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Judith Lewis Herman: Die Narben der Gewalt

Rezensiert von Dr. Michaela Schumacher, 30.09.2003

Cover Judith Lewis Herman: Die Narben der Gewalt ISBN 978-3-87387-525-8

Judith Lewis Herman: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2003. 400 Seiten. ISBN 978-3-87387-525-8. 25,00 EUR.
Mit einem Nachw. der Autorin aus dem Jahre 1997; Reihe "Konzepte der Psychotraumatologie", Bd. 3.

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Autorin und ihr Hintergrund

Judith L. Herman ist Professorin an der Harvard Medical School und leitet ein Programm über Opfer von Gewalttaten am Cambridge Hospital. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet sie mit Überlebenden (Opfern) von häuslicher, sexueller und politisch-gesellschaftlicher Gewalt, dies sowohl im direkten therapeutischen Kontakt als auch in der fachwissenschaftlichen Reflexion und Theoriebildung.

Sie weiß über wen und über was sie schreibt und wem sie stellvertretend ihre Stimme leiht, um das Unsagbare und das gesellschaftlich Verdrängte ins Wort zu bringen. Sie übernimmt fachlich fundiert und politisch engagiert Zeugen- und Anwaltschaft für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihren Anspruch auf Genesung.

Zielgruppen

Das Buch wendet sich ausdrücklich an alle, die interessiert sind und/oder sich engagieren für eine menschliche Welt, frei von Gewalt und Waffen. Pflichtlektüre sollte es sein für all die, die mit Traumatisierten arbeiten (werden), aber auch für all die, die in Politik und im Sozialwesen sowohl (mit)-verantwortlich sind für die Entstehung von traumatisierenden Situationen als auch für die gesellschaftliche Pflicht, Genesung zu wollen und zu fördern. Aufklärend und verstehensfördernd ist es zudem für die Menschen, die mit Überlebenden/Opfern zusammen leben - PartnerIn, Familie, Freunde.

Aufbau und Inhalt

Das Buch hat eine Einleitung, einen Teil 1 Traumatische Störungen (6 Kapitel), einen Teil 2 Stationen der Genesung (5 Kapitel), Danksagungen, Anmerkungen, Register und ein merkenswertes Nachwort der Autorin von 2/1997.

Einleitung

Die Traumaforschung hat eine lange, reiche und bewegte Tradition. Einerseits versackten bzw. wurden ihre Ergebnisse aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierung individualisierend umgedeutet, andererseits evozierten gesellschaftliche 'Zustände' neue Forschungsansätze. Wie das Trauma selber ist die Traumaforschung prädestiniert für Verdrängung/Verschleierung. Denn, wer traumatisiert ist oder sich mit Traumatisierten und Traumaursachen beschäftigt, wird mit zwei Herausforderungen konfrontiert:

  1. "mit der Verwundbarkeit des Menschen in seiner natürlichen Umwelt und mit der Fähigkeit zum Bösen als Teil der menschlichen Natur
  2. sich als 'Zuschauer' zu positionieren im Erwartungsspannungsfeld von Opfer (engagiertes, parteiliches Handeln und Erinnerungsfähigkeit, d.h. Stärkung, Schutz und Solidarität) und Tätern (Schweigen, Untätigkeit und Folgenlosigkeit)".

"Eine vergessene Geschichte" - Kapitel 1

präsentiert die Geschichte der Etablierung und Tabuisierung der Psychotraumaforschung. Es beschreibt die drei Forschungsrichtungen - Hysterie, Traumatische Kriegsneurosen, Kriegsneurose des Geschlechterkampfes - ihre Zugangsweisen, Erkenntniswege und Ergebnisse. 1980 - nach 100 Jahren - erfuhr diese Forschung ihre Anerkennung durch die Aufnahme des "posttraumatischen Syndroms" (PTSD) in das offizielle Handbuch der APA.

