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Rüdiger Preißer: Kompetenzen von benachteiligten Jugendlichen [..]

Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Enggruber, 20.08.2010

Rüdiger Preißer: Kompetenzen von benachteiligten Jugendlichen feststellen und fördern. Forschungsergebnisse und Handreichung für die sozialpädagogische Praxis. IN VIA Verlag (Paderborn) 2009. 164 Seiten. ISBN 978-3-9812641-1-1. D: 19,80 EUR, A: 19,80 EUR, CH: 29,90 sFr.
Reihe: Praxisforschung in Bildung und sozialer Arbeit.

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Thema

Seit Ende der 90ger Jahre gilt der so genannte „Kompetenzansatz“ als ein zentrales pädagogisches Prinzip in der Jugendberufshilfe bzw. in der beruflichen Bildung individuell, sozial- oder marktbenachteiligter Jugendlicher und junger Erwachsener. Unter dem programmatischen Titel „Defizite beschreiben – Potentiale erkennen – an den Kompetenzen ansetzen“ skizzierte Uschi Bylinski 1996 die (sozial)pädagogische Notwendigkeit, die Kompetenzen der Jugendlichen zu ermitteln, um daran im Rahmen individueller Förderplanung gezielt ansetzen und diese stärken zu können. Seitdem wurde in Modellversuchen und der Praxis der sozialpädagogisch orientierten Berufsbildung eine Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzfeststellungsverfahren mit entsprechenden Qualitätsstandards entwickelt. Sie alle sind Kombinationen aus Tests, Arbeitsproben, handlungs- und simulationsorientierten sowie biografieorientierten Verfahren, so wie sie in der Regel im Rahmen von Assessment Centern durchgeführt werden. Die mit den diversen Diagnoseverfahren erzielten Ergebnisse zu den einzelnen Jugendlichen sind in der Regel ausgesprochen vielfältig und umfangreich und umfassen Fach-, Methoden-, Sozial- und Subjektkompetenzen ebenso wie Fähigkeiten und Kenntnisse in Deutsch und Mathematik sowie psychologische Angaben zur Person. Außerdem werden oftmals die Selbsteinschätzungen der jungen Menschen mit einbezogen. Diese werden verständigungsorientiert mit den vorliegenden Daten abgestimmt. Alle diese differenzierten Daten sollen in die individuelle Förderplanung einfließen, was kaum gelingt, wie aktuelle Forschungsergebnisse zeigen.

Während mithin in der Förderpraxis der sozialpädagogisch orientierten Berufsbildung zahlreiche Kompetenzfeststellungsverfahren inzwischen entwickelt wurden und eingesetzt werden, werden sie in den Fachdiskursen Sozialer Arbeit durchaus kritisch diskutiert. Denn es stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit sie den Prinzipien professioneller Sozialer Arbeit entsprechen. Schließlich steht nicht das Subjekt mit seinem Eigensinn und seinen individuellen Deutungen und Problemen im Zentrum des diagnostischen Interesses, sondern seine vorab definierten, auf Skalen festgehaltenen Verhaltensweisen und Kompetenzen, so wie sie sich auf einer statistisch ermittelten Normalverteilungskurve nach objektivierten Maßstäben darstellen. Ungeachtet dieser grundsätzlichen Bedenken sind 2004 Vorgaben zur Kompetenzfeststellung in den Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Eignungsanalyse aufgenommen worden.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich die Publikation von Rüdiger Preißer, weil er prägnant die bildungspolitischen, theoretischen und empirischen Grundlagen von Kompetenzfeststellungsverfahren generell sowie in der beruflichen Bildung für benachteiligte Jugendliche speziell bearbeitet, kontrovers aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen diskutiert und insgesamt acht in der Praxis verbreitete Ansätze miteinander vergleicht, systematisch in einer Tabelle gegenüber stellt und schließlich zu grundlegend neuen Bewertungen und Gestaltungsvorschlägen kommt.

Autor

Rüdiger Preißer arbeitet freiberuflich als Sozialwissenschaftler, Berater und Trainer in den Bereichen Bildungs- und Evaluationsforschung sowie Qualitätsentwicklung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kompetenzerfassung, Kompetenzentwicklung, wissenschaftliche Begleitung und Evaluation von Bildungsprozessen.

Entstehungshintergrund

Die Publikation fasst die Forschungsergebnisse zusammen, die im Rahmen einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten und von der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle des Meinwerk-Instituts durchgeführten Untersuchung erzielt wurden. In der Untersuchung wurde die übergeordnete Frage verfolgt, „ob und in welcher Weise die Kompetenzen von Jugendlichen in Maßnahmen der beruflichen Integrationsförderung erfasst werden“ (S. 7).

Aufbau

Insgesamt gliedert sich die gut strukturierte Publikation in sechs Kapitel zuzüglich einer Einleitung, im Einzelnen:

„Einführung“

In seiner Einleitung führt Rüdiger Preißer in das Forschungsthema und den Untersuchungsrahmen ein und gibt einen kurzen Überblick zum Aufbau der Veröffentlichung.

1. „Kompetenz – ein Begriff hat Konjunktur“

In diesem 1. Kapitel fasst Rüdiger Preißer prägnant die aktuellen bildungspolitischen Hintergründe zur Kompetenzdebatte zusammen. Dabei geht er auf die Bedeutung von Kompetenzen in Bezug zu den europäischen Forderungen nach lebenslangem Lernen ebenso ein wie auf die Diskussionen zur evidenzbasierten Bildungspolitik und die gegenwärtig lebendigen Entwicklungen zu Large Scale Assessments, die ebenso wie die internationalen Bildungsstudien PISA oder IGLU vergleichbare Untersuchungen in der Berufsbildung ermöglichen sollen.

2. „Theoretische und konzeptionelle Grundlagen von Kompetenz“

Im 2. Kapitel ist es Rüdiger Preißer meines Erachtens hervorragend gelungen, nochmals komprimiert die zentralen sozialwissenschaftlichen und berufspädagogischen Wurzeln der Kompetenzdebatte und Kompetenzdiagnostik zu skizzieren.

3. „Aktueller Forschungsstand zum Kompetenzbegriff“

Nachdem Rüdiger Preißer im 1. Kapitel die bildungspolitischen Hintergründe und im 2. Kapitel die sozialwissenschaftlichen und berufspädagogischen Bezüge der Kompetenzdiagnostik in der Berufsbildung generell zusammengefasst hat, widmet er sich im 3. Kapitel den aktuellen Forschungsergebnissen zum Kompetenzbegriff, der überaus kontrovers diskutiert und unterschiedlich gefasst wird. Um die bunte Vielzahl verschiedener Auffassungen und Begriffsverständnisse systematisch analysieren und aufeinander beziehen zu können, hat Rüdiger Preißer „gemeinsame Definitionsmerkmale unterschiedlicher Kompetenzkonzepte“ (S. 42) herausgearbeitet.

4. „Die Erfassung von Kompetenzen in der Jugendsozialarbeit – Zwischen wissenschaftlicher Güte und Handhabbarkeit“

Nachdem sich Rüdiger Preißer in den ersten drei Kapiteln mit übergeordneten Fragen der Kompetenzdiagnostik in der Berufsbildung beschäftigt hat, kommt er in seinem 4