Dietmar Sachser: Theaterspielflow
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 16.05.2011
Dietmar Sachser: Theaterspielflow. über die Freude als Basis schöpferischen Theaterschaffens. Alexander Verlag (Berlin) 2009. 490 Seiten. ISBN 978-3-89581-213-2. 39,90 EUR.
Thema
Schon in seiner Dissertation hatte Csikszentmihalyi Künstler untersucht, die „weder Anerkennung noch Belohnungen für ihr Kunstschaffen erwarteten … und trotz der erheblichen Anstrengungen … ihre Arbeit als überaus freudvoll“ erlebten. 1975 legte er eine ausführliche Untersuchung vor, die 1985 auch in deutscher Übersetzung erschien und den Flow-Begriff bekannt, ja populär machte: ‚Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen‘. „Es handelt sich“, so schreibt er darin, „um den Zustand, den wir Negentropie, optimales Erleben oder flow nennen. … Solche Zustände bezeichnen wir subjektiv als Vergnügen, Glück, Befriedigung, Freude“. Zur Erklärung zog er „Theorien intrinsischer Motivation und Theorien des Spiels“ heran, führte „Tiefeninterviews mit über 200 Personen“ und nannte „dieses Erleben fortan Flow“ oder, umständlicher, „autotelisches Erleben“ (Sachser 29 f).
Während Csikszentmihalyi unterschiedliche Tätigkeiten untersuchte (Tanz, Schach, Klettern, - aber auch die Arbeit von Chirurgen), entwickelt Sachser in seiner Dissertation einen speziellen „Theaterspielflow“, der auf ausführlichen persönlichen Gesprächen mit vierzehn Schauspielern beruht. Dabei liegt seiner Arbeit „ein Theaterverständnis zugrunde, in dem das Verkörpern von Figuren zentraler Bestandteil ist“ (15); er fragte seine Gewährsleute nach „Situationen – zum Beispiel Probenprozesse, das Verkörpern einer Figur oder Ähnliches“, die „als besonders freudvoll empfunden“ wurden und nach der psychischen „Befindlichkeit während solcher freudvoller Zustände“ (204).
Aufbau und Inhalt
Nach der einleitenden Darstellung von „Problemhorizont, Forschungsanliegen und Darstellungslogik“ entwickelt Sachser im 2. Kapitel (22 f) das Flow-Konzept mit Rückgriff auf Csikszentmihalyi; er diskutiert dessen acht, nicht immer einheitlich benannte und unterschiedene Flow-Komponenten, vergleicht sie mit den sechs Komponenten von Rheinberg. Auch nimmt er Csikszentmihalyis Unterscheidung zwischen vorhergehenden und resultierenden Merkmalen auf, fasst sie in einem Dreiphasenmodell zusammen, denen er sieben Flow-Merkmale zuordnet, weist freilich zu Recht darauf hin, dass die Trennung der Phasen „aus systematischen Gründen vorgenommen“ (60) wurde, auch „eine isolierte Betrachtung der einzelnen Komponenten allein in der Theorie möglich“ (61) ist.
Die beiden folgenden Kapitel, „das motivationstheoretische und das spieltheoretische“, sollen dazu dienen, „Einzelaspekte des Flow-Konzeptes theoretisch zu vertiefen und auf diese Weise noch umfassender als bisher in die Mechanismen (?) und Strukturen von Flow-Erfahrung einzudringen“ (61).
Dabei greift Kapitel 3 (Flow als Prototyp intrinsischer Motivation, 62 ff) wiederum auf eine Formulierung von Csikszentmihalyi zurück; es problematisiert den Begriff der „intrinsischen Motivation“ (Heckhausen); es diskutiert genauer “curiosity, challenge, control und context“ (nach Lepper und Henderlong). Es bereichert und differenziert das Gefühl des „freudvollen Erlebens“ durch eine Fülle weiterer Umschreibungen und Erklärungen. „Von einer stets eindeutigen Zuordnung der unterschiedlichen Theorien kann jedoch nicht ausgegangen werden, da die meisten Konzepte verschiedene intrinsische Motive postulieren“ (64).