"Angst" - Kapitel 2

Traumatische Reaktionen treten auf, wenn das komplexe Selbstschutzsystem, die fein abgestimmte Wechselwirkung zwischen physiologischer Erregung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedächtnis - zusammenbricht oder dissoziiert. Harmonisches, koordiniertes und zielgerichtetes Handeln wird unmöglich, weil Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und drohende Vernichtung die Oberhand gewinnen. Ein Trauma zerstört die inneren Muster des Selbst- und Weltbildes. Differenziert beschrieben werden die drei Hauptphänomene - Übererregung, Intrusion, Konstriktion - und die dynamische Dialektik des Traumas. Physiologische Veränderungen setzen den Körper in eine ständige Alarmbereitschaft. Das Trauma wird mit der emotionalen Intensität des ursprünglichen Geschehens sensorisch, stark bildhaft und in szenischer Form wiedererlebt, denn die linguistische Kodierung des Initialgeschehens im Gedächtnis war/ist außer Kraft gesetzt. Backflashs, Albträume etc. sind die Folge. Diese Prozesse entziehen sich sowohl der Steuerung als auch der Kontrolle des/r Traumatisierten. Intrusive Phänomene sind der hilflose Versuch, die traumatischen Ereignisse zu integrieren. Bewusstseinsveränderungen - distanzierende bzw. dissoziative Bewusstseinszustände - bewirken Gefühle der Konstriktion/Erstarrung, lähmen den Geist. Verhindert wird ein zweck- und zielgerichtetes Handeln. Da das innere Gleichgewicht zerstört wurde, oszillieren Intrusion und Konstriktion. Die dynamische Dialektik des Traumas ist das Oszillieren zwischen Wiedererleben und Gedächtnisverlust, Gefühlsüberflutung und Gefühlslosigkeit, Impulsivität und Handlungsblockierung.

"Nichtzugehörigkeit" - Kapitel 3

Traumatische Ereignisse zerstören sowohl die Autonomie - Selbst-Bild, Selbst-Vertrauen und Selbst-Wert - als auch die Interdependenz des Individuums - Beziehungen, Geborgenheitsvorstellungen, Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl, Glauben an eine sinn-volle und sinn-stiftende Ordnung der Welt. Da die vor dem Trauma entwickelte/erreichte Identität unwiederbringlich zerstört wurde, muss der/die Überlebende alle früheren Kämpfe um Autonomie, Initiative, Kompetenz, Identität und Intimität erneut führen, um wieder Selbst-Achtung, Selbst- und Fremdvertrauen zu entwickeln. Die Wiedergewinnung von Autonomie kann nur - wie ursprünglich - in der Beziehung und Bezogenheit zu anderen Menschen erfolgen, jedoch scheuen Überlebende diese aber aufgrund der traumatischen Ereignisse am meisten. Nur die Solidarität des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes ermöglicht den Überlebenden sowohl Scham, Stigmatisierung und Erniedrigung, als auch angesichts einer extremen Situation eigenen Wertmaßstäben nicht entsprochen zu haben, zu akzeptieren. Sie erwarten keine Generalabsolution, jedoch Fairness, Anteilnahme, Mitgefühl und die Bereitschaft das schuldbehaftete Wissen darum, was in Extremsituationen mit Menschen geschieht, zu teilen. Solidarität bedeutet Anerkennung, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit seitens der Gesellschaft.

"Gefangenschaft" - Kapitel 4

Am Beispiel politischer und häuslicher Gefangenschaft, Entführung und Geiselnahme wird dargestellt, was länger anhaltende, sich wiederholende traumatische Ereignisse bewirken. Der/die TäterIn wird in zweifacher Hinsicht zum wichtigsten Menschen. Er/sie sind einerseits die tödliche Bedrohung - durch Versklavung, umfassende ganzheitliche Kontrolle, Denunziation bisheriger Beziehungen wollen sie das Opfer psychisch zerstören, die inneren Bilder der Bindungen und Werte auslöschen. Andererseits ist er/sie das einzige menschliche Wesen, das sich dem Opfer zuwendet, kleine Vergünstigungen - Lächeln, Sprechen, Unterbrechung z.B. der Folter, Vergewaltigung etc. - gewährt. Identifizierung mit dem/der TäterIn ist oft die zwangsläufige Folge. Diese pathologische emotionale Bindung ist dann stärker als jede normale. "Doppeldenk", die Fähigkeit zwei einander widersprüchliche Überzeugungen zu hegen und beide simultan gelten zu lassen, wird zum Überlebensmechanismus. TäterIn sind "erfolg"reich, wenn das Opfer in einer ersten Phase, innere Autonomie, Weltanschauung, moralisch-ethische Prinzipien, Bindungen aufgibt und/oder seine historische Kontinuität zusammenbricht; d.h. die Isolation von Fühlen, Denken, Handeln und Urteilen erreicht wird. Danach muss nur noch der Lebenswille gebrochen werden. Alle Symptome der traumatischen Belastungsstörung sind extrem verstärkt und verselbstständigt, sie regieren und steuern das Opfer. Nach der Gefangenschaft wieder Initiative zu ergreifen, muss kleinstschrittig und im geschützten Raum - Versuch und Irrtum zulassend - neu eingeübt werden.

