Christian Niemeyer: Klassiker der Sozialpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Cornelia Burkhardt-Eggert, 14.09.2010
Christian Niemeyer: Klassiker der Sozialpädagogik. Einführung in die Theoriegeschichte einer Wissenschaft.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2010.
3., aktualisierte Auflage.
322 Seiten.
ISBN 978-3-7799-0358-1.
22,50 EUR.
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik.
Entstehungshintergrund und Zielgruppe
Christian Niemeyers Ausführungen zu den Klassikern der Sozialpädagogik erleben nunmehr ihre dritte Auflage und das allein spricht schon für die Bedeutung dieses Buches. Es wendet sich laut kurzer Beschreibung auf dem Einband an Studienanfänger, Studierende höherer Fachsemester und interessierte Laien.
Autor
Dr. phil. Christian Niemeyer (Jahrgang 1952) kennt als Professor für Soziokulturelle Erziehung und Bildung am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der TU Dresden die Studierenden als Adressaten gut, an die er sich wendet. Ausgewiesenes Ziel des Werkes ist es, sowohl die Klassiker vorzustellen und ihre theoretischen Überlegungen nachvollziehbar zu machen als auch einen Gesamtüberblick über die Entwicklung der Sozialpädagogik als Wissenschaft zu geben.
Vorwort, Einleitung und Auswahl
Im Vorwort erfährt der Leser, dass in der dritten Auflage schwergewichtig eine Aktualisierung der Primär- und Sekundärliteratur vorgenommen, formale Fehler korrigiert aber keine inhaltlichen Veränderungen vorgenommen wurden. Während das Vorwort zur zweiten Auflage neben auf den Kenntnisstand 2005 bezogenen Anpassungen auch auf das neu hinzugefügte Kapitel 5.4 aufmerksam macht, das sich mit Nohls Bezügen zum Nationalsozialismus befasst.
Die Einleitung
legitimiert umfang- und detailreich das Anliegen des Buches,
Klassiker der Sozialpädagogik und damit die Theoriegeschichte
dieser Wissenschaft vorzustellen. Niemeyer macht deutlich,
dass es sich bei diesem Vorgehen keineswegs um ein
selbstverständliches handelt. Aus diesem Grund wird zum einen
die Entwicklung der Haltung der Vertreter der Sozialpädagogik zu
den Klassikern von der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis zur
Gegenwart nachvollzogen. Zum anderen wird der Begriff Klassiker der
Sozialpädagogik bestimmt und die Zuordnung bekannter Pädagogen
zu ihm begründet.
Die Notwendigkeit der
Legitimation erklärt sich nach Niemeyer auch aus dem in
Deutschland immer noch vorhandenen Streit zwischen Vertretern der
Sozialpädagogik, Sozialarbeit, der Sozialen Arbeit und der
Sozialarbeitswissenschaft um die Stellung und den Rang der jeweiligen
Disziplin und die eigenen Klassiker.
Klassiker der
Sozialpädagogik müssen - so Niemeyer - sowohl dem
Anspruch nach dem Hinterlassen zeitloser Ideen als auch dem Anspruch
der Sozialpädagogik (originäre Beiträge und/oder
besondere praktische und/oder theoretische Leistungen im Rahmen
erziehungswissenschaftlich orientierter Begriffsvarianten von
Sozialpädagogik) genügen.
Nach diesen Kriterien erfolgte die Auswahl der neun je in einem der folgenden Kapitel vorgestellten Vertreter der Sozialpädagogik, wobei den Erörterungen immer ein kurzer biografischer Abriss vorangestellt ist.
1. Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827): Die Mutter aller Schlachten um die Sozialpädagogik
Zunächst wird ein kurzer Abriss des heutigen Forschungsstandes zu Pestalozzi und der gängigen Pestalozzibilder gegeben. Niemeyer weist dann darauf hin, dass es erforderlich sei, Pestalozzi
differenziert zu betrachten und so in seiner Widersprüchlichkeit, mit seinen Brüchen z.B. zwischen dem Schriftsteller und dem Praktiker, dem Lebenshungrigen und dem Asketen wahrzunehmen.