Auch Kapitel
4 (85 ff) beginnt mit
Csikszentmihalyi:
dieser „beschreibt Spiele, geregelte wie spontane, als
exemplarische Flow-Aktivitäten“ (85). Freilich erweist
sich der Terminus Spiel „begrifflich als wenig präzise,
situativ wendig und in seiner Gesamtheit nur sehr schwer fassbar –
es entzieht sich jeder Form monokausaler Erklärung“ (85).
Sachsers
Auswahl „an spieltheoretischem Material“ will „das
breite Spektrum phänomenologischer Spielforschung in seinen
Grundzügen“ abdecken und „die Theorien gemessen an
ihrer Nähe zur Flow-Erfahrung“ auswählen (86). Dabei
scheint mir vor allem die Einsicht wichtig, dass „die gleiche
Tätigkeit einmal Spiel, ein anderes Mal Arbeit oder Reproduktion
ist“ (so Portele,
zitiert 87); ähnlich urteilt Chateau
„pauschal, dass jede Tätigkeit zu Spiel werden könne,
solange sie eine neue Seite des Könnens aufdecke und zu einem
Fortschritt des Menschen führe“ (101) – eine
Erfahrung der ‚Selbstwirksamkeit‘ (vergl. Lenakakis).
Sachser
weist auf ähnliche Zusammenhänge bei Heckhausen,
Oerter, Scheuerl hin; er
charakterisiert Spiel als „spannende“,
„bewusstseinsverändernde“, „eigensinnige“,
„kompetenzsteigernde“, „zweckfreie“ und vor
allem als „freudvolle Aktivität„: „Freude ist
offenbar die Reaktion auf das Gefühl der Lebendigkeit“
(Sutton-Smith,
105); oder: „Jeder spielende Mensch zeigt jugendliche Merkmale
… Spontaneität, Spannkraft, Vitalität und ein Verlangen,
Möglichkeiten zu verwirklichen, Grenzen zu überschreiten,
das Risiko des Abenteuers auf sich zu nehmen, das Glück zu
versuchen – kurz: die Freude des Spielens zu genießen,
das Glück des Gelingens“ (Buytendijk,
104). Einen besonderen Akzent setzt Sachser
„in loser Anlehnung an William
Stern“ (1929) mit dem “
Begriff des Ernstspielhaften“ (108; vergl. das Zitat von
Reinhardt
in Kap. 5).
Kapitel 5
behandelt „Freude im Horizont schöpferischen
Theaterschaffens“ (111 ff). Für Sachser
ist „Freude–
ein von Theaterwissenschaft und Künstlertheorien weitgehend
ignorierter Gegenstand“ (112 ff); trotzdem stellt er fest: „Die
anthropologische Verwurzelung der Spielfreude reicht bis in die
griechische Philosophie zurück“ (118) und listet eine
Fülle von Zitaten auf: von Aristoteles
über Max Reinhardt
(„ein Spiel, das mit heiligem Ernst geführt wird“,
122), Wachtangow, Meyerhold,
Brecht, Brook bis zu
Mnouchkine und anderen. Greifen
wir aus der Zitatsammlung wenigstens Brecht
heraus: Der Schauspieler müsse alles, „besonders das
Schreckliche, mit Genuss ausführen und seinen Genuss zeigen. Wer
nicht unterhaltend lehrt und lehrend unterhält, soll nicht auf
das Theater“. Denn: „… kein Mann, dem seine Sache nicht
Spaß macht, darf erwarten, dass sie irgend sonst jemandem Spaß
macht“ (120).
Zusätzlich behandelt Sachser
das „Gefühlsproblem …, ein geradezu zeitloses Desiderat“
(?), in einem ausführlichen Exkurs (125 f). Die im 18.