"Kindesmissbrauch" - Kapitel 5

Beschrieben wird, dass und wie junge Menschen mit einem unausgereiften System psychischer Strukturen und Abwehrmechanismen und einer noch unzureichend ausgebildeten und gefestigten Identität mit den Erfahrungen sexueller Ausbeutung versuchen umzugehen. Ihre ständigen "Begleiter" sind Angst vor Gewalt, Tötungsbedrohung, überwältigende Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, der Verlassenheit und Einsamkeit, die Isolation und das Abgeschnittensein von sozialen Kontakten. Durch Gehorsam, Bravsein und ähnliches mehr versuchen sie - vergeblich -, die Ausbeutung zu stoppen. Dissoziation, Selbstbezichtigung und -abwertung sind die verzweifelten Versuche, der Ausbeutung Sinn zu geben. Um sich die Primärbindung an die Eltern zu bewahren, wird das "Böse" des Vaters/der Mutter (TäterIn) verinnerlicht. Verunmöglicht wird dadurch, sowohl ein sicheres Gefühl von Autonomie und Selbstwert zu entwickeln als auch innere Bilder von zuverlässigen und vertrauenswürdigen Bezugspersonen auszuformen. Ausbeutungserfahrungen verhindern zudem auch noch die normale Regulierung biologischer Funktionen und emotionaler Zustände. Selbstverletzungen dienen der Befreiung von einem unerträglichen emotionalen Schmerz. Die kindlichen Überlebensstrategien - Doppeldenk, Dissoziation u.ä.m. - behindern nicht nur die Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit sondern auch die Entwicklung intimer Beziehungen. Oft brechen die Abwehrmechanismen erst im dritten/vierten Lebensjahrzehnt zusammen und die Überlebenden sind mit den Geschehnissen der Kindheit und ihrer emotionalen Besetzung konfrontiert.

"Eine neue Diagnose" - Kapitel 6

Nachgezeichnet wird der Weg von diskriminierenden Diagnosen, die statt dem/der TäterIn dem Opfer die Schuld zuschoben, zu Bezeichnungen wie "komplexe posttraumatische Belastungsstörung" oder Typ I -Trauma und Typ II-Trauma. Dargelegt werden die Varianten der komplexen PTSD, wobei - trotz der verwirrenden Vielfalt - die Symptome als eine je spezifische Anpassung an die traumatische Umgebung verstanden werden müssen; Physioneurose bei der Somatisierung; Deformation des Bewusstseins bei der multiplen Persönlichkeitsstörung; Identitäts-/Beziehungsstörungen bei der Borderline-Störung. Die Erkenntnis der Rolle des Kindheitstraumas bei der Entstehung dieser schweren Störungen ermöglicht Betroffenen, sich mit therapeutischer Hilfe aus der Selbstbeschuldigung zu befreien und TherapeutInnen einen anteilnehmenden, verstehenden Zugang.

Der zweite Teil des Buches widmet sich den "Stationen der Genesung".

" Eine heilende Beziehung" - Kapitel 7

Hier setzt sich die Autorin mit dem Aufbau einer heilenden Beziehung auseinander. Wichtigste Genesungsziele sind, dass das Opfer - Überlebende/r - lernt, sich selbst (wieder) zu vertrauen, autonom zu handeln, Initiative zu ergreifen, lebenstüchtig zu werden, eine eigenständige Identität zu entwickeln und enge Beziehungen einzugehen. Im ersten Schritt verlangt das, die Persönlichkeit zu stärken und zu festigen, Entscheidungssituationen mit ihm/ihr bzgl. der Folgen aufzuklären und einschätzbar zu machen und ihm allein die Entscheidung zu lassen - Eigenverantwortlichkeit und Wiederherstellung der Autonomie. Die Vertragselemente werden benannt und ihre Folgen im therapeutischen Prozess diskutiert. Konstitutive Rahmenbedingungen sind

  • Abstinenz, technische Neutralität und moralische Solidarität des/der Therapeuten/in
  • Traumatische Übertragungen, deren Spezifikum es ist, dass sie nicht der Dyade TherapeutIn-Klient entspringen, sondern einer Triade, da der/die TäterIn immer anwesend zu sein scheint.

