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Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.06.2010

Cover Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? ISBN 978-3-421-04419-8

Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin. Deutsche Verlagsanstalt (München) 2010. 315 Seiten. ISBN 978-3-421-04419-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 34,90 sFr.

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Sterben als zentrale Erfahrung des Lebens

Die Frage nach dem ewigen Leben, als Wunsch unsterblich sein zu können, bewegt die Menschen, seit sie über Leben und Tod nachdenken. In der Philosophie lässt sich die aristotelische und im Stoizismus vorherrschende Betrachtungsweise vom Tod als Weiterleben der „Vernunftseele“ unterscheiden durch die existenzphilosophische Erkenntnis vom absoluten und nicht wieder herstellbaren Endpunkt des Lebens. Die Erfahrung, dass Sterben nicht mehr unbedingt und in jedem Fall ein unabwendbarer, natürlicher Vorgang sein muss, sondern dass die Medizin in vielen Fällen Methoden, Medikamente und Instrumente für ein lebensverlängerndes Leben bereit hält, bestimmt heute allerdings eher den medizinischen und alltäglichen Umgang mit dem Tod. Die Erkenntnis, dass Sterben zum Leben gehört, ist zwar in unserem Unterbewusstsein präsent, wird aber nicht selten als Tragödie und unvermeidliches Schicksal betrachtet und selten als Chance für das Leben. Einen Sterbenden in den Tod zu begleiten wird oft genug so genannten Profis überlassen, Palliativmedizinern und Theologen. Sterbebegleitung bei Menschen, deren Tod, im Gegensatz zu nicht vorhersehbaren Unfalltoten, vorhersehbar ist, bei Menschen also, bei denen die ärztliche Kunst am Ende ist und die „austherapiert“ sind, etwa bei Krebserkrankungen, wird intensiv in gesonderten Orten des Krankenhauses, der Intensivstation, gemanagt. Die Erfahrung, dass Sterbende sogar in im Krankenhausbetrieb eher vernachlässigten Räumen „abgestellt“ werden, ist eher Alltag denn als Sonderfall anzusehen. Besonders letztere Sichtweise wird in der Medizinethik aufgenommen, wenn es um Fragen der Sterbevorbereitung und –begleitung geht.

Entstehungshintergrund und Autor

Der seit mehr als 30 Jahren als Internist tätige, seit einigen Jahren als Leiter eines Berliner Krankenhauses arbeitende und als Vorsitzender der Stiftung für Palliativmedizin auch gesundheitspolitisch engagierte Michael de Ridder beklagt, dass „einfach so zu sterben ( ) in unserer Gesellschaft nicht mehr vorgesehen (ist), sogar an Orten, wo man es erwarten könnte. Es stirbt kaum jemand ohne Infusion oder künstliche Ernährung. Das Sterben hat längst seine Natürlichkeit verloren“ (SPIEGEL 12/2010). Er plädiert dafür, in unserer Gesellschaft eine neue Sterbekultur einzuführen, die „den Bedürfnissen und Wünschen aussichtslos Erkrankter mehr als bisher gerecht werden will“. Es geht im darum, daran zu erinnern, dass das Sterben zum Menschsein gehört. Und er wendet sich gegen ein Bewusstsein, dass alles möglich sei, selbst die menschenunwürdige Verlängerung des Lebens trotz Aussichtslosigkeit. Er macht darauf aufmerksam, dass wir längst dabei sind, mit Apparaten das Sterben aus unserem Leben zu vertreiben. Seine Bedenken richtet er dabei nicht nur, wenn auch in erster Linie, an die Ärzte und das medizinische Personal, sondern an uns alle, die wir sterben (müssen!), in aussichtsloser Situation sterben wollen und durch die eigene Entscheidung (Patientenverfügung) ein Stopp der Entwicklung hin zu quasi lebensverlängernden Methoden zu setzen und friedlich vom Leben in den Tod überzugehen. Notwendig sei hierbei, den „palliativmedizinischen Nachholbedarf“ anzumahnen, der in unserer Gesellschaft vorhanden sei, denn sowohl hinsichtlich der Quantität, als auch der Qualität rangiere in Deutschland das Wissen und das Bewusstsein vom „Sterben im Dialog“ am unteren Ende der westlichen Rangskala. Es geht um die Selbstbestimmung des Menschen und um das Menschenrecht auf Würde, im Leben und im Sterben. Des Autors Erfahrungen bei standesethischen Entscheidungen, bis hin zur Verweigerung von Maßnahmen zur Sterbehilfe, lesen sich im Buch stellenweise wie Horrorszenarien. Dabei jedoch müsse gelten: „Unverrückbarer Maßstab ärztlichen Handelns ist und bleibt das Wohl des Patienten“.