Im nachfolgenden Abschnitt zu Pestalozzis Sohneslehre steht die These im Mittelpunkt, dass sowohl die Auseinandersetzung mit Rousseau als auch die Krankheit des eigenen Sohnes Ursache für Pestalozzis Appell zugunsten einer geordneten Lebensführung in „Lienhard und Gertrud“ waren. In den Ausführungen zu „Lienhard und Gertrud“ arbeitet Niemeyer dann heraus, dass es Pestalozzi nicht um das Los des Einzelnen, sondern um die Beseitigung der Ursachen der Verdorbenheit der Sitten der Landbevölkerung ging. Nicht der Einzelne sondern das Gemeinwesen in Form einer vormodernen, hinter Rousseau zurückgehenden Utopie bildet den Schwerpunkt. Die sich daraus ergebende Frage, nach der Bedeutung dieser Schrift Pestalozzis für die Sozialpädagogik steht dann im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts Sozialpädagogik als Gestaltung des Sozialen. Hier stellt Niemeyer Natorps Anknüpfen an Pestalozzi als durch das Aufnehmen der sozialen Frage und der Gestaltung des Sozialen im Sinne einer bildungswirksamen menschlichen Gemeinschaft vor und kennzeichnet es als idealistische Pädagogik. Dieser Sicht wird mit Sozialpädagogik als ‚aufgeklärte‘ Sozialkontrolle das Pestalozziverständnis Nohls entgegengesetzt und problematisiert. Im Abschnitt „Sozialpädagogik als empfindsames Hilfehandeln“ prüft Niemeyer den Ansatz der Empfindsamkeit für „Lienhard und Gertrud“ und kommt zu dem Ergebnis, dass er sich nicht ausreichend rechtfertigen lässt. Eine andere Quelle für die Sozialpädagogik ist der Stanser Brief, der abschließend betrachtet wird. Auch zu diesem Text werden vor allem die Interpretationen von Natorp und Nohl herangezogen, die für zwei unterschiedliche auf Pestalozzi zurückgreifende Konzepte von Sozialpädagogik stehen.
2. Johann Hinrich Wichern (1808-1881): Der Vater aller Rettungshäuser
Niemeyer geht es darum, Wicherns Platz als Klassiker der Sozialpädagogik forschend zu bestätigen. Dazu werden Wicherns Erziehungskonzept, sein Pestalozzibild, seine Vorleistungen zu einer sozialpädagogischen Professionalisierung ebenso untersucht wie seine Tätigkeit in der Inneren Mission. Auch die Wirkungsgeschichte findet im Abschnitt „Wichern in Weimar“ Beachtung. Anknüpfungsmöglichkeiten sieht Niemeyer beispielsweise für die Heimerziehung der Gegenwart bei Wiecherns Konzept der nicht kasernenförmigen, sondern parzellierten Anstaltsarchitektur und großstadtnaher Unterbringung, der lebendigen, nicht von außen gegebenen Hausordnung und dem differenzierten Aufnahme-,Entlassungs- sowie Nachsorgesystem. Ein weiterer für die sozialpädagogische Diskussion bedeutsamer Ansatz ist nach Niemeyer das von Wichern eingeführte Familienprinzip. Es wird an dieser Stelle auch wieder der Bezug zu Pestalozzi deutlich gemacht, der meinte, dass die Vorzüge der häuslichen von der öffentlichen Pädagogik nachgeahmt werden sollten. Dieser Bezug gilt auch für den Anspruch, der Erzieher solle jedem Kind auf die zu diesem Kind passende Weise begegnen. Zugleich wird aber auch die für die moderne Sozialpädagogik nicht zu überbrückende Problematik des stark pietistisch geprägten Denkens Wicherns veranschaulicht und dies in Abgrenzung zu Pestalozzi einerseits und den reformpädagogischen Ansätzen andererseits.