Posttraumatische Störungen erzeugen komplexe Übertragungsreaktionen und projektive Identifikationen, da sich die Dynamik von Beherrschung und Unterwerfung reinszeniert. Aufgrund der Gewalt und Grausamkeit der traumatisierenden Ereignisse besteht für den/die TherapeutIn eine erhöhte Gefahr zur Gegenübertragung. Deshalb und wegen der Dialektik des Traumas sind ein kollegiales Netzwerk, Supervision oder Balintgruppe unverzichtbar. Ein Trauma kann nie allein behandelt werden, denn es zwingt jede/n, sich auch mit dem "Bösen, dem Teuflischen" in sich auseinander zu setzen. Der zu schließende Therapievertrag intendiert Genesung. Die Festlegung der Ziele, Regeln und Grenzen muss symmetrisch erfolgen, um jegliche Wiederholung des Kontrollverlustes im Trauma zu vermeiden.

"Sicherheit" - Kapitel 8

Formal hat der Genesungsprozess drei Phasen: Wiederherstellung der Sicherheit, Erinnern und Trauern, Verbindung zum normalen Leben. Er ist kein Stufen- sondern ein Spiralprozess, in dem die Probleme auf unterschiedlichen Integrationsniveaus immer wieder neu bearbeitet werden müssen. Traumatypisch ist seine ganzheitlich wirksame Zerstörungskraft, die Auswirkungen betreffen alle Lebensbereiche. Infolgedessen müssen in jeder Genesungsphase die charakteristischen physiologisch-biologischen, psychologischen und sozialen Komponenten der Störung umfassend und gezielt angegangen werden. Da Wissen Macht ist, muss der/die TherapeutIn dem/der PatientIn offen mitteilen, dass er/sie unter PTSD leidet. Nur so besteht die Chance, dass das Gefängnis, die Sprachlosigkeit des Traumas, aufgebrochen und Sprache zur ersten Aktivität wird. Der Entscheidungsspielraum ist zu vergrößern und die Fähigkeit zur Abgrenzung zu verbessern. Erst wenn der/die Traumatisierte für sich das Gefühl hat, auf sich aufpassen (Selbst-Kontrolle) zu können, dass das Leben in bestimmten Maße berechenbar und das Arbeitsbündnis mit dem/der TherapeutIn ein sicheres und verlässliches ist, kann in die II. Phase gewechselt werden.

"Erinnern und Trauern" - Kapitel 9

Bis ins Detail sind die Erinnerungen zu heben, um sie dann wie ein Puzzle zusammenzufügen. Über den Beginn der Rekonstruktionsarbeit entscheidet allein das Opfer. Zunächst wird die Vor-Geschichte des Traumas im Gedächtnis und Bewusstsein aktualisiert, denn zu ihr gilt es später, eine Brücke zu schlagen. TherapeutIn sind Zeugen/Verbündete. Mittels ihrer offenen, vorurteilsfreien, anteilnehmenden und fragenden Haltung und ihrer moralischen Solidarität unterstützen sie die Erinnerungsarbeit und den Prozess das traumatische Ereignis neu zu interpretieren. Sowohl alle Sinneswahrnehmungen als auch die Bedeutung des traumatischen Ereignisses für die/den Überlebenden und die wichtigen Menschen in seinem/ihren Leben müssen so exakt und dezidiert wie möglich beschrieben und analysiert werden. Rekonstruktion ist "Zeugnis ablegen", ein universelles Heilungsritual. Techniken der Transformation - Reizüberflutung, formeller Zeugenbericht, Hypnose und andere Induzierungstechniken werden vorgestellt. Um das menschliches Vorstellungsvermögen übersteigende, erlittene Leid zu verstehen und ihm Sinn zu geben, muss das Opfer ein neues Wertesystem etablieren und ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln. Der Rekonstruktion folgt die Trauerarbeit. Viele Opfer wehren sich zunächst dagegen, um den/die TäterIn nicht doch noch siegen zu lassen. Sie müssen erst verstehen, dass Trauern ein mutiger und kein demütigender Akt ist. Die erlittenen Schmerzen zuzulassen und einzugestehen, fällt äußerst schwer und evoziert oft als Widerstandsformen: Rache-, Vergebungs- bzw. Wiedergutmachungsphantasien. Da es letztendlich keine angemessene Wiedergutmachung gibt, ist Trauern der einzige Weg den Verlust der körper-seelischen und moralischen Integrität zu bewältigen. Erinnern und Trauern sind der Königsweg traumatische Erlebnisse und Ereignisse in den eigenen Erfahrungsschatz zu integrieren neben anderen Erfahrungen.