Jahrhundert leidenschaftlich geführte Debatte darüber, „was
der Schauspieler bzw. ob der Schauspieler empfinden soll“, war
schon zu der Frage geworden, was er „wirklich empfindet“
(111). Von Plessner
wurde sie bereits 1948 in seiner „Anthropologie des
Schauspielers“ damit beantwortet, dass ein Darsteller nicht
deshalb gut ist, „weil im gegebenen Augenblick seine Gefühle
echt sind und er das und das wirklich erlebt, was den Handlungen
seiner Rollenfigur entspricht, sondern weil er durch seine Gesten,
seine Mimik, seine Stimme imstande ist, für sich und andere jene
Illusion der Tiefe zu erzeugen, welcher die Handlungen entsprechen“
(131). Inzwischen darf das Problem auch als empirisch geklärt
gelten, wie Sachser
mit seinem Hinweis auf „Acting Emotions“ von Elly
A. Konijn, eine „bisher
kaum rezipierte emotionspsychologische Studie“ aus dem Jahr
2000, die auf der Befragung von 341 SchauspielerInnen beruht,
deutlich macht: „Weder die künstlertheoretische Hypothese
der Involviertheit noch die entgegengesetzte der Distanziertheit
konnten bestätigt werden“, weil „die Schauspieler in
ihrem Spiel stets über ein ‚doppeltes Bewusstsein‘
(‚double consciousness‘) verfügen und sich daher
nicht als Figur erleben. Sie befinden sich in der Rolle eines
(Kunst-)Handwerkers (‚role as actor-craftsmen‘) und
erleben sich als Figurengestalter“. Sie haben „task-emotions“
(Aufgaben-bezogene Emotionen), keine „Emotionen der
verkörperten Figur (character-emotions)“ (134).
Kapitel 6 (143 ff) ist ein ausführlicher Exkurs zu Stanislavskij und Lecoq, der noch einmal bestätigt, wie wichtig für Theaterleute der „Idealzustand schöpferischen Befindens“ (145), „das innere Wohlbefinden auf der Bühne“ (157) ist. „Das Ziel der Konzentration auf die physische Handlung“, so Rellstab zu Stanislavskij, „ist das – glückliche - Befinden des Schauspielers auf der Bühne und der gelassene, sichere Umgang mit der Doppelexistenz des Schauspielers“ (165). Ganz ähnlich bei Lecoq. Zusammenfassend kann Sachser festhalten, „dass sich die beiden antagonistischen Positionen im Idealzustand des freudvollen schöpferischen Befindens berühren, … sich die beiden bisher als unvereinbar geltenden Positionen unerwartet nahe“ sind (198).
Das deutlich umfangreichste Kapitel 7 stellt die eigene Untersuchung und deren Ergebnisse dar (200 ff).Die ausführlichen persönlichen Gespräche („vierzehn in deutscher und englischer Sprache geführte Gespräche mit professionellen Theaterschauspielern unterschiedlichen Geschlechts und Alters“, 203) werden nicht in extenso mitgeteilt, sondern gleich in spezifischen Ausschnitten Sachsers sieben Flow-Komponenten (gleichsam begründend oder beweisend) zugeordnet: „… aus Gründen der darstellungslogischen Stringenz wird nicht auf sämtliche Inhalte einer jeweiligen Äußerung eingegangen. Der Fokus des Interesses wird von Teilaspekt zu Teilaspekt geleitet“ (235). Zwischenfragen des Autors werden nur höchst selten mitgeteilt.
Kapitel 8 steht unter der Überschrift „Theaterspielflow und Theaterpädagogik“ (280 ff); es diskutiert den Zusammenhang zwischen „Theaterspielflow und ästhetischer Bildung“, formuliert eine Reihe von „Konsequenzen für die theaterpädagogische Praxis“ und enthält die bemerkenswerte Aussage: „Jeder Spielleiter, jeder Schullehrer …, jeder Regisseur … ist – im besten Sinne des Wortes – Pädagoge“ (281).
Kapitel 9 schließt die eigentliche Arbeit mit „Verallgemeinerung der Ergebnisse, Grenzen und Ausblick“ ab (317 ff).
Der Anhang enthält „Kurzviten der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner“, eine „Konkretisierung exemplarischer Verfahrensweisen zum Gestalten einer Figur nach Stanislavskij und Lecoq“ am Beispiel eines Szenenausschnitts von Borcherts „Draußen vor der Tür“ (341 – 355), sowie das umfangreiche Literatur- und Quellenverzeichnis.