3. Paul Natorp (1854-1924): Der Vergessenste aller Sozialpädagogen
Zunächst wird von Niemeyer erläutert, das mit der Charakterisierung als Vergessenster aller Sozialpädaogen vor allem gemeint ist, dass Natorp zwar erwähnt, aber sein Denken nicht konstruktiv aufgegriffen wurde. Zwar wurde er vom Reformpädagogen Kerschensteiner noch 1932 als der Sozialpädagoge Deutschlands gewürdigt, aber es gab zu dieser Zeit schon andere Stimmen und zwischen 1933 und 1945 fand er keine Erwähnung, da die Marburger Schule des Neukantianismus als jüdisch eingestuft worden war. Dabei ist – so Niemeyer - Natorp einer derjenigen, die dafür sorgten, dass Pestalozzi wieder aufgelegt und diskutiert wurde. Sein Verständnis von Sozialpädagogik zielt auf die Herstellung einer lebenswerten Welt, in der eine tragfähige menschliche Gemeinschaft existiert. Dieses Gesellschaftsmodell sei Natorps Antwort auf die von ihm sehr klar wahrgenommene ‚soziale Frage‘. Nachfolgend wird dann die Entwicklung von Natorps Verständnis der Sozialpädagogik von der Grundlegung 1894 über die Weiterentwicklung von 1899 bis zur Schrift ‚Sozialidealismus‘ 1920 nachgezeichnet. Der Sozialpädagoge nach Natorp ist danach am ehesten ein Anwalt einer zukünftigen, wirklich menschlichen Gesellschaft, der idealen Gesellschaft. Werden von Niemeyer dann die drei Tugenden (Reinheit, Tapferkeit und Wahrheit) und der Systemanspruch Natorps problematisiert, wird andererseits darauf verwiesen, man könne Natorp als Anreger der in den 1960-iger Jahren einsetzenden Ausdifferenzierung zwischen intentionalem Erziehungshandeln und funktionalen Sozialisationswirkungen verstehen. Und dies deshalb, weil Natorp die Gemeinschaft als Sozialisationsinstanz ins Zentrum seiner Überlegungen stellte. Niemeyer schlägt vor, Natorps Konzept der Sozialpädagogik mit dem Ausdruck ‚Sozialpädagogik als Erziehungswissenschaft‘ und das mit Nohl verbundene Gegenkonzept mit ‚Sozialpädagogik als Pädagogik‘ zu bestimmen. Abschließend wird dann auf die Rezeption Natorps nach dessen Tod eingegangen.
4. Aloys Fischer (1880-1937): Der Sozialpädagoge des Übergangs (und Untergangs)
Niemeyer arbeitet in diesem Kapitel heraus, dass Fischers Beiträge von der Erziehung als Tatsache und Aufgabe durchaus nicht dem Vergessen anheimfallen sollten und verweist eingangs hinsichtlich des Desinteresses an Fischer auf dessen fragwürdige Haltung zum Krieg als eine mögliche Erklärung. Niemeyers Hinweis, dass die entsprechenden Äußerungen „deutlich der Stimmung der Zeit geschuldet und schon gar nicht unterschieden von der Kriegsbegeisterung etwa eines Herman Nohl“ seien, ist zwar zuzustimmen, könnte aber leicht in Richtung einer Entschuldigung missverstanden werden, was insbesondere gegenüber dem gleichen Zeitgeist ausgesetzten Gegnern des Krieges fatal wäre. Über die Erziehung als Tatsache und Aufgabe kommt Niemeyer zur Schilderung der Wandlung des Begriffs der Sozialpädagogik bei Fischer. Dessen Auseinandersetzung mit Natorp wird nachvollziehbar vorgestellt. Der Sozialpädagogik habe Fischer der Rang einer pädagogischen Teildisziplin zugewiesen, die sich mit den Fragen Gestaltung der Wechselwirkungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft zu beschäftigen habe. Dem Nachteil der Zurechtstutzung der Sozialpädagogik hält Niemeyer den Vorteil entgegen, dass so eine ganze Reihe von interessanten Bereichen und Themen wie z.B. den Beruf des Erziehers angegangen werden. Auch die Bedeutung, die Fischer der Psychologie zumisst, wird z.B. mit Bezug auf das immer aktuelle Problem des Helfersyndroms dargelegt, wobei an dieser Stelle eine Anmerkung zur Genderthematik durch Niemeyer wünschenswert gewesen wäre.