" Wiederanknüpfung" - Kapitel 10

Beschrieben wird dass und wie der/die Traumatisierte ein neues Selbst entwickelt, neue Beziehungen knüpft und einen neuen Glauben/Sinn findet, die Halt geben. Themen der ersten Phase werden jetzt unter dem Fokus, wie sich der Patient aktiver am Leben beteiligen kann, erneut aufgegriffen. Fünf Schritte hat diese Phase: kämpfen lernen, sich mit sich versöhnen, neue Bindungen eingehen, als Opfer eine Aufgabe finden und gestalten, die Auflösung des Traumas. Step 1 verlangt, sich realen Gefahren zu stellen, sich der eigenen Ressourcen in ihnen zu vergewissern - z.B. in einem Outdoor- oder Selbstverteidigungstraining oder durch öffentliches Brechen des Schweigegebots in einer selbstgestalteten und gesteuerten Szene. In Step 2 werden eigene Wünsche entdeckt, die Selbstinitiative gefördert, kreative und spielerische Fähigkeiten ausprobiert. In Step 3 wird sich - wohldosiert und abcheckend, wer vertrauenswürdig ist und wer nicht - auf andere eingelassen, das Intimleben vertieft sich, das Verhältnis zu eigenen Kindern wird offener und authentischer. In Step 4 wird ein Teil der Überlebenden gesellschaftlich aktiv, engagiert sich in konkreten, aufklärenden und/oder helfenden Aufgaben, um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf das Thema "Traumatisierung durch..." zu lenken. Einige klagen gegen TäterIn, damit das Gesetz sich wieder Geltung verschafft und andere Menschen einbezogen werden in die Verantwortung für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Step 5 nennt und überprüft 7 zu erfüllende Kriterien, wann ein Trauma "aufgelöst" ist. Da es nie eine endgültige Auflösung oder eine vollständige Heilung/Genesung gibt, bleibt das Trauma ein ständiger Begleiter, der sich oft bei Lebensabschnittswechseln - Heirat, Geburt, Scheidung u.ä.m. - wieder meldet.

"Die therapeutische Gruppe" - Kapitel 11

Behandelt werden die Kriterien für therapeutische Gruppen in der Traumaarbeit. In einer Gruppe der Gleichbetroffenen wird die Universalität des Leidens transparent, Isolations-, Scham- und Stigmatisierungsgefühle können sich allmählich lösen durch die "Anpassungsspirale" Angenommenwerden - Selbstwertverbesserung - Andere annehmen. Therapiegruppen bewirken eine Art kollektiver Persönlichkeitsstärkung. Gruppenangebote für Traumatisierte müssen immer auf die 3 Phasen der Genesung - Sicherheit, Erinnern und Trauern, Wiederanknüpfung - abgestimmt und synchron zu diesen organisiert, strukturiert und geleitet werden. Nur dann haben sie eine emotional und sozial unterstützende, stabilisierende und z.T. auch katalytische Wirkung.