Diskussion
Im folgenden konzentriere ich mich auf das eigentliche empirische Kernstück von Sachsers Untersuchung, die Gespräche mit den SchauspielerInnen; sie gestatten bemerkenswerte Einblicke, ich werde sie deshalb häufig direkt zitieren.
(1)
Erstaunlich ist, dass die
glücklichen Momente eher
selten und überdies meist kurz sind. „Fakt ist, dass der
Grundmotor … des Schauspielers, Lust oder Freude sein sollte. …
dieses Glücksgefühl entsteht ganz selten“ (263). “
… in diesen Momenten, wo es total stimmt, … dann wird das alles
irgendwie kugelig“ (214). „Deswegen mache ich das jeden
Tag … weil es ab und an so Momente gibt, wo es stimmt“ (265).
„Aber wenn das der Fall ist, dann ist das höchstens ein
Moment, im nächsten Moment ist das vorbei“ (226). „Bei
einer Probe sind es eher Momente, nicht so lang“. „Das
berauschende Glück … eine Vorstellung, die eben ab und an mal
vorkommt, und man hat das Gefühl: Heute war es das“ (225).
„Eigentlich deswegen gehen wir alle da aufs Brett, um solche
Momente spüren zu können!“ (262). „Dieses
extrem gehobene Gefühl, alle Zweifel sind weg, auch die Zweifel
am Job sind weg, wenn alles optimal läuft“ (215). „Im
Probenprozess erlebe ich das, in der Regiearbeit“, so Thomas
Prattki, einer der befragten
Schauspieler, der eher als Regisseur und Theaterlehrer arbeitet, und
er präzisiert: „Im guten Kontakt mit dem anderen, der
Gruppe oder dem Material … passiert dieser Zustand, den ich als
etwas ganz Magisches erlebe“ (227). Und ein Schauspieler: „Das
für mich Glücklichste bisher war: ‚Lola‘,
inszeniert von Armin Petras in Nordhausen. Dort hat ein Kollege in
der letzten Vorstellung ein Plüschtier ins Spiel gebracht. Eine
kleine Ente. Und diese Ente ist unverabredet durch das komplette
Stück durch … wir improvisieren mit der Ente … Spannung und
ein Glücksgefühl. Die Herausforderung war: Was machst du
mit der Ente?“ (228). -
„Also man macht auch
schon viele Sachen, wo man denkt: Hallo, oh Gott, noch ‘ne
Stunde! Das sind dann nicht die freudvollen Momente“ (214).
„Und manchmal gelingt es eben auch nicht, und dann ist es immer
schwierig. Manchmal ist es ganz furchtbar, es quält mich
geradezu, dass ich es nicht abschalten kann, dass ich auf der Bühne
denke: Bitte konzentrier dich jetzt“ (217). In solchen
Schwierigkeiten sollte ein je individuelles, erprobtes Ritual helfen:
“ … mein Ritual, und dann gehst du hin, und trotzdem schafft
man es nicht“ (218). “ … dass man wirklich so depressiv
ist, wenn was nicht gelingt“ (262). Ein Stoßseufzer:
„Warum bin ich jetzt so verzweifelt als Schauspielerin?“
(224).
Obwohl es sich bei den befragten Theaterleuten um
etablierte, erfolgreiche Schauspieler handelt, werdenalso auch(und zwar überraschend oft)
Negativerfahrungen formuliert.
Sachser
behandelt sie und ihre möglichen Auswirkungen nicht eigens; bei
Csikszentmihalyi
werden sie thematisiert. Auch bei diesem sind Schwierigkeiten und
„Gefahren … Mittel, die Aufmerksamkeit auf die Aktivität
zu konzentrieren und Rückmeldungen bezüglich des Könnens
zu geben“ – also potentiell positive Herausforderungen.