5. Herman Nohl (1879-1960): Der Großvater aller geisteswissenschaftlichen Sozialpädagogik
Schon mit dem Titel macht Niemeyer klar, dass Nohl ein immenses Gewicht zukommt. So wird einleitend nicht nur auf Nohls Herkommen von der Philosophie sondern vor allem auf die Wirkungen über z.B. Weniger, Klafki, bis zu Mollenhauer und Thiersch hingewiesen. Auch auf die problematischen Seiten Nohls wie dessen Stellung zum ersten Weltkrieg, seine Distanz zur Demokratie und seine eindeutig der nationalsozialistischen Ideologie entsprechenden Äußerungen bleiben nicht unerwähnt. Mit Nohl sei die Festschreibung der Sozialpädagogik auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verbunden, wobei er Herbarth folgend auf die Probleme der Kinder abgestellt habe und nicht auf die Schwierigkeiten, die diese Kinder machten. Grundlegend für Nohls geisteswissenschaftliche Sozialpädagogik sei die Philosophie Diltheys und dieser Bezug wird sehr deutlich von Niemeyer herausgearbeitet. Gleiches gilt für die Rezeption der Gedanken Nietzsches in Nohls Werk. Niemeyers Hinweis, für die heutigen sozialpädagogischen Diskussionen sei ein stärkerer Bezug zur Philosophie dringend erforderlich ist zuzustimmen. Nohls Philosophieverständnis reiche aber zur Beantwortung der heutigen Fragen nicht aus. Sehr aufschlussreich ist auch die abschließende Betrachtung der Rolle Nohls während des Nationalsozialismus. Niemeyer stellt sich dem Denken Nohls in allen Fassetten, allerdings wäre es sehr spannend, in einer weiteren Auflage der Frage nachzugehen, ob und wie diese problematischen Positionen Nohls mit dessen Ansatz verbunden sind.
6. Karl Wilker (1885-1980): Der ‚gemachte‘ Klassiker der Sozialpädagogik
Die sich durch den Titel aufdrängende Frage wer Wilker warum zum Klassiker gemacht habe, wird von Niemeyer detailliert beantwortet. Wilker sei von Nohl und dessen Schülern als Klassiker aufgebaut worden, um so die Aufmerksamkeit von Bernfelds Theorie und Praxis abzuziehen und zugleich auf die Art von Praxis hinzuweisen, die Nohls Ansatz nahe stand. Wilker wird von Niemeyer dann vor allem mit seinen beiden Schriften zum Lindenhof vorgestellt. Nach Niemeyer übte Wilker Kritik an der Kirche und konfessionell geführten Anstalten, stellte aber selbst stark auf Jesus ab. Sein zentrales pädagogisches Konzept sei die Wechselwirkung zwischen den Menschen gewesen, die in einem angstfreien Kontext erfolgen sollte. Die reformpädagogische Haltung Wilkers zeige sich z.B. in der Einführung von Selbstverwaltung durch einen Jungenrat und die spätere Einsetzung eines Jungengerichts. Auch die von Wilker in die Einrichtung geholten Mitarbeiter waren, wie Niemeyer feststellt, an der Reformbewegung orientiert. Interessant in Hinblick auf Nohls Bezüge zum Nationalsozialismus könnten die von Niemeyer bei Wilker hinsichtlich der ‚Meißnerformel‘ festgestellten Gegensätzlichkeiten zu Bernfeld und Wilkers völkisch antisemitischer Haltung sein. Es stellt sich beim Lesen durchaus die Frage, ob Wilker heute auch und gerade angesichts der Leistungen Bernfelds als Klassiker unverzichtbar ist.
