Katja Gramelt: Der Anti-Bias-Ansatz
Rezensiert von Prof. Dr. Gazi Caglar, 06.10.2010

Katja Gramelt: Der Anti-Bias-Ansatz. Zu Konzept und Praxis einer Pädagogik für den Umgang mit (kultureller) Vielfalt. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 235 Seiten. ISBN 978-3-531-17133-3. 19,95 EUR.
Thema
In der sich zunehmend mehr glokalisierenden Welt steigt die Bedeutung von Identitäten und Vielfalt auch in Bildungsprozessen. Kulturelle Vielfalt ist eine bedeutende Dimension sozialen Wandels in europäischen Gesellschaften, nicht allein, aber auch wegen der steigenden kulturellen Diversität aufgrund von Migration und ihren Folgen. Die Pädagogik insgesamt, sowohl in ihrer Theorie als auch in ihren Institutionen, steht vor der Herausforderung, professionell mit Vielfalt umzugehen. Nirgends ist die Frage nach einem nicht diskriminierenden Umgang in der Bildung so dringend wie in Deutschland, dessen Bildungssystem in vielen Studien immer wieder attestiert bekommt, diskriminierend zu sein. Vor allem erfolgt diese fassbare und „unfassbare“ Diskriminierung, die verhindert, dass alle Kinder eine faire Chance auf eine erfolgreiche Schulkarriere bekommen, entlang sozialer Trennlinien - eine Erkenntnis, die kulturalisierenden Ansätzen der Pädagogik empirisch widerspricht und zur unbedingten Berücksichtigung der sozialen Frage in Bildungsprozessen zwingt.
Der aus den USA stammende Anti-Bias-Ansatz, der seit einigen Jahren in Deutschland in verschiedenen Bereichen angewendet wird, geht davon aus, dass gesellschaftliche und institutionelle Strukturen auf der Grundlage diskriminierender Mechanismen funktionieren, und möchte „Stereotypisierungen und Vorurteilen aktiv begegnen“ (S. 102). In dem von Louise Derman-Sparks entwickelten „Anti-Bias-Curriculum“, zugleich die erste Veröffentlichung zum Thema, geht es darum, Kinder zu befähigen, „ein positives Selbstbild und damit eine selbstbewusste Identität zu erlangen, die hier als Konstrukt verstanden wird“ (S. 103).
Das thematische Anliegen der Autorin ist es, die pädagogischen Konzepte und Arbeitsformen der Menschen und Institutionen in Deutschland herauszuarbeiten und auf einer theoretisch-empirischen Basis vorzustellen. Damit ist das vorliegende Buch, soweit ich überblicken kann, das erste große Forschungswerk zum Anti-Bias-Ansatz in Deutschland.
Aufbau und Inhalt
Auf die Einleitung der Studie folgt eine historisch und theoretisch kenntnisreiche Entwicklung des theoretischen Bezugsrahmens, der von den Anfängen des pädagogischen Denkens bis heute der Frage der Normierung und des Umgangs mit Vielfalt nachgeht. Aufgrund der theoretischen Beschäftigung mit verschiedenen Ansätzen folgt, dass es Normierungsversuche gegeben hat, „seitdem Pädagogik als Wissenschaft existiert“, diese „aber nie zu einer Allgemeingültigkeit führten.“ Der gesellschaftliche Wandel hat auch den Wandel der Normen zur Folge: „Denn Individualisierung bedeutet auch, im pädagogischen Kontext jedes Kind individuell wahrzunehmen.“ Das bedeutet allerdings nicht die Verabschiedung jeglicher Zielorientierung. Vielmehr müssen die Pädagoginnen und Pädagogen sich dessen immer wieder vergewissern, “welche Ziele in der Arbeit mit den Kindern verfolgt werden“ (S.73). Im 3. Kapitel wird das Forschungsdesign vorgestellt, im 4. erhoben, wer und welche Projekte in Deutschland mit dem Anti-Bias-Ansatz arbeiten. Auf die Erschließung der Ursprünge des Ansatzes folgt im 6. Kapitel eine genaue Erhebung des Anti-Bias-Ansatzes in den verschiedenen Arbeitsgebieten, von Kindertageseinrichtungen, über Schule und offene Jugendarbeit, Erwachsenenbildung bis hin zu pädagogischen Fortbildungen. Daraus werden die kennzeichnenden Elemente des Anti-Bias als „pädagogische Leitidee“ rekonstruiert.
Im 7. Kapitel werden die zentralen Elemente einer Anti-Bias-Pädagogik herausgearbeitet. Die Folgen des Anti-Bias-Ansatzes für die pädagogischen Diskurse bilden Kapitel 8. Die Studie wird mit einem Fazit abgeschlossen.
Fazit
Die Studie ist ein großer Gewinn nicht nur für die Pädagogik. Unabhängig vom Anti-Bias-Ansatz, der auf breiter Forschungsbasis hier die umfassendste und sicherlich sehr lesenswerte Präsentation findet, ist das Buch allen pädagogisch orientierten Berufen und darüber hinaus allein schon aufgrund der exzellenten Erforschung der Geschichte der Pädagogik in Bezug auf norm und Vielfalt wärmstens ans Herz zu legen.
Rezension von
Prof. Dr. Gazi Caglar
Professor an der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit der HAWK Hildesheim / Holzminden / Göttingen
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