Jedoch „können beispielsweise einige Fehler zu einer
dauernden Ängstlichkeit führen. Und am anderen Extrem kann
sich aus verschiedenen Gründen Langeweile in den Beruf
einschleichen. In beiden Fällen wird die Aktivität nicht zu
flow
führen. Die Konsequenzen sind wohl allzu oft Alkoholismus,
Familienzerrüttung und sogar Selbstmord“
(Csikszentmihalyi:
Das Flow-Erlebnis, S. 178). „You can‘t talk about
pleasure without talking about pain“, so einer der befragten
englischen Schauspieler (258). Das lässt sich auch anders
zusammenfassen: „In fact, acting is not painful at all –
good
acting … Bad acting is what is painful, not only to the audience
but to the actor himself„; so der englische
Theaterwissenschaftler Richard
Hornby (zitiert bei Sachser,
13). Fraglich bleibt dabei freilich, wer eigentlich „good“
und „bad“ definiert - und mit welchem Recht.
(2)
Was jeweils als Herausforderung oder Überforderung, als
langweilig oder spannend empfunden wird, ist stark individuell
bestimmt und nicht
generalisierbar.
Sachser
weist mehrfach darauf hin, wie „unterschiedlich
Grenzerfahrungen empfunden werden, wie unterschiedlich die Größe
von Herausforderungen dabei wahrgenommen wird“ (256); die
„Voraussetzungen …, um Theaterspielflow zu erleben, sind
mannigfaltig und aufs engste an die Individualität des Spielers
einerseits und an die gerade zu bewältigende künstlerische
Aufgabe andererseits gebunden“ (278). „Ob eine Situation
als anregend, herausfordernd, langweilig, bedrohlich, unlösbar
etc. eingestuft wird, unterliegt der individuellen Perspektive des
mit ihr konfrontierten Spielers“ (312).
Dazu ein
frappantes Beispiel. Von zwei Schauspielerinnen, die mit Robert
Wilson zusammengearbeitet haben,
formuliert die eine: „Ich hab‘ das sehr gerne, wenn ich
einen Rahmen habe„; die andere: „Bei Arbeitsweisen, die
so genau festgelegt sind, wie zum Beispiel bei Robert
Wilson, da gehe ich ein. Ganz
große Niedergeschlagenheit“ (247). Zwar lässt sich
verallgemeinern: „Man braucht Herausforderungen überall
und immer“ (256). Allerdings: „Der eine hat schon acht
8000er hinter sich und der andere hat schon Spaß, wenn er 400
Meter bewältigt. Herausforderungen sind individuell“
(257).
Es ist also
vor allem die individuelle
Eigeninterpretation,
die die Herausforderung, die Aufgabe, die Situation als „Not“
oder Überforderung definiert und mit Angst - oder als
langweilig empfindet und dann mit Trägheit reagiert; die sie
aber auch als positiv herausfordernd erleben kann und sich daran
erfreut. „Entscheidend“ also „ist die Wahrnehmung
von Freiheit“, so Sachser
(247); oder, wie einer der Schauspieler formuliert: ein „Korsett
nicht als Korsett zu nehmen, sondern das von innen explorieren“
(248).
Aus Sachsers
Interviewmaterial lassen sich also, überspitzt formuliert, eher
Persönlichkeitsdiagramme entwickeln als ein generelles
Theaterspielflow – ein Hinweis darauf, wie individuell die
Arbeit am Theater ist und wie sehr Regisseure auf ihre jeweiligen
SpielerInnen bezogen arbeiten müssen, zumindest sollten.
(3)
Wichtig ist also die, von
Sachser
kaum beleuchtete, spezifische Interaktionssituation;
die Stimmung der Gruppe und das jeweilige Verhältnis des
Schauspielers zu den Kollegen, zum Regisseur, zum Publikum wirken
sich aus. So heißt es, in dem kurzen Interviewausschnitt nicht
präzise interpretierbar, zu einem Solostück: „Man ist
alleine und man hat diesmal diesen ganzen Angstfaktor rausgelassen“
(246). Deutlich dagegen wird ein spezielles Interaktionsverhältnis
in dem folgenden Zitat: „Plötzlich hat man eine Idee und
man spielt sie dem Regisseur vor, der Regisseur findet sie toll, und
dann freut man sich“ (251).
Bei Csikszentmihalyi
wiederum findet sich Grundsätzliches zur Bedeutung
der Interaktion. Er weist darauf
hin, dass „herzliche zwischenmenschliche Beziehungen“ (S.