Nachwort

Von 1992-1997 ist durch gesellschaftliche Zu- und Umstände (Kriege, Vertreibungen) die Psychotrauma-Forschung nicht nur multidimensional betrieben worden, sondern auch erneut in die Kritik und Diffamierung (Leugnungs-, Verdrängungs-, Bagatellisierungs-, Tabuisierungsversuche) geraten. Herman resümiert wichtige Erkenntnisse und Einsichten dieser beiden Prozesse:

  • Die Zahl der Gewaltopfer geht in die Millionen (Balkan, Afrika, Asien).
  • Traumaexpositionen bewirken dauerhafte Veränderungen im endokrinen System sowie im autonomen und zentralen Nervensystem.
  • Der pathogene Charakter der Dissoziation konkretisierte sich durch die Entdeckung neurobiologischer Veränderungen.
  • Angesichts der wachsenden biologischen Orientierung gilt die Sorge den integrativen Konzepten und dem kontextuellen Verständnis psychischer Traumata. Denn, damit Reinszenierungen des ausbeuterischen Beziehungsmusters bei der Sammlung wissenschaftlich objektiver Daten im Untersuchungsdesign vermieden werden, müssen die Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen, sozialen und politischen Faktoren des Traumas im Bewusstsein der Forschenden und im Untersuchungsdesign präsent bleiben.
  • Es wurden neue innovative Behandlungsmethoden entwickelt. Sie befinden sich in unterschiedlichen Stadien der kontrollierten Untersuchung von Behandlungsresultaten/-erfolgen.
  • Die Resilianz unbehandelter Überlebender bedarf der intensiven, systematischen Untersuchung zwecks Transfer für Behandlungsmethoden und -settings.
  • Die Genesungsarbeit mit traumatisierten Gemeinschaften rückt zunehmend in den Fokus. Wie traumatisierte Individuen müssen auch traumatisierte Gemeinschaften, Länder sich erinnern, trauern, für ihre Verfehlungen büßen und TäterInnen zur Verantwortung ziehen, um die traumatisierenden Situationen weder erneut zu durchleben noch zu reinszenieren. Die Resultate der Heilung durch Wahrheits- und Versöhnungskommissionen stehen noch aus.
  • Die öffentliche Anerkennung von traumatisierenden Verbrechen und irgendeine Form der Wiedergutmachung sind unabdingbar, da ansonsten soziale Beziehungen mit den korrupten Dynamiken des Leugnens und der Geheimhaltung behaftet bleiben.
  • Die false memory - Diskussion und ähnliche Bewegungen verdeutlichen, TäterInnen und Sympathiesanden lassen nichts unversucht, damit emotionale und sexuelle Ausbeutung unentdeckt, unerkannt bleiben und dem (kollektiven) Vergessen anheimfallen.

Trauma-Überlebenden zuzuhören, ihren Genesungsprozess zu begleiten, sich politisch einzumischen birgt Risiken und die Gefahr verklagt zu werden. Doch all diese Angriffe der TäterInnen belegen nur, dass sie die Macht der heilenden Beziehung anerkennen und zugleich fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

Fazit

Das Buch ist klar strukturiert, es bietet einen fundierten Einblick sowohl in traumatische Störungen als auch in den Prozess der Heilung. Judith L. Herman klärt nicht nur auf, sondern bezieht fachlich, politisch und ethisch Stellung. Ihr Buch ist und wird ein Klassiker der Pschotraumaforschung und -diskussion bleiben. Es sensibilisiert nicht nur für die Wunden der Betroffenen und die mühsamen, aber zugleich hoffnungsvollen Wege der Heilung, sondern es fordert den/die LeserIn auch heraus und auf zur politischen Einmischung durch Zeugnis geben und Solidarität mit den Überlebenden, d.h. Anerkennung, Mitverantwortung für die Wiederherstellung der Würde dieser Menschen und Wiedergutmachung und Gerechtigkeit seitens der Gesellschaft.

Der besondere Charme des Buches ist, dass es trotz höchster fachwissenschaftlicher Kompetenz auch für Nicht-Fachleute sehr gut lesbar und verstehbar ist. Das Buch ist sowohl aufklärend und informativ als auch beunruhigend und handlungsauffordernd.

Rezension von
Dr. Michaela Schumacher
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Zitiervorschlag
Michaela Schumacher. Rezension vom 30.09.2003 zu: Judith Lewis Herman: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2003. ISBN 978-3-87387-525-8. Mit einem Nachw. der Autorin aus dem Jahre 1997; Reihe "Konzepte der Psychotraumatologie", Bd. 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/970.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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