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Franz Breuer: Reflexive Grounded-Theory

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 11.08.2010

Cover Franz Breuer: Reflexive Grounded-Theory ISBN 978-3-531-16919-4

Franz Breuer: Reflexive Grounded-Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 182 Seiten. ISBN 978-3-531-16919-4. 19,90 EUR.
Reihe: Lehrbuch.

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Thema

Die Grounded Theory-Methodik ist ein bekannter Ansatz qualitativer Sozialforschung. Hauptsächlich stellt das vorliegende Buch die Schritte dar, nach denen sie verfährt. Grounded Theory wird hier aber auch neu interpretiert. Dies geschieht aus einer methodologischen Warte, die von der Subjektivität und der jeweiligen Perspektivität der Forschenden ausgeht. Damit wird Selbst-/Reflexion der Forschenden zu einem gewichtigen Teil des Forschungsprozesses. Der Autor sieht in solch reflektierter Subjektivität und Perspektivität eine „Erkenntnisquelle eigener Art“.

Autor und Mitautorinnen

Dr. Franz Breuer ist Professor an der Universität Münster und leitet dort die Arbeitseinheit Pädagogische Psychologie, Entwicklungspsychologie und qualitative Methoden.

Die Mitautorinnen, Dr. Barbara Dieris und Dipl.-Psych. Antje Lettau, berichten im Buch ihre Erfahrungen aus eigenen Grounded Theory-Projekten.

Entstehungshintergrund

Die hier vorliegende Einführung ist in Hochschulseminaren entwickelt worden, und zwar zur Anleitung von Studierenden bei eigenständigen Forschungsprojekten. Wichtig ist dem Autor Praxisorientiertheit und eine Anwendbarkeit in sozialwissenschaftlichen Fächern, auch über die Psychologie hinaus.

Aufbau

Der Band gliedert sich in eine zweiseitige Vorbemerkung und vier Kapitel. Zuerst werden „Methodologische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Ethnographie“ dargestellt. Das zweite Kapitel gilt dem „Forschungsstil der Grounded Theory“ – es umfasst (mit 76 S.) fast die Hälfte des Haupttextes. Dem Buchtitel entsprechend erörtert das dritte Kapitel die „Subjektivität, Perspektivität und Selbst-/Reflexivität“ der Forschenden. Im vierten Kapitel präsentieren die Mitautorinnen „Zwei Aneignungsgeschichten des Forschungsstils und ihre Erkenntnisresultate“.

Inhalt

Breuer grenzt sich vom vorherrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnismodell der universitären Psychologie ab. Er geht dagegen von einem „kultur- und sozialwissenschaftliche[n] Verständnis von Humanwissenschaft“ aus (S. 19). Demnach unterscheiden sich Menschen, die in ihrem Alltag beforscht werden, in anthropologischer Hinsicht keineswegs von den Forschenden: „Auf beiden Seiten handelt es sich um leibhaftige, gefühls- und vernunftbegabte, sozialhistorisch geprägte reflexive Personen-in-ihrer-Lebenswelt“ (S. 19). Forschende werden davon nicht ausgenommen. Deshalb bedeutet Forschen für Breuer prinzipiell „auch Thematisierung der eigenen (Forscher-) Person, eigener themenbezüglicher Vorstellungen und Handlungsweisen, eigener Bedeutungswelten, Werthaltungen, Emotionen, Problemlagen etc.“ (S. 21).

Die Darstellung der Grounded Theory-Methodik beinhaltet Informationen zu Hintergrund und Entwicklungsgeschichte, geht auf die nötigen sozialwissenschaftlichen Schlusslogiken ein, erläutert die besonderen Merkmale der Methodik – wie die Art der Entwicklung der Forschungsfrage, das Theoretical Sampling oder die Gewinnung theoretischer Sensibilität. Ausführlich geht es um das Kodieren als einem Bündel zentraler Verfahren der Grounded Theory, die hier im Einzelnen aufgeschlüsselt werden. Die Darstellung der Methodik reicht bis hin zum Schreiben des Forschungsberichts, wobei auch auf die verschiedenen Generalisierungsgrade empirisch generierter Theorie eingegangen wird. – In der Kontroverse zwischen den beiden Begründern der Grounded Theory, Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss, welches Vorgehen das „richtige“ sei, orientiert sich das vorliegende Buch an den späten und detaillierten forschungspraktischen Ausarbeitungen von Strauss (beziehungsweise von Strauss und Juliet Corbin).

Im Anschluss an dieses Konzept nimmt Breuer seine Akzentuierungen und Erweiterungen vor. Dabei nutzt er den weiten Datenbegriff der Grounded Theory. Breuer gelten auch „subjektive Eindrücke und das einschlägige Erleben des Forschers bzw. der Forscherin (‚Resonanzen am eigenen Körper‘)“, die in der Forschungsinteraktion ausgelöst werden, „als mögliche Informationsquellen“ (S. 52). Dazu gehören durchaus „Gefühlsreaktionen, Assoziationen u. Ä.“ (S. 60), bis hin zu Fantasien und Träumen. Sie seien zu beachten, zu dokumentieren und zu reflektieren – wobei die Reflexion zusammen mit ForschungskollegInnen wichtig sei. Das gilt auch schon für die erste gedankliche und motivationale Annäherung an ein Forschungsthema. Dadurch könnten wichtige Merkmale des Untersuchungsgegenstandes vielleicht „auf andere Weise eingehender in den Blick“ genommen werden (S. 61).

Breuer greift beim Thema Person- und Subjekthaftigkeit des Forschungshandelns weit aus: Dies reicht bis hin zum „Kontext postmoderner Wendungen in den Sozialwissenschaften“ (S. 119). Dadurch kommen auch dialogische oder kreative Formen des Schreibens in den Blick, die sich vom herkömmlichen Wissenschaftsstil unterscheiden. So lässt sich mit der Veränderung der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst experimentieren. Alles in allem verlange das „von den Forschenden eine elaborierte Selbstaufmerksamkeit, Sensibilität, Empathie, Reflexionsbereitschaft, literarisch-ästhetische Kompetenz und Kreativität“ (S. 120). Breuer sieht hierin heuristische Mittel: „Die auf diese Weise zustande kommenden Ideen und Überlegungen sind naturgemäß provisorisch und hypothetisch. Sie müssen im weiteren Forschungsprozess hinterfragt, belegt und ausgearbeitet werden.“ (S. 128)

Das letzte Kapitel haben weitgehend die Mitautorinnen Dieris und Lettau verfasst. Hier konkretisieren und veranschaulichen sie, was eine reflexive Grounded Theory-Methodik kennzeichnet. Dies geschieht an den Beispielen ihrer Diplomarbeiten und der Dissertation von Dieris. Gegenständliches Thema sind zum einen „lebensgeschichtliche Wege in der Zen-Meditation und die soziale Einbettung intensiver Meditationspraxis“ (Lettau, S. 144); zum anderen geht es um das „Altwerden in Familien“ (Dieris, S. 159).

Diskussion

Das Buch stellt alle nötigen Schritte eines Grounded Theory-Forschungsprozesses komprimiert, aber dennoch anschaulich dar. Für EinsteigerInnen, die ein eigenes Projekt durchführen möchten, dürfte die Darstellung jedoch etwas knapp sein – das sieht auch Breuer so. Er empfiehlt deshalb nachdrücklich als Lektüre Strauss und Corbins Einführungsbuch „Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung“ (Weinheim 1996). Dem ist nur zuzustimmen.

Breuer nimmt kritisch Stellung, wo er etwa Widersprüche in den Postulaten von Strauss sieht und legt eigene Lösungen dar. Auch ergänzt er zum Beispiel durch Hinweis auf weitere Literatur, wo ihm die Methodik der Grounded Theory noch zu unspezifisch erscheint. Auf diese Weise zeigt er Möglichkeiten des Anschlusses und Entwicklungspotentiale der Methodik.

Das Anregendste an der hier vorliegenden Darstellung ist aber die Betonung der Selbst-/Reflexivität der Forschenden. Breuer geht damit in Richtung einer „Autoethnographie“ – oder wie Glaser und Strauss schon einmal sehr früh geschrieben haben: einer „Feldforschung über sich selbst“. Bei Breuer gewinnt diese Perspektive aber ein viel stärkeres Gewicht. Er erhebt sie dennoch nicht zum Dogma: „Das hier skizzierte Vorgehen“ sei „nicht als der einzig seligmachende Weg zu einer guten gegenstandsgegründeten Theorie anzusehen“ (S. 111). Die Argumentation, welche die Unausweichlichkeit der Subjektivität der Forschenden zeigen soll, leuchtet jedoch ein. Das gilt auch für die Notwendigkeit der Selbstreflexion und für den Ertrag, den diese im Forschungsprozess erbringen kann.

Fazit

Das Buch erfüllt seinen Anspruch einer praxisorientierten Einführung in die Methodik der Grounded Theory. Es eignet sich für LeserInnen aus dem gesamten Spektrum der Sozialwissenschaften. Sehr gelungen ist die eigene Akzentuierung des Forschungsansatzes durch das Moment der Selbst-/Reflexivität der Forschenden. So kann das Buch zum einen alle ansprechen, die sich erstmals mit Grounded Theory beschäftigen wollen. Und es bietet zum anderen eine interessante Erweiterung denjenigen, die schon einschlägige Forschungserfahrung gesammelt haben.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website

Es gibt 53 Rezensionen von Christian Beck.

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ISSN 2190-9245