49), „die Momente … entspannender zwischenmenschlicher
Erfahrungen“ (S. 57) wichtig sind; er notiert die
„vergleichsweise hohe Einstufung von Items mit
zwischenmenschlicher Thematik“ (S. 53) und verweist in diesem
Zusammenhang auf Turner
und seinen communitas-Begriff (Zitate aus Csikszentmihalyi:
Das Flow-Erlebnis; vergl. auch das Prattki-Zitat
oben).
Zur Problematik der Interaktion gehört auch
die besondere Situation von Proben
und die Spezifik des „rehearsal room“, in dem ein
forschendes Umgehen wie im Kinderspiel möglich ist: „rearranging
reality like children … the imagination is fully engaged,
everything is possible and the pleasure comes from the sense of
possibility“ (245). „Mir sind die liebsten Proben die
Anfangsproben. Weil da eben noch alles offen ist … bevor man
eingeschränkt wird, bevor man von außen eingeschränkt
wird“ (246). Ganz ähnlich eine Schauspielerin:
„Situationen …, die ganz am Anfang der Proben standen, also
wo man so fast gar nichts weiß und wo man auch noch viel freier
mit dem Text umgehen kann“ (246).
(4)
Während Sachser
seine Untersuchung weitgehend auf die intrinsischen Motivationen
beschränkt, geht Csikszentmihalyi seine Flow-Analysen sehr breit
an und bezieht auch die jeweiligen extrinsischen
Motivationen ein (die ja
schließlich auch zur Professionalität des Theaters
gehören: Verhältnis zu Presse und Kritik; Engagement oder
nicht; Vertragsverlängerung; Wettbewerb um größere
oder kleinere Rollen, um die Gunst des Publikums oder des
Intendanten). So charakterisiert Csikszentmihalyi
z.B. auch Schach als Gelegenheit „für Handlungen auf
verschiedenen, voneinander unabhängigen Ebenen. Man kann auf die
Wettbewerbssituation des Spiels reagieren, auf die rein kognitiven
Anforderungen, auf die zwischenmenschlichen Möglichkeiten, auf
das Moment des Zeitvertreibes,auf den snobistischen Aspekt der
Sache oder auf die Gelegenheit zum einsamen Grübeln“
(Csikszentmihalyi:
Das Flow-Erlebnis, S. 83). „Die Struktur des Schachspiels ist
so reichhaltig, dass es eine Vielfalt verschiedener
Beteiligungsformen und je damit verbundener Befriedigungen erlaubt“
(l.c. 90). Dabei kann z.B. Wettbewerb stimulieren, er kann aber auch
Angst machen.
In seiner Darstellung ausgewählter
phänomenologischer Spieltheorien (Kap. 4.2) kommt auch Sachser
auf extrinsische Motivationen zu sprechen. Er referiert Mitchell
(„Im durchrationalisierten Spiel existiere entsprechend häufig
Angst und kritische Selbstbeobachtung“, 107) und zitiert: „Die
Rationalisierung verschiebt … die Perspektive weg von der
unmittelbaren Freude auf das Erzielen des größtmöglichen
Erfolges, vom Mittel zum Zweck … Die intrinsischen Belohnungen
treten zugunsten äußerer Belohnungen in Form von Prestige
und Profit zurück“ (Mitchell
in Sachser,
107). Aber auch hier liegen Haltung und die “Veränderung
der Haltung gegenüber der
jeweiligen Aktivität“ (107) zumindest zum Teil in der Hand
des Agierenden. In diesem Zusammenhang spricht Oerter,
so schreibt Sachser,
„vom ‚Uminterpretieren des Handlungsrahmens‘ und
formuliert damit seine Auffassung, dass Spiel im Zusammenhang mit
Arbeitshandlungen einem System gleiche, das ‚je nach Eigenart
der Arbeit, der Situation und der Person aktiviert werden kann und
das Interesse auf die Tätigkeit selbst lenkt sowie den gesamten
Handlungsrahmen vorübergehend uminterpretiert‘“
(107). Oder auch umgekehrt – ‚Spiel‘ als harte
Arbeit erlebt! Spiel, könnte man formulieren, ist ein Regelwerk
und eine besondere Stimmung von Spannung, Freude, Lust. Ohne diese
Stimmung wird Spiel nicht zu Spiel. Und mit freudiger Spannung und
Lust an der Tätigkeit kann auch das ‚Regelwerk‘
Arbeit zum Spiel werden. Dazu Goethe:
„Glücklich ist der, dem sein Geschäft auch zur Puppe
wird, der mit demselbigen zuletzt noch spielt und sich an dem
ergötzt, was ihm sein Zustand zur Pflicht macht“ (Wilhelm
Meisters Wanderjahre I, 14).
