziale Faktor Einfluss:

  • „der Ebene der Verursachung des Traumas, insofern der Täter ein sozialer Agent ist
  • der Ebene des Erlebens, indem das Opfer ein gesellschaftliches Wesen darstellt
  • der Ebene der Reaktion der Umwelt, als gesellschaftlicher Echoraum auf das Geschehene.“(64)

Da es sich um Gewalthandlungen von Männern an Frauen handelt, evozieren sich auf allen genannten Ebenen geschlechtsspezifische Phänomene. Nach einem Trauma ist das Vertrauen in die Welt als eine prinzipiell gerechte, in die Mitmenschen und in sich selbst – graduell unterschiedlich - zutiefst erschüttert bis zerstört. Was als Grundgefühl bleibt, ist Bedrohung, verbunden mit dem Gefühl der Entfremdung, der Nicht-(mehr)Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Isolation.

Der forschungsmethodische Zugang war ein zweifacher. Nach den ersten 9 leitfadenorientierten Interviews mit offenen Fragen folgten 19 narrative Interviews zum Thema „Leben mit der Vergewaltigung“.

Die Auswertung erfolgte auf zwei Wegen, zunächst softwarebasiert, um u.a. drei stark differierende Interviews für eine differenzierte Narrationsanalyse und Typenbildung auszuwählen und zum Vergleich mit den Typen der Roeslerschen Untersuchung (2001) zu „Narrativen Identitätskonstruktionen in den Lebensgeschichten chronisch Kranker und Behinderter…“.

Die inhaltsanalytische Auswertung im Empirieteil I erfolgt differenziert und detailliert entlang der Codes Soziodemografie und Interviewmodalitäten, Art und Schwere des Delikts, vor der Tat, während der Tat, unmittelbar und mittelbar nach der Tat, Rolle der Umwelt, Folgen nach der Tat, Veränderungen durch die Tat, Verarbeitung, derzeitige Situation. Beim letzten Code wird jeweils ein Merkmalsvergleich von aus den vorliegenden Kriterien emergierten Gruppierungen vorgenommen. Merkmale sind hier „sexueller Missbrauch, schwierige Kindheitserfahrungen und ihr möglicher Zusammenhang mit Selbstkonzept und Verarbeitung der erlittenen Gewalt“ -, und bei den a-priori definierten Gruppen ist es das Merkmal „Vergleich des Selbstbildes vor und nach der erlittenen Gewalt bei vergewaltigten und missbrauchten Frauen“.

Unterschiede zwischen missbrauchten und vergewaltigten Frauen ergaben sich bzgl. der Merkmale Vergleich des Selbstbildes vorher/nachher, derzeitige Situation, Bewertung des Geschehens und Evaluation der Verarbeitung. Die Dimension Partner ist für beide Gruppen gleich zentral.

Für ein typisches Vergewaltigungsopfer ergab sich

  • die Tat liegt einige Jahre zurück
  • einmalige Viktimisierung
  • Alter zwischen 16 – 24 oder 31 – 42 Jahre
  • keine Überwindung der erlebten Gewalt
  • ein Bruch im Selbstbild vorher/nachher (123)

Es folgt ein differenzierter Exkurs zu Scham und Kontrolle, um auf dieser Folie erlebte und berichtete Emotionen zu verstehen und zu deuten. Die Verknüpfung des sozialpsychologischen Ansatzes von Markus&Kitayama (2001) und des psychoanalytischen Konzepts von Ehlert-Balzer (2002) zu einem Bezugsrahmen ermöglichte die regelmäßig anzutreffenden Phänomene – Gefühle der Wertlosigkeit, des Selbstverlustes, der Depression, der Scham- und Schuldgefühle – aufzuklären und verstehbar zu machen. “Die Zusammenhänge zwischen Kontrollverlust im Viktimisierungserlebnis und nachfolgende Scham- und Schuldgefühle sind komplex.“ Scham- und Schuldgefühle sind auf der phänomenologischen, ätiologischen und funktionalen Ebene zu unterscheiden; denn „Scham ergreift von der ganzen Person Besitz während Schuld auf spezifische Handlungen bzw. deren Unterlassungen zielt.“ Kontrollverlust kann beide auslösen. Schuldgefühle können je nach Art und Kontext der Verarbeitung förderlich oder hinderlich sein. „Einen empirischen Beweis gibt es bislang für den Zusammenhang von Scham und Aggression. In den vorliegenden Stichproben findet sich häufig eine nach innen gegen die eigene Person gerichtete Aggression, während Wut und Strafbedürfnis oft erst mit fortgeschrittenem Verarbeitungsprozess einhergehen. Dann allerdings besteht der Wunsch, den Täter hart bestraft zu sehen und v.a. auch ihn fühlen zu lassen, was er angerichtet hat. Eine hohe Bedeutung kommt auch dem Anliegen zu, zu verhindern, dass dieser weitermachen kann.“ (164)

Der Empirieteil II erfasst für drei Erzählungen die „Gesamtgestalt der Erzählung in ihrem inhaltlichen und strukturellen Verlauf. Die Schrittfolge war: formale Analyse, inhaltliche Analyse und Interpretation mit dem bündelnden Fokus der temporalen, sozialen und selbstbezüglichen Dimension der narrativen Identitätskonstruktion.

