Wassilis Kassis: Wie kommt die Gewalt in die Jungen?
Rezensiert von Prof. Dr. Matthias Drilling, 13.01.2004
Wassilis Kassis: Wie kommt die Gewalt in die Jungen? Soziale und personale Faktoren der Gewaltentwicklung bei männlichen Jugendlichen im Schulkontext. Haupt Verlag (Bern Stuttgart Wien) 2003. 319 Seiten. ISBN 978-3-258-06626-4. 32,00 EUR.
Einführung
Kaum ein Thema wird heute aus derart vielen Fachrichtungen diskutiert wie das der Jugendgewalt. Dabei spaltet den Diskurs über das Gewaltverständnis, aber auch die Frage nach geeigneten Massnahmen die weitgehende Unverbundenheit von gesellschaftskritischen Positionen (die z.B. auf dem strukturellen Gewaltverständnis von Galtung oder der These der Etablierten-Aussenseiter-Dynamik nach Elias aufbauen) und eher individualpsychologischen Erklärungsmodellen, die einzig in der Veränderungsfähigkeit der Gewalttätigen eine Chance geringeren Gewaltvorkommens sehen (so z.B. das Anti-Aggressionstraining nach Weidner). Leider ist bei dieser eher multi- statt interdisziplinären Auseinandersetzung zu einem grossen Teil der Überblick verloren gegangen, es kursieren allerhand - auch widersprüchliche - Hypothesen über gewaltbeeinflussende Faktoren (z.B. den Einfluss der Familie, der Gleichaltrigengruppe oder der schulischen Leistung) und nicht selten werden Klischees unhinterfragt portiert. Es ist also durchaus nicht einfach, eine Arbeit zur Jugendgewalt zu verfassen, die sich durch Wissenschaftlichkeit auszeichnet, eine klare Fragestellung aufweist und dahingehend den Stand der Forschung darzustellen vermag. Die Arbeit von Wassilis Kassis ist diesbezüglich vorbildhaft. Sie setzt sich zum Ziel die Frage zu klären, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit männliche Jugendliche zu Opfern und Tätern psychischer Gewalt in der Schule werden und welche Prozesse in Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe damit verbunden sind (S. 14).
Autor
Wassilis Kassis ist Privatdozent für Pädagogik an der Universität Basel, bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um seine Habilitationsschrift.
Aufbau und Inhalte
Die Arbeit gliedert sich grob in vier Teile: Ein erster ausführlicher Teil stellt die verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Zugänge zum Thema Jungengewalt (auch über den schulischen Bezugsrahmen hinaus) dar. Kassis nähert sich den verschiedenen Gewaltbegriffen, skizziert den Stand der Gewaltforschung in Bezug auf die für seine spätere Modellentwicklung wichtigen Bezugssysteme Familie, Schule/Klasse, Geschlecht.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen widmet sich ein zweiter Teil der Erläuterung und theoretischen Fundierung des eingesetzten Datenerhebungs- und Datenanalyseschemas. Sehr anschaulich entwickelt Wassilis Kassis den Fragebogen, erläutert die Itembatterien und fundiert sie theoretisch, beschreibt die verwendeten Verfahren der Diskriminanz- und Clusteranalyse. Weil es dem Autor um einen multifaktoriellen Blick auf das Thema geht, steht am Ende dieses Teils die Präsentation des Strukturgleichungsmodells und die Beschreibung der Stichprobe (und damit der Aussagekraft der Ergebnisse): Befragt wurden 28 Schulklassen der 6.-9. Klasse (also im Alter zwischen 13-16 Jahren) mittels standardisiertem Fragebogen zum Thema "Gewalt in der Schule". Aus dieser Befragung wurden die Teilstichprobe der 219 Fragebögen, die von Jungen ausgefüllt wurden, berücksichtigt. Mit neun Jungen, die nach der Analyse als "Täter-Jungen" gelten, wurden Leitfadeninterviews zur Validierung der Ergebnisse geführt.
Der dritte Teil der Arbeit stellt die Ergebnisse dar: In einem ersten Schritt konstruiert Wassilis Kassis das "Persönlichkeitsprofil männlicher Täter physischer Gewalt", anschliessend das "Persönlichkeitsprofil männlicher Opfer physischer Gewalt". Die Strukturgleichungsmodelle "Täter physischer Gewalt" sowie "Opfer physischer Gewalt" lösen den Anspruch auf den multifaktoriellen Blick ein, weil dadurch ein "Wirkungsgefüge" (S. 245) zwischen Gewalt, familiäre Einbettung, Erziehungsstil, Geschlechterrollenstereotypen, Opfer- bzw. Tätererfahrung etc. ersichtlich wird. In diesem Kapitel drückt sich dann auch die hohe Innovationskraft der vorliegenden Arbeit besonders deutlich aus.
Im abschliessenden vierten Teil unterzieht Wassilis Kassis seine eigene Arbeit und die anderer Forscher/innen einer kritischen Betrachtung (er selbst spricht vom "wissenschaftlichen Irrtum, der aus dem langen Weg der Kombination von Theorie und Empirie" resultierte), bevor er noch kurz auf mögliche Massnahmen eingeht, die er unter das Thema "Abbau von Risikofaktoren" stellt und damit für eine Stärkung des Umfelds, in dem Jungen heranwachsen, plädiert.
