Jutta Besser: Zusammen ist man nicht allein
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 31.01.2011

Jutta Besser: Zusammen ist man nicht allein. Alternative Wohnprojekte für Jung und Alt. Patmos Verlag (Ostfildern) 2010. 184 Seiten. ISBN 978-3-491-40157-0. D: 16,90 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 29,50 sFr.
Thema
Alternative Wohnkonzepte, die ihren Ursprung überwiegend in den Jugendorientierten Bewegungen der Studenten und in den Alternativ- und Aussteigermilieus der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts haben, werden in Deutschland zunehmend diskutiert und teils in sehr begrenztem Umfang auch erprobt. Waren die Wohngemeinschaften und Landkommunen - meist von begrenzter Dauer - vor ca. 40 Jahren noch die Prototypen einer alternativen Lebensweise jenseits der herkömmlichen Familienstrukturen, so institutionalisierte sich im Laufe der Jahre diese Konzeption. Modelle des so genannten „Mehrgenerationenwohnens“ und auch die Wohn- und Hausgemeinschaften von rüstigen Senioren geben Zeugnis einer veränderten Vorstellung vom Zusammenleben. Es bedarf jedoch des Hinweises, dass diese Lebensform von einer äußerst kleinen Minderheit favorisiert und auch praktiziert wird.
Die vorliegende Publikation stellt alternative Lebens- und Wohnprojekte für Jung und Alt aus Deutschland vor mit dem Ziel, diese Lebensweise zu popularisieren.
Autorin
Jutta Besser ist Buchautorin, Journalistin und Lehrerin für Taijiquan (chinesisches Schattenboxen) und Qigong (chinesische Meditations- und Konzentrationstechnik).
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in zwei Teile untergliedert
- Teil I: Ein Wohnprojekt wird ins Leben gerufen
- Teil II: Die verschiedenen Arten gemeinschaftlichen Wohnens
Im ersten Teil (Seite 10 – 60) werden in neun Kapiteln die wesentlichen inhaltlichen und organisatorischen Aspekte alternativer Wohnprojekte dargestellt.
Zu Beginn thematisiert die Autorin den experimentellen Charakter dieser Wohn- und Lebensformen, der strikt von den herkömmlichen Familienstrukturen abweicht. Was in Familien im Zusammenleben mehr oder weniger selbstverständlich ist, muss in alternativen Wohnformen erst definiert, erörtert und verbindlich gemacht werden. Die zentralen Kategorien hierbei sind „Wahlverwandtschaft“, „Wahlfamilie“ und „Wahlgemeinschaften“.
Es folgen Ausführungen über die konkrete Realisierung alternativer Wohnprojekte, wobei vier Etappen genannt werden: die Initiativ-, die Planungs- und die Realisierungsphase (Bau, Aus- oder Umbau) und zuletzt der Einzug. Neben den Finanzierungsmodalitäten (Kaufpreis, Folge- und Bewirtschaftungskosten und die monatliche Gesamtbelastung) werden ausführlich die verschiedenen möglichen rechtlichen Grundlagen für diese Projekte beschrieben: der gemeinnützige Verein (e. V.), die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die eingetragene Genossenschaft (eG), die Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG), das Wohnungseigentum auf Erbbaurecht (WEG), die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die Kommanditgesellschaft (KG) und die Stiftung.
Die letzten Kapitel befassen sich mit den sozialpsychologischen und gruppendynamischen Aspekten und Problemfeldern dieser Lebensformen. Zentral hierbei ist die Fragestellung, wie aus einer Gruppe eine „echte Gemeinschaft“ werden kann. In diesem Kontext werden Wege zur Konfliktbewältigung vorgeschlagen: das Konzept der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (u. a. „zuhörende Kommunikation“, Entwicklung von Empathie und eine so genannte Beobachtung ohne Bewertung) und Konfliktlösung durch Mediation.
Der zweite Teil des Buches (Seite 61- 170) besteht aus der relativ knappen Vorstellung von insgesamt 18 alternativen Wohnprojekten, teils mit Fotos versehen, in Deutschland, die in folgende Rubriken unterteilt sind
- Mehrgenerationenwohnprojekte in Hamburg, Köln, Wulfsdorf (Schleswig-Holstein) und Regensburg
- Ökologisch ausgerichtete Wohnprojekt in der Altmark
- Gemeinschaftliches Wohnen im Alter in Herne, Hamburg, Hof Klostersee (Schleswig-Holstein), Eggesin (Mecklenburg-Vorpommern) und Berlin
- Spirituelle Lebensgemeinschaft in Steyerberg (Niedersachsen)
- Frauenwohnprojekt in Bremen
- Integrierende, soziale und sozialpolitische Wohnprojekte in Hamburg
Diskussion
Lebensformen außerhalb der Familienstrukturen hat es in verschiedenen Formen in Mitteleuropa in den letzten Jahrhunderten immer schon gegeben. Klöster, Handwerkergilden, Schiffsbesatzungen und auch Landsknechtbünde bildeten Gemeinschaften überwiegend von Alleinstehenden und damit Unverheirateten. Diese Lebensform wurde meist nicht freiwillig gewählt. Es waren vorrangig ökonomische Zwänge, denn für die Familiengründung bedurfte es damals bestimmter materieller Voraussetzungen.
Die in diesem Buch vorgestellten alternativen Lebensformen der Gegenwart hingegen sind freiwillig gewählt worden. Wir erfahren leider nicht die Gründe für diese Entscheidung. Es kann vermutet werden, dass u. a. neben jugendlicher Neugier, Illusionen über eine vertiefte Gemeinschaftlichkeit auch zerbrochene Familien und Partnerschaften die Flucht in neue Lebensformen verursacht haben. Die Institution Familie in unterschiedlicher Gestaltungsform (u. a. monogam und polygam) ist zwar eine Universalie des menschlichen Lebens (gewissermaßen eine „anthropologische Konstante“), doch unter bestimmten gesellschaftlichen Belastungselementen verliert sie deutlich an Bindungskraft. Indikatoren hierfür sind u. a. Scheidungsquoten und der Anteil der Alleinerziehenden. Bei der Autorin ist spürbar auch die Entfremdung und vielleicht auch die ideologische Verengung bezüglich herkömmlicher Familienstrukturen zu bemerken, wenn sie als Begründung für alternative Wohnformen schreibt: „Aus dem engen Rahmen der Kleinfamilie, aus vorgegebenen Mustern ausbrechen und neue Wege gehen.“ (Seite 10).
Neben der mangelnden Vertiefung in die Thematik Lebensformen im Spannungsfeld des raschen sozialen Wandels unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Stressoren muss der Autorin auch ein gerütteltes Maß an Illusionen und utopistischen Denken unterstellt werden, wenn sie u. a. prognostiziert, dass in alternativen Lebensformen auf der Basis von Gegenseitigkeit auch die Pflege alter gebrechlicher und demenziell erkrankter Menschen geleistet werden wird. Hierfür fügt sie keine empirischen Belege an. Dem Rezensenten sind auch keine entsprechenden Erfahrungen bekannt.
Fazit
Die vorliegende Publikation wird leider dem äußerst bedeutsamen Gegenstandsbereich Lebensformen außerhalb von herkömmlichen Familienstrukturen nicht gerecht. Eine Empfehlung zur Lektüre kann daher nicht gegeben werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 31.01.2011 zu:
Jutta Besser: Zusammen ist man nicht allein. Alternative Wohnprojekte für Jung und Alt. Patmos Verlag
(Ostfildern) 2010.
ISBN 978-3-491-40157-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9662.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.
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