Sonja Kubisch: Habituelle Konstruktion sozialer Differenz
Rezensiert von Dr. Heike Radvan, 05.11.2010

Sonja Kubisch: Habituelle Konstruktion sozialer Differenz. Eine rekonstruktive Studie am Beispiel von Organisationen der freien Wohlfahrtspflege. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2008. 369 Seiten. ISBN 978-3-531-15932-4. 39,90 EUR.
Thema
Im August 2006 trat in Deutschland das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. Dieses Gesetz soll Personen vor Diskriminierung und Benachteiligung schützen und ihnen Rechtsschutz gewähren, falls sie aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihres Alters, einer Behinderung oder sexuellen Orientierung Benachteiligungen erfahren. Diese gesetzlichen Regelungen kommen nicht nur in den Bereichen von Verwaltung und Wirtschaft zur Geltung, sondern beziehen sich auch auf die freie Wohlfahrtspflege, die sich traditionsgemäß als Interessenvertretung benachteiligter und diskriminierter Menschen versteht. Wie jedoch Personen, die in der freien Wohlfahrtspflege tätig sind, soziale Verschiedenheiten wahrnehmen und wie sich innerhalb von Organisationen ein milieuspezifischer Umgang hiermit gestaltet, darüber liegen bislang keine Untersuchungen vor. Nähert sich die Wohlfahrtsverbändeforschung den Organisationen bislang primär „von außen“, indem sie vor allem das Anpassungsverhalten freier Träger an veränderte Umweltbedingungen in den Blick nimmt (vgl. Kubisch 2008: 12), liegt nun mit der Dissertation von Sonja Kubisch eine Untersuchung vor, die den Focus auf die Alltagswelten verschiedener Organisationen richtet. Das Innovative der Studie lässt sich im praxeologischen Zugang zum Thema beschreiben: Anschließend an die Habitustheorie Pierre Bourdieus und die dokumentarische Methode Ralf Bohnsacks geht es Kubisch darum, „handlungsleitende und von der sozialen Lage der Akteure geprägte Orientierungen in Hinblick auf soziale Differenz“ (ebd.: 14) zu rekonstruieren. Dabei verbleibt die Autorin nicht auf der Ebene individueller Orientierungen; neben der Rekonstruktion unterschiedlicher Milieus, in denen sich handlungsleitende Muster mehrerer Personen innerhalb einer Organisation zeigen, geht es auch um gleichartige und differierende Orientierungen, die sich gerade im Vergleich zu anderen Organisationen herausarbeiten lassen. Mit dieser praxeologisch orientierten Untersuchung verfolgt die Autorin das Ziel, den bislang in der Organisationskulturforschung dominierenden kognitiven und diskursanalytischen Zugängen sowie Ansätzen des Symbolismus eine Forschung im Sinne der dokumentarischen Methode zur Seite zu stellen. Die Autorin geht über ethnomethodologische und sozialkonstruktivistische Ansätze hinaus, wenn sie danach fragt, wie Herstellungsprozesse sozialer Differenz innerhalb von Institutionen langfristig funktionieren und sich wiederholen. Mit der Studie ist beabsichtigt, die Lücke zwischen Mikro- und Makroebene zu überwinden, indem die Wirkung gesellschaftlicher Strukturen im Handeln der Akteure rekonstruiert werden.
In Übereinstimmung mit dem konstruktivistischen Paradigma geht Kubisch davon aus, dass soziale Differenz im Handeln zwischen Personen hergestellt und reproduziert wird. Dieser Zugang lässt sich explizit von Annahmen unterscheiden, die im Ansatz des Managing Diversity verbreitet sind und denen zufolge Merkmale wie z.B. Geschlecht oder soziale Herkunft als „von Natur aus gegeben“ und damit unveränderbar gelten. Die Autorin steht dem Ansatz des Managing Diversity, – der im Bereich der Wirtschaft zunehmend Beachtung erfährt – auch kritisch gegenüber, da neben der Beseitigung von individueller Benachteiligung primär der Nutzen für die Organisation beachtet wird. Kubisch bezieht sich in ihrer Arbeit auf den intersektionalen Ansatz und richtet somit den Blick auf mehrere Konstruktionsmechanismen von sozialer Differenz.