Zielgruppe
Von der empirischen Herangehensweise und der Ausführlichkeit der Methodendarstellung scheint es sich aufzudrängen, dass sich das Buch ausschliesslich an empirisch arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler richtet. Dem ist nicht unbedingt so. Durch die Diskussion der ersten Kapitel zum Stand der Forschung finden Interessierte Hinweise auf die verschiedenen Zugänge zum Thema, und auch die Ergebnisse aus den Strukturgleichungsmodellen werden sehr verständlich dargestellt. Es ist das Interesse an der wissenschaftlichen Erörterung des Themas und die Bereitschaft, sich mit wenigen statistischen Kennzahlen auseinander zu setzen, das die Zielgruppe am ehesten zu beschreiben vermag. Nicht geeignet ist das Buch dagegen für Personen, die eine Darstellung und Diskussion von Präventions- und Interventionsmassnahmen erwarten; und auch Rezepte liefert Wassilis Kassis (löblicherweise) keine.
Einschätzung
Es ist die Stringenz, die die Veröffentlichung von Wassilis Kassis lesenswert macht. Gleich zu Beginn formuliert er seine Fragestellung und entwickelt sie konsequent bis auf die letzte Seite weiter. Dass der Autor bei einem grossen Teil der zitierten Studien auf Untersuchungen von Gewalt von Jugendlichen (und nicht von Jungen) zurückgreift, und damit seine eigene Fragestellung immer wieder aufweichen muss, ist nicht das Manko des Autors. Es zeigt, dass das Thema "Gewalt von Jungen" bisher nur unsystematisch erforscht wird.
Zudem gibt die Arbeit an vielen Stellen Anlass zum Nachdenken. So ist es z.B. diskutabel, ob eine autoritäre Erziehung wirklich weit stärker negativ auf die Gewaltbereitschaft der Heranwachsenden wirkt, als Erziehungspraktiken, die durch elterliches Engagement geprägt sind, positiv wirken (S. 89). Und es bleiben auch Fragen bei der Auswahl der Faktoren, mit denen Wassilis Kassis seine Analysemodelle entwickelt: Reichen z.B. Fragen zu den Bereichen "Beruf", "Sexualität" und "Gleichberechtigung" in einem Fragebogen aus, um über Geschlechterrollenstereotypen Aussagen zu formulieren? Andererseits ist es das Verdienst von Wassilis Kassis, solchen Fragen durch Transparenz vorzubeugen. So kann im Anhang nachgelesen werden, dass einige der Skalen erst eine junge Erprobung aufweisen, manchmal sogar erst von Wassilis Kassis selbst entwickelt wurden (so z.B. alle Items zur Einstellung zu Geschlechterrollen). Deutlicher kann man nicht auf die Forschungslücken aufmerksam machen: Da diskutiert unsere Gesellschaft eifrig über steigende Gewalt von Jungen, ihr Männlichkeitsbild oder ihre Stereotypen gegenüber Mädchen und Frauen und entwirft Interventionsstrategien, obwohl die Grundlagen empirischer Forschungen zur Verifizierung dieser Behauptungen (z.B. Items, die die Einstellung zu Geschlechterrollen messen) noch gar nicht entwickelt waren.
In dem Zusammenhang ist es schade, dass der Fragebogen, der den Schülerinnen und Schülern vorgelegt wurde, nicht im Anhang erscheint. Aus der beiliegenden Liste der eingesetzten Täter-/Opfer-Indikatoren lässt sich dagegen erahnen, welch ambitiöses Unterfangen sich Wassilis Kassis vorgenommen hat. Gleichzeitig könnte dies den Kritiker/innen der Ergebnisse ausreichend Material liefern, um die Ergebnisse grundsätzlich in Frage zu stellen. So werden 34 Indikatoren dargestellt, die jeweils bis zu 5 Items umfassen. Das könnte zu einem Fragebogen führen, der rasch ein Duzend Seiten umfasst. Damit stellt sich die Frage, ob ein 13-Jähriger Schüler in der Lage ist, sich während 45 Minuten derart zu konzentrieren, dass er systematisch und wahrheitsgemäss die nuancierten Fragen durcharbeitet oder ob nach wenigen Seiten nicht die Lust am Ausfüllen fehlt, das Nicht-Verstehen der Unterschiede in den Fragen zu unbeabsichtigten Antworten führt. Dann wäre ein gewichtiger Teil der Fragen wohl "falsch" ausgefüllt und die weiteren Ableitungen trügen zu einem weiteren "wissenschaftlichen Irrtum" (S. 245) bei. Aber damit verdeutlicht der Autor nur nochmals den weiten Weg, den auch die empirische Sozialforschung noch vor sich hat, wenn sie der Beschreibung und Erklärung von Realitäten nahe kommen will.
Fazit
Wer heute über Gewalt von Jungen doziert, referiert oder publiziert sollte das Buch kennen und insbesondere die Ergebnisse der Strukturgleichungsmodelle gelesen haben. Wassilis Kassis gehört zu denjenigen Forschenden, die ihre Ergebnisse transparent und nachvollziehbar darstellen. Damit trägt er zu einem unvoreingenommenen Dialog über das Thema bei.
Rezension von
Prof. Dr. Matthias Drilling
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Institutsleiter, Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
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Es gibt 2 Rezensionen von Matthias Drilling.
Zitiervorschlag
Matthias Drilling. Rezension vom 13.01.2004 zu:
Wassilis Kassis: Wie kommt die Gewalt in die Jungen? Soziale und personale Faktoren der Gewaltentwicklung bei männlichen Jugendlichen im Schulkontext. Haupt Verlag
(Bern Stuttgart Wien) 2003.
ISBN 978-3-258-06626-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/973.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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