(5) “Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen“ – so der deutsche Untertitel von Csikszentmihalyis Flow-Buch. “ … alle Befunde aus unseren Untersuchungen weisen darauf hin, dass die wesentliche Unterscheidung nicht diejenige zwischen Spiel und Arbeit als kulturell definierten Aktivitäten ist, sondern diejenige zwischen dem flow-Erleben (welches gewöhnlich im Spiel auftritt, aber sich auch bei der Arbeitstätigkeit einstellen kann) und dem Erlebnis von Angst oder Langeweile (welches jederzeit und überall auftreten kann, aber am häufigsten bei Aktivitäten, die entweder zu viele oder zu wenige Handlungsmöglichkeiten aufweisen)“ (Csikszentmihalyi: Das Flow-Erlebnis, S. 209 f). Routine führt zu Langeweile, Anspannung zu Angst; zwischen diesen ‚defizitären‘ Formen liegtder „Flow-Kanal“ (abgebildet bei Sachser, 45). Formuliert wird damit eine anthropologische Grundspannung, die zur Freiheit des Menschen gehört – von Schopenhauer wurde sie mit „Not“ und „Langeweile“ benannt. Das entsprechende Gegenbild wird von Yoshi Oida evoziert, der ebenfalls zu den von Sachser befragten Schauspielern gehört; er spricht über „the baby or the dog … look at them: nothing else is there except life. They don‘t try to be wonderful, they don‘t want to show something, they don‘t prepare something, they don‘t have any ambition“ (229). -
Beenden wir unsere Flow-Diskussion mit einer klassischen Flow-Beschreibung: „Tanzen muss man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände, und in dem Augenblicke gewiss schwindet alles andere vor ihr“ (Goethe: Leiden des jungen Werther).
Fazit
Dietmar Sachser entwickelt aus Csikszentmihalyis Flow-Konzept einen besonderen, auf die Arbeit von Schauspielern bezogenen „Theaterspielflow“ aus drei Phasen und sieben Komponenten.
In seiner empirischen Untersuchung fragt er, „den Blick auf die künstlerische Praxis“ richtend (200), vierzehn SchauspielerInnen nach „Situationen“, die „als besonders freudvoll empfunden“ wurden (204); Antworten aus den ausführlichen Gesprächen werden den sieben Flow-Komponenten zugeordnet und machen diese konkret und plastisch, freilich in durchaus vielgestaltiger, auch widersprüchlicher Weise.
Interessante Nebenthemen (Stanislavskij, Lecoq, das Gefühlsproblem, Motivations- und Spieltheorien), die Diskussion des Flow-Konzeptes von Csikszentmihalyi, Äußerungen unterschiedlichster Theaterleute zum Thema „Freude“ nehmen viel Raum ein; weitere Themen werden in den ausgesprochen reichhaltigen Anmerkungen (395 – 490) zum Teil ausführlich behandelt.
Darüber kommen Darstellung und Diskussion der eigenen Untersuchungsergebnisse zu kurz. Dafür entschädigen die überaus interessanten Ausschnitte aus den Interviews; sie erlauben faszinierende Einblicke in die Arbeit von Schauspielern; sie dokumentieren freilich eher deutlich unterschiedliche, individuelle Erfahrungen und Arbeitsweisen, weniger ein allgemeines, übergreifendes Konzept.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 16.05.2011 zu:
Dietmar Sachser: Theaterspielflow. über die Freude als Basis schöpferischen Theaterschaffens. Alexander Verlag
(Berlin) 2009.
ISBN 978-3-89581-213-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9678.php, Datum des Zugriffs 03.12.2024.
Urheberrecht
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