Inhalt

Was ist zu tun, wenn Heilung nicht mehr möglich ist? Wie können wir der deutlichen Tendenz entgegen wirken, das Leben um jeden Preis (!) zu verlängern, auch dann, wenn das Leben für den Sterbenden nicht mehr lebenswert ist? Der Autor geht kritisch mit dem ärztlichen Auftrag um, wie Medizin am Lebensende zu handhaben ist; auch die strittigen Auffassungen darüber, wann das menschliche Leben endet, sind ihm das Argument wert. Er räumt auf mit so manchen Legenden, etwa der vom Verhungern und Verdursten. Er setzt sich auseinander mit dem „Fiasko der Schmerztherapie“, dem Wachkoma und damit, wie in so manchen Krankenhäusern damit umgegangen wird, mit Routine aber selten mit Empathie; auch mit der nach wie vor strittigen Auffassung, was ein letzter Wille eines Menschen ist, wie er auszusehen hat und auf welcher rechtlichen Grundlagen er beruht. Er diskutiert den schmalen Grad zwischen einer selbstbestimmten Entscheidung und der Anklage wegen Körperverletzung und sogar Tötung. Was ist ein „guter Arzt“? Ist es der, der sein ärztliches Ethos und seine medizinische Kunst über das Selbstbestimmungsrecht eines Sterbenden stellt? Der seit Jahrzehnten in erbitterten Kontroversen geführte Streit für oder wider Sterbehilfe, passive und aktive, gründet, nach de Ridders Ansicht, auf der falschen und zudem ideologischen Gleichsetzung mit Euthanasiepraktiken. Immerhin: In einigen europäischen Ländern, in Belgien und in den Niederlanden etwa, wird das Recht auf Suizid und Sterbehilfe festgeschrieben. Besonders das im amerikanischen Bundesstaat Oregon seit 1997 geltende Gesetz „Death with Dignity Act“ diene dazu, die in Deutschland vorfindbaren unmenschlichen Zustände durch eine rechtlich eindeutig formulierte, palliative Sterbehilfe zu ersetzen. Mit einem dramatischen Appell formuliert Michael de Ridder die gesellschaftliche Grundfrage: „Sind wir als ein Gemeinwesen mitfühlend genug, einem einsichtsfähigen Menschen, der trotz bestmöglicher medizinischer Versorgung und menschlicher Zuwendung weiter leidet, zu gestatten, sein Sterben zu beschleunigen?“. Zum Schluss seines an Erfahrung reichen Dialogs stellt der Autor die Grundlagen eines rechtlich korrekten und ethisch unangreifbaren palliativmedizinischen Handelns zusammen:

  • Wer eine nicht indizierte Behandlung nicht beginnt oder eine bereits begonnene, nicht mehr indizierte Behandlung abbricht, begeht niemals Rechtsbruch.
  • Bei frei verantwortlichem Willen des Patienten ist ein gewollter Abbruch oder die Nicht-Aufnahme lebenserhaltender Maßnahmen nicht allein gerechtfertigt, sondern geboten.
  • Den Tod, den der Arzt gemäß dem Patientenwillen nur zulassen muss, darf er nicht aktiv herbeiführen.
  • Notwendige Schmerzbehandlung kann, ob sie nun den Todeszeitpunkt sicher oder nur vermutet vorverlegt, niemals rechtswidrig oder unethisch sein.

Das beigefügte Glossar kann dazu beitragen, das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein zu stärken, dass das Sterben zum Leben gehört und ein würdiger Tod genau so ein Menschenrecht ist wie ein würdiges Leben.

Fazit

Michael de Ridder greift mit seinem sensiblen Diskussionsbeitrag ein in die scheinbar festgemauerten Auffassungen von der Allmachbarkeit des Lebens unter Ausklammerung des Sterbens. Es wird Zeit für eine Neubesinnung über die Menschlichkeit des Lebens und des Todes. Das Buch mit der provozierenden aber gleichzeitig natürlichen Frage „Wie wollen wir sterben?“ kann zu einer menschenwürdigen Auseinandersetzung darüber beitragen. Die Argumente richten sich dabei nicht nur an Ärzte und das Krankenhauspersonal, sondern auch an dich und mich!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.06.2010 zu: Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin. Deutsche Verlagsanstalt (München) 2010. ISBN 978-3-421-04419-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9666.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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