Die Geschichte der ersten Frau war geprägt von Kampf und dem Ringen um persönlicher Freiheit. Obgleich sie in einem Spannungsfeld von Ambivalenzen und Ambiguitäten verhaftet bleibt, ist ihr Leben eine Existenz innerhalb der Spannungsfelder richtig/falsch, hell/dunkel. Alles, was sie sich erarbeitet hat, ermöglicht ihr das Aushalten-Können dieser Ambivalenzen.“Die Realität wird weder rein positiv noch rein negativ konstruiert. Sie engagiert sich bürgerrechtlich intensivst gegen das Leid und die Ungerechtigkeit in ihrer Umwelt. (Typus Entwicklungsgeschichte)

Die zweite Frau entwickelte während der Narration die Fähigkeit, Emotionen sowohl die aggressiven als auch die schmerzhaften und trauervollen zu zeigen und zu leben. Jedoch verschloss sie diese zum Ende der Narration wieder und kehrte zu ihrer alten Selbstpositionierung als Opfer zurück. So sind „Vergangenheit und Zukunft über das Band der Unabänderlichkeit harmonisch verknüpft. Die Bewegungen der Gegenwart, in der Interviewsituation konstatiert, sind weggespült. Es herrscht wieder die Ruhe der Toten.“ (286) (Typus Kontinuitätsgeschichte)

Die Narration der dritten Frau ist eine „fortschreitende Geschichte der Verzweiflung und Einschränkung. Sie endet mit einer Katharsis, sie gewinnt Sicherheit, Zuversicht und Vertrauen und schaut hoffnungsvoll in die Zukunft.

Im letzten Kapitel vergleicht die Autorin die Ergebnisse ihrer Arbeit mit denen von Roesler (2001) „Typen von Identitätskonstruktionen in den Erzählungen chronisch Kranker und Behinderter. Die Typen – Wandlung, Kontinuitäten, Wiederherstellung und Reparatur, Verluste-Abstiege-Zerstörungen und Nicht-Alteritäts-Konstruktion: Behinderung als Normalität – werden skizziert und um drei erweitert – Geschichten bedrohter Identität, erschütterter Identität und fragiler Identität. Statt Wandlung wird in dieser Arbeit – begründet nachvollziehbar – der Terminus Entwicklung verwendet. Alle Geschichten der Frauen sind den Roesler - Typen bzw. den drei Erweiterungen der Autorin zuordnen.

Obgleich der Sinngebungsprozess unabhängig von der Art der erlebten Gewalt verläuft, „…scheint dem Phasenverlauf der Bedeutungsgebung anhand der Narrationen eine gewisse Allgemeingültigkeit oder Regelhaftigkeit zuzukommen:“ (394)

  • sexualisierte Gewalt wird als tiefe Verunsicherung und Beschädigung erlebt
  • Konstruktion einer biografischen Sinnhaftigkeit unter Einfügung der erlebten sexualisierten Gewalt in Passung zu einem der Typen.

Im Gegensatz zu Roesler zeigt diese Studie, dass viele Erzählungen überwiegend negative oder zumindest kritische und noch nicht entschiedene Deutungen aufweisen.

Die Dimensionen der narrativen Typen und Folgen für das gegenwärtige Leben der Interviewten werden dargestellt und erörtert.

Abschließend werden die sich aus der Arbeit ergebenden wichtigen und bedenkenswerten Aspekte auf drei Ebenen – methodisch, anwendungsbezogen und ethisch – reflektiert und ein Ausblick gegeben, welche Forschungsfragen offen geblieben oder sich als neue ergeben haben.

Diskussion

Die Arbeit ist gekennzeichnet von tiefer Wertschätzung, Empathie und Würdigung für die interviewten Frauen und ihre Geschichte ohne dadurch die Wissenschaftlichkeit zu gefährden – im Gegenteil. Es ist mühsam, die Arbeit zu lesen. Zum einen wegen der belastenden Inhalte und zum anderen wegen des sehr kleinen Drucks. Wer sich aber auf die Arbeit einlässt, wird „belohnt“, da er/sie in neuer Weise versteht, dass und wie bedeutsam das Geschichten-Erzählen-Lassen nicht für TherapeutInnen –i.S. von „healing Plots“ - ist und sein kann, sondern sich auch JuristInnen, Strafverfolgungsbehörden, MedizinerInnen, PflegerInnen und Sozial-Tätige neue Dimensionen menschlichen Verstehens eröffnen, wenn sie weniger fragen und stattdessen die KlientInnen sprechen lassen würden.

Fazit

Das Buch ist allen zu empfehlen, die aus welcher Perspektive auch immer mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen professionell zu arbeiten haben. Zugleich ist es aber auch für alle am Thema „Sexualisierte Gewalt und ihre Folgen“ Interessierte lesenswert.

Rezension von
Dr. Michaela Schumacher
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Zitiervorschlag
Michaela Schumacher. Rezension vom 03.09.2010 zu: Eva Tov: Leben mit der Vergewaltigung. Narrative Identitätskonstruktionen bei Frauen mit sexualisierter Gewalterfahrung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2009. ISBN 978-3-86649-244-8. Reihe: Rekonstruktive Forschung in der sozialen Arbeit - Band 7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9598.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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