7. Siegfried Bernfeld (1892-1953): Der ‚Entdeckteste‘aller Sozialädagogen
Dieses Kapitel ist gewissermaßen gegen seinen Titel geschrieben. Niemeyer arbeitet heraus, dass es der Sozialpädagogik gut anstände, sich mit Bernfelds Erbe auseinanderzusetzen. Als wichtige Aspekte dieses Aneignungsprozesses werden die Kategorie des ‚sozialen Ortes‘, die Sicht auf die Pädagogik im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang (Verweis von Niemeyer auf Mollenhauers Sozialpädagogikdefinition), die Notwendigkeit der Selbstreflexion für die Professionalität und die Korrektur der gesellschaftlichen Bedingungen im ideengeschichtlichen Zusammenhang vorgestellt. Die schon im Kapitel über Nohl angesprochene und durch letzteren mitgeprägte Ignoranz gegenüber Bernfeld habe ihre Ursache auch darin, dass Bernfeld Jude, Marxist und Psychoanalytiker war. Nach Niemeyer eine dreifach Hypothek. Stark zeitgeschichtlich geprägt war nach Niemeyer die Wiederentdeckung Bernfelds im Zusammenhang mit der Studentenbewegung von 1968 und der sozialwissenschaftlichen Orientierung der Sozialpädagogik in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
8. Klaus Mollenhauer (1928-1998): Der eine Enkel geisteswissenschaftlicher Sozialpädagogik
Niemeyer führt dem Leser in diesem Kapitel detailliert und kenntnisreich die Entwicklung des Verständnisses der Sozialpädagogik bei Mollenhauer als eine die eigene Gewordenheit kritisch befragende und deshalb mehrfach den Fokus wechselnde Wissenschaft vor. Einleitend mit der hohen Wertschätzung Mollenhauers durch andere Vertreter der Disziplin wird dann auf die als erste Häutung bezeichnete Überwindung des geisteswissenschaftlichen Sozialpädagogikbegriffs beginnend mit Mollenhauers Dissertation eingegangen, wenn auch durchgängig Nohl und Weniger -auch in der Auseinandersetzung - und vor allem Schleiermacher für Mollenhauers Denken bedeutsam blieben. Die von Niemeyer als zweite Häutung bezeichnete realiserte Emanzipation vom geisteswissenschaftlichen Verständnis der Sozialpädagogik wird datiert mit dem Jahr 1968 und der Veröffentlichung von „Erziehung und Emanzipation“. In dieser Phase vertritt Mollenhauer nach Niemeyer die Notwendigkeit einer Hinzuziehung der empirischen Methoden als Korrektiv zur geisteswissenschaftlichen Tradition. Zeitgleich mit der 68-er Studentenbewegung habe Mollenhauer nach auf Vernunft begründeter gesellschaftlicher Erziehung gefragt und sein Interesse habe der gesellschaftlich bedingten Konstitution sozialpädagogischer Probleme gegolten. In diesem Zusammenhang fordere er auch vom Sozialarbeiter ein politisches Verständnis seiner Rolle. Es folgt die Darstellung der von Niemeyer als Verpuppung bezeichneten Phase, in welcher die Sozialpädagogik von Mollenhauer vorrangig als kritische Erziehungswissenschaft verstanden worden sei, in der aber auch der Bezug zu Schleiermacher und hier insbesondere zu dem von Schleiermacher eingebrachten Generationenkonflikt von Bedeutung gewesen sei. Wichtig seien außerdem die von Mollenhauer vorgenommenen Anwendungen des Lebensweltkonzeptes und des Ettikettierungsansatzes auf den Erziehungsprozess. Im Anschluss daran wird von Niemeyer Mollenhauers Rückkehr zu den Wurzeln der geisteswissenschaftlichen Sozialpädagogik im Sinne des dialektischen Gesetzes der Negation der Negation geschildert und dem erneut betonten Bezug zu Schleiermacher, insbesondere dessen Verständnis der Hermeneutik. Den Abschluss des Kapitels bilden Überlegungen zur ‚sozialpädagogischen Mollenhauerüberwindung‘. In diesem Abschnitt stehen vor allem das Verhältnis von Sozialpädagogik zur Allgemeinen Pädagogik, der eigenen Standort der Sozialpädagogik und das Theorie-Praxis-Verhältnis der Sozialpädagogik im Mittelpunkt.