Autorin
Dr. phil. Sonja Kubisch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und nebenamtliche Dozentin an der Hochschule Luzern; sie ist tätig in Forschung, Projektentwicklung und Moderation. Praxiserfahrungen als Diplom-Sozialpädagogin und als Koordinatorin in der freien Wohlfahrtspflege motivierten die Autorin, diesen Bereich qualitativ zu erforschen. Es war beabsichtigt, die weit verbreitete Vermutung zur Disposition zu stellen, derzufolge unter Mitarbeitenden in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege „fast naturgegeben ein reflektierter und achtsamer Umgang mit sozialer Differenz anzutreffen“ (ebd.: 12) sei. Damit verfolgt Kubisch nicht nur eine praxisrelevante und auch für die Aus- und Weiterbildung von SozialpädagogInnen interessierende Fragestellung. Die Arbeit ist gerade spannend zu lesen, da sie mit anschaulichen Auszügen aus den Interviews mit Fachkräften der freien Wohlfahrtspflege einen differenzierenden Einblick in die dort anzutreffenden Alltagswelten eröffnet.
Aufbau
Die Arbeit folgt einem klassischen Aufbau:
- Kapitel eins und zwei bilden den theoretischen Rahmen, es werden Bezüge hergestellt zu ethnomethodologischen und sozialkonstruktivistischen Ansätzen und zum Paradigma der Intersektionalität.
- Kapitel drei nimmt eine methodologische Verortung innerhalb praxeologischer Forschung vor,
- Kapitel vier diskutiert aktuelle Entwicklungen in der freien Wohlfahrtspflege.
- Kapitel fünf beschreibt das methodische Vorgehen und bereitet damit die ausführliche Darstellung der Forschungsergebnisse in Kapitel sechs vor.
- Das abschließende Kapitel dient der Ergebnisdiskussion und Rückbindung der empirischen Ergebnisse an die theoretischen Konzepte.
Im Folgenden sollen die Inhalte der Kapitel zusammenfassend vorgestellt werden.
Inhalt
Im Kapitel eins werden die ethnomethodologischen Konzepte des „doing gender“, „doing difference“ und „doing gender while doing work“ vorgestellt. Die Autorin nähert sich damit der Herstellung sozialer Differenz im Kontext von Arbeit und Organisation auf der Ebene der Interaktion. Treten mit dem Konzept des „doing gender while doing work“ Herstellungsprozesse von Geschlecht in Arbeitszusammenhängen in den Vordergrund, erfahren mit dem Ansatz des „doing difference“ die Konstruktion von Geschlecht, Ethnizität und Klasse eine gleichberechtigte Beachtung. Aus mehreren Perspektiven vermittelt die Autorin Kritiken an diesem Ansatz, der zwar mehrere Mechanismen von Differenzkonstruktionen gleichzeitig beachtet und sich damit als weiterführend und mehrperspektivisch gerade im Vergleich zum Konzept des „doing gender“ beschreiben lässt. Kritisch diskutieren lässt sich jedoch, so konstatiert Kubisch, dass die Relevanz von Machtverhältnissen in Herstellungsprozessen von Differenz unbeachtet bleiben. Hier gerät die Begrenztheit eines ethnomethodologischen Vorgehens in den Blick, mit dem gesellschaftliche Strukturen und Hierarchisierungen kaum Beachtung finden und die Langfristigkeit solcher Vorgänge nicht erklärbar wird. Bereits an dieser Stelle zieht die Autorin konstruktivistische Ansätze hinzu, um Kontingenzen in Herstellungsprozessen von Differenz zu betrachten und institutionenbedingte Aspekte in den Blick zu nehmen.
Wird im ersten Kapitel ausführlich die Kategorie Geschlecht diskutiert, so ist Kapitel zwei dem Paradigma der Intersektionalität und dem Zusammenwirken verschiedener Differenzmerkmale gewidmet. An dieser Stelle werden die Kategorien „Ethnizität“ und „Klasse“ vertiefend analysiert. Kubisch konstatiert, dass konstruktivistische Zugänge gerade im Vergleich zu der Beachtung, welche die Kategorien „Geschlecht“ und „Ethnizität“ erfahren, „in Bezug auf die Kategorie Klasse im Widerspruch zu der ungleichheitssoziologischen Makroperspektive stehen“ (ebd.: 66). Die Autorin arbeitet heraus, dass es bislang in wissenschaftlichen Diskursen an Modellen mangelt, die das Zusammenwirken der Kategorien „Geschlecht“, „Ethnizität“ und „Klasse“ nachvollziehbar analysieren. Dies lässt sich insbesondere in Bezug auf die Überwindung von mikro- und makrosoziologischen Perspektiven konstatieren: Bislang liegen keine Ansätze vor, die dem Zusammenwirken der Differenzkategorien auf mikrosoziologischer Ebene von Identität und Interaktion sowie auf der Makroebene von sozialer Ungleichheit nachgehen bzw. versuchen, deren vermeintliche Dichotomie zu überwinden. Hieran anschließend stellt Kubisch die Theorie Bourdieus und Ansätze sozialer Milieus vor, mit denen in Bezug auf die Kategorie „Klasse“ Erklärungen unternommen werden, die durchaus Bezüge zwischen Mikro- und Makroebene herstellen.
Kapitel drei schließt inhaltlich an die bislang verfolgte Fragestellung nach einem methodologisch und theoretisch geeigneten Zugang für die Rekonstruktion handlungsleitender Orientierungen von Akteuren im Kontext von Organisationen an. Aus dieser Perspektive diskutiert Kubisch die sozialkonstruktivistische Theorie Berger/Luckmanns, wobei sie – vergleichbar zu ethnomethodologischen Ansätzen – konstatieren muss, dass auch hier die Relevanz gesellschaftlicher Bedingtheit weitgehend aus dem Blick gerate. Zudem erfasse Berger/Luckmann primär die Ebene kommunikativen, generalisierten Wissens; das handlungsleitende, konjunktive Wissen erfährt auf diesem Wege jedoch keine Beachtung. Die Autorin knüpft im Folgenden stringent an diese Analyse an, wenn sie mit der Habitustheorie Bourdieus und der dokumentarischen Methode in der Tradition der Wissenssoziologie Karl Mannheims zwei Ansätze vorstellt, die sich als geeignet für die Rekonstruktion konjunktiven Wissens in organisationsspezifischen Milieus erweisen. Diese Überlegungen fließen in Thesen ein, welche die Autorin unter der Fragestellung skizziert, „wie eine praxeologisch fundierte dokumentarische Organisationskulturforschung aussehen könnte, was genau ihr Gegenstand wäre und wo die rekonstruktive Forschung ansetzen könnte“ (ebd.: 92). Auch wenn diese Thesen in der Mitte der Untersuchung – und nicht an deren Ende – angeordnet sind, so lässt sich hier ein zentrales Ergebnis der Arbeit ausmachen. Die ausformulierten sechs Punkte bilden eine Basis, von der aus weitere theoretische und methodologische Überlegungen angestellt und empirische Forschung fundiert gestartet werden kann. Mit den Rekonstruktionen, die im weiteren Verlauf der Arbeit vorgestellt werden, liefert Kubisch ein erstes Beispiel, wie dokumentarische Organisationskulturforschung gestaltet werden kann.
Im Kapitel vier greift die Autorin auf vorhandene Veröffentlichungen zum Feld der freien Wohlfahrtspflege zurück, um auf wichtige Veränderungen in diesem Bereich einzugehen. Mit einer Reihe theoretischer und empirischer Studien entwirft sie ein plastisches Bild der trägerübergreifenden relevanten Rahmenbedingungen, die bedeutungsvoll für die untersuchten Organisationen sind. Nach eingehender Sichtung der Literatur stellt die Autorin fest, dass Fragen des Umgangs mit sozialer Differenz in der Wohlfahrtsverbändeforschung nicht einmal am Rande eine Rolle spielen (vgl. Kubisch 2008: 112).
Kapitel fünf bildet den
Übergang zur empirischen Bearbeitung des Forschungsthemas.
Kubisch diskutiert das Gruppendiskussionsverfahren als
geeignetes Instrument für den gewählten Gegenstand und
stellt ihr forschungspraktisches Vorgehen vor. Die Autorin
kontaktierte für die Studie vier Organisationen der freien
Wohlfahrtsverbände, vertreten sind Organisationen, die
spezialisiert sind auf die Arbeit mit geistig behinderten Menschen,
auf die Arbeit mit Frauen sowie mit Menschen mit
Migrationshintergrund. Zudem wurde ein Spitzenverband der Freien
Wohlfahrtspflege untersucht. Die Autorin beschreibt sehr
nachvollziehbar die Kontaktaufnahme zu den VertreterInnen der
Organisationen und den jeweiligen Prozess des Zustandekommens von
Gruppendiskussionen. Ausgehend von der Annahme, dass die Anwesenheit
von Organisationsmitgliedern verschiedener Hierarchieebenen eine
möglichst offene und selbstläufige Diskussion behindern
würde, führte Kubisch in jeder Organisation eine
Diskussion mit Leitungskräften und Diskussion(en) mit
Mitarbeitenden. Hervorzuheben ist, dass sich die Autorin unter
Anwendung verschiedener Erhebungsverfahren einen detaillierten Zugang
zum Feld erarbeitet: Neben einem Kurzfragebogen, der der Erhebung
sozialer Daten dient, fertigt Kubisch detaillierte
Beobachtungsprotokolle an, in denen ihre Wahrnehmung der Begegnungen
mit den Organisationsmitgliedern wiedergegeben wird. Auszüge aus
diesen Protokollen und ergänzende Beschreibungen machen die
Erhebungssituation für die Lesenden nachvollziehbar und
anschaulich. Ergänzt wird dieses Vorgehen durch drei
leitfadengestützte Einzelinterviews.
Im weiteren
Verlauf des Kapitels stellt die Autorin die wesentlichen
Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode dar, welche von der
formulierenden und der reflektierenden Interpretation zur
Typenbildung führen: „Ziel der Interpretation im Sinne der
dokumentarischen Methode ist es, […] den
Orientierungsrahmen der jeweiligen Gruppe, d. h. ihren Habitus
zu rekonstruieren“ (ebd.: 126f, Hervorhebungen im Original).
Mit der Typenbildung geht die Autorin über die Gesamtdarstellung
der einzelnen Fälle hinaus, mit der komparativen Analyse werden
„(ideal)typische[n] Modi der Herstellung der Handlungspraxis“
(ebd.: 127) herausgearbeitet. Die sinngenetische Typenbildung
beinhaltet eine differenzierte Darstellung milieuspezifischer
Orientierungen zur Herstellung sozialer Differenz, die durchaus
soziogenetische Aspekte beinhaltet, mit denen nach den sozialen
Ursachen einer Orientierung gefragt wird.
Kapitel sechs ist der
Darstellung der Rekonstruktion des empirischen Materials gewidmet.
Dieses ausführliche Kapitel bildet den Kern der Studie; die
Autorin stellt Gruppendiskussionen von fünf Gruppen aus zwei
Organisationen dar. Die Darstellung selbst ergibt sich aus dem
Material, dem methodischen Zugang und der Fragestellung. Die Gruppen
sollen mit ihren charakteristischen Orientierungen in Bezug auf den
Habitus der einzelnen Gruppe in Hinblick auf die Konstruktion
sozialer Differenz zur Geltung kommen. Hervorzuheben ist, dass in den
Rekonstruktionen jeweils verschiedene Kategorien sozialer Differenz
Beachtung erfahren und in den fallübergreifenden Vergleichen
herausgearbeitet werden.
Als zentrales Ergebnis der Arbeit
benennt Kubisch, „dass sich in der Behandlung
verschiedener sozialer Differenzen im Kontext der Diskussionen
homologe Muster in Hinblick auf die Modi der Konstruktion sozialer
Differenz zeigen“ (ebd.: 312). Die Autorin arbeitet
verschiedene Muster habitueller Konstruktionen sozialer Differenz
heraus (zusammenfassend vgl. ebd.: 312-315): So wird soziale
Differenz hergestellt im Rahmen 1. einer Leistungsorientierung, 2.
von Macht und Ohnmacht, 3. der Suche nach Kooperation, 4. der Suche
nach Harmonie sowie 5. von Konfliktvermeidung und fehlender
Konjunktion. Darüber hinaus rekonstruiert Kubisch
gruppenübergreifende Übereinstimmungen in der Orientierung.
Im fallübergreifenden Vergleich fällt auf, dass von den
Diskussionsteilnehmenden, die mit der Eingangsfrage in den Interviews
nach der Wahrnehmung von Verschiedenheiten gefragt werden, „in
der Regel eine Kategorie sozialer Differenz“ (ebd.: 327)
in den Vordergrund gestellt wird. Als weiteres zentrales Ergebnis
benennt die Autorin, dass „trotz aller Unterschiede in den
Habitusformen [ ] nirgends eine Orientierung rekonstruiert werden
konnte, der zufolge es sich bei sozialer Differenz im Kontext der
Organisation um etwas für sich genommen Positives handelte“
(ebd.: 314). Auch wenn sich Diskussionsteilnehmende vereinzelt
positiv über die Existenz von Verschiedenheiten äußern,
so ließe sich zeigen, dass es sich hierbei um Aussagen auf der
Ebene kommunikativen Wissens, jedoch nicht um Orientierungen und
damit um handlungsleitende Haltungen handele (vgl. ebd.). Vor dem
Hintergrund der weit verbreiteten Annahme, dass gerade Fachkräfte,
die in der freien Wohlfahrtspflege tätig sind, sensibel
gegenüber sozialer Differenz seien (s.o.), lässt sich das
folgende Resümee auch als eine Rückbindung an die
Gegebenheiten beschreiben: „Von einer Orientierung, wie sie
beispielsweise der Ansatz des „Managing Diversity“
vermittelt (personelle Vielfalt in der Organisation führt zu
mehr Produktivität und Kreativität), sind die
Teilnehmer/innen der untersuchten Gruppen damit weit entfernt“
(ebd.: 314f). Gerade angesichts der möglichen
desillusionierenden Wirkung dieser Ergebnisse ist hervorzuheben, dass
es der Autorin an keiner Stelle darum geht, die Interviewten mit
ihren teilweise problematischen Aussagen bloßzustellen oder zu
kritisieren. Es gelingt in beeindruckender Weise, die hinter dem
objektiven Sinngehalt der Aussagen verborgenen Strukturen im Text
herauszuarbeiten, diese sachlich darzustellen sowie an theoretische
Fachdiskurse rückzubinden. Hervorzuheben ist, dass es der
Autorin hinsichtlich der
Praxisrelevanz dieser Ergebnisse darum geht, ein Nachdenken und
Innehalten unter PraktikerInnen und unter Verantwortlichen der freien
Wohlfahrtspflege zu ermöglichen, bevor
konkrete Schulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen ungeprüft
zur Anwendung kommen (vgl. ebd.: 13). Die Ergebnisse der Studie seien
insofern auch ein Plädoyer dafür, genau hinzusehen: „erst
eine genaue Rekonstruktion der handlungsleitenden Orientierungen, d.
h. des Habitus (bzw. der verschiedenen Habitusformen) der
Organisationsmitglieder [kann] Aufschluss darüber geben [ ], wo
Maßnahmen für einen achtsamen Umgang mit sozialer
Differenz ansetzen können“ (ebd. 13f).
Im abschließenden Kapitel sieben diskutiert Kubisch die vorliegenden Rekonstruktionsergebnisse vor dem Hintergrund theoretischer und methodologischer Überlegungen. Das Kapitel teilt sich in drei Abschnitte. Im ersten Teil stellt die Autorin die rekonstruierten Habitusformen und organisationskulturellen Muster der Konstruktion sozialer Differenz zusammenfassend vor. Im zweiten Teil diskutiert sie einzelne Aspekte der Ergebnisse genauer. So wird beispielsweise erläutert, auf welche Weise sie im Verlauf der Rekonstruktionen zu einer Unterscheidung gelangte zwischen existenziellen Milieus und personenbezogener Differenzierung auf der einen sowie organisationsbezogenen Milieus und positionsbezogener Differenzierung auf der anderen Seite. Abschließend gibt Kubisch einen Ausblick hinsichtlich weiterer Bedarfe und möglicher Wege, die Organisationen der freien Wohlfahrtspflege zu erforschen.
Diskussion
Mit dieser praxeologisch orientierten Arbeit liegen Ergebnisse vor, die auf einer Ebene anzusiedeln sind, welche die Dichotomie zwischen Mikro- und Makroebene überwindet. Damit gibt die Autorin eine konstruktive Antwort auf ein Defizit, das viele Arbeiten beinhalten, die zum Thema sozialer Differenz vorliegen. Mit dem Ansatz einer dokumentarischen Organisationskulturforschung, welche die Autorin in ihrer Arbeit verfolgt und entwickelt, werden organisationskulturelle Muster habitueller Konstruktion sozialer Differenz herausgearbeitet. Die Differenz zwischen interpersonalem Handeln/ situationsbezogener Intervention und dem Wirken gesellschaftsstruktureller Rahmenbedingungen, die mit ethnomethodologischen und sozialkonstruktivistischen Ansätzen kaum überwunden wird, wird hier begegnet, indem das Wirken gesellschaftlicher Strukturen im Handeln der Akteure rekonstruiert wird. Kubisch konstatiert: „Mit der Rekonstruktion differenzübergreifender Habitusformen hat die vorliegende Arbeit ihr wesentliches Ziel erreicht“ (ebd.: 318). Darüber hinaus war es in einzelnen Bereichen möglich, herauszuarbeiten, wie sich die rekonstruierten Orientierungen zur intersektionalen Analyse verhalten. Inspiriert vom Konzept des „doing difference“ war beabsichtigt, „‘Schnittstellen‘ zwischen den verschiedenen Kategorien sozialer Differenz herauszuarbeiten“ (ebd.). In diesen Details der als äußerst komplex zu bewertenden Ergebnisse liegt ein weiterer Mehrwert dieser Studie. So ist es aus theoretischer aber auch aus praktischer Perspektive in hohem Masse interessant, wenn Kubisch herausarbeitet, dass „die Elaboration von Themen, die mit einem Migrationshintergrund in Zusammenhang stehen, offensichtlich kaum gelingt, wenn sie nicht gleichzeitig an konjunktive Erfahrungsräume der Beteiligten anschließt“ (ebd.: 320). Hinsichtlich der interkulturellen Öffnung von Organisationen kann dies bedeuten, dass die berufsbezogene, gleichberechtigte Kooperation von Menschen verschiedener kultureller Zugehörigkeiten unabdingbar wäre, um eine habituell verortete Sensibilisierung für Verschiedenheiten zu ermöglichen. Bei weiterer Betrachtung lässt sich hier die Gefahr hinsichtlich eines instrumentellen Umgangs mit denjenigen Personen erkennen, die als ‚das Andere‘ konstruiert werden und die, wie sich in den Rekonstruktion eindrucksvoll zeigt, einen Umgang finden müssen mit dem Wirken machtvoller Prozesse von Ein- und Ausschlüssen (vgl. 315ff). Kubisch konstatiert, dass gerade hinsichtlich der Frage, wie eine intersektionale Perspektive in Studien zu integrieren sei, mit denen Mikro- und Makroebene Beachtung finden sollen, „bislang viele Fragen offen“ bleiben (ebd.: 326). Jedoch gelingt es der Autorin sehr eindrucksvoll aufzuzeigen, wie gewinnbringend und innovativ solche Suchbewegungen sein können.
Fazit
Sonja Kubisch hat mit ihrer Studie „Habituelle Konstruktion sozialer Differenz“ eine Grundlage geschaffen, die Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungen bietet und einen intersektionalen Blick eröffnet für den Umgang mit sozialer Differenz in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Sie entfaltet im theoretischen und methodologischen Teil der Studie eine Fülle von Theorien, Begrifflichkeiten und Konzepten, die sie mit souveräner Leichtigkeit nachvollziehbar zu vermitteln versteht. Es gelingt, ein fundiertes, praxeologisches Vorgehen für einen bislang auf diese Weise nicht erforschten Gegenstand zu erarbeiten und nachvollziehbar vorzustellen. Das Buch ist insofern von besonderer Relevanz für die Organisationskulturforschung und es bleibt zu wünschen, dass neue Arbeiten entstehen, die den Ansatz dokumentarischer Forschung anwenden und weiterentwickeln. Nicht zuletzt können auch MitarbeiterInnen und Leitungskräfte in den Verbänden von dieser Studie profitieren, da ein Wissen über Konstruktionen sozialer Differenz nicht nur in der Arbeit mit AdressatInnen von Sozialarbeit vorteilhaft ist, sondern auch Handlungsspielräume eröffnet werden können, wenn Erkenntnisse über diesbezügliche habituelle Orientierungen einen Nachdenkensprozess anregen.
Rezension von
Dr. Heike Radvan
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