9. Hans Thiersch (*1935): Der andere Enkel geisteswissenschaftlicher Sozialpädagogik
Die Frage nach der Mollenhauerüberwindung wird gleich einleitend von Niemeyer wieder aufgenommen und dahingehend beantwortet, dass eine solche nicht gegeben sei, wohl aber von einer besonderen Stellung Thierschs in den gegenwärtigen Diskursen. Thiersch wird von Niemeyer als nicht so stark durch Nohl und Weniger als vielmehr von Roth geprägt beschrieben. Niemeyer lässt den Leser an der ‚realistischen Wendung‘ in Thierschs Denken teilhaben, die vielfältige Bezüge zu Roth habe und stellt dann die ‚Alltagswende‘ vor. Die Bedeutung des Alltags für die Sozialpädagogik in Verbindung mit der Lebensweltorientierung bei Thiersch werden von Niemeyer gewohnt kenntnisreich und lebendig vorgestellt. Im abschließenden Abschnitt zeigt Niemeyer auf, dass auch Thiersch wieder auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik zurückgreift, indem er die ‚Alltagswende‘ in die Tradition der Hermeneutik einordnet, sie aber auch im Bezug zur Phänomenologie, der verstehenden Soziologie und der Kritischen Theorie verstanden wissen will. Niemeyer hält fest, dass diese – von Thiersch horizontal genannte - Zuordnung zu bis heute nicht abgeschlossenen Diskussionen geführt habe und betont die Bedeutung der zweiten, ‚vertikalen‘ und fachgeschichtlichen Positionierung der Alltagswende, indem Thiersch unter Hinweis auf die Notwendigkeit der Kasuistik und dem entsprechenden Verständnis des Theorie-Praxis-Verständnisses auch an die geisteswissenschaftliche Pädagogik anknüpfte.
Fazit
Das vorliegende Werk ist außerordentlich detail- und kenntnisreich geschrieben. Dem Leser wird die Entwicklung der Sozialpädagogik angesichts der sich aufeinander beziehenden Ansätze der vorgestellten Klassiker sehr klar vor Augen geführt. Die Zielstellung wurde also voll und ganz erreicht. Niemeyers ‚Klassiker der Sozialpädagogik‘ ist allen Lesern zu empfehlen, die an der Geschichte der Sozialpädagogik und/oder den Ideen eines oder mehrerer Klassiker interessiert sind. Sehr klar ist auch die enge Verknüpfung zwischen Philosophie und Sozialpädagogik von Niemeyer herausgearbeitet worden. Allerdings macht es möglicherweise die Vielzahl der aufgeführten Bezüge zu unterschiedlichen philosophischen, psychologischen und sozialpädagogischen Ansätzen dem Laien wie dem Studienanfänger nicht leicht, die Gedankengänge stets nachzuvollziehen. Insofern wäre es für diese Zielgruppe sicher hilfreich, dem jeweiligen Kapitel eine kurze Zusammenfassung folgen zu lassen, ähnlich der informativen, kurzen biographischen Darstellungen zu Beginn oder diesen einleitenden Abriss um eine Darlegung der wichtigsten Entwicklungsschritte zu ergänzen.
Rezension von
Prof. Dr. Cornelia Burkhardt-Eggert
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Es gibt 2 Rezensionen von Cornelia Burkhardt-Eggert.
Zitiervorschlag
Cornelia Burkhardt-Eggert. Rezension vom 14.09.2010 zu:
Christian Niemeyer: Klassiker der Sozialpädagogik. Einführung in die Theoriegeschichte einer Wissenschaft. Juventa Verlag
(Weinheim) 2010. 3., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-7799-0358-1.
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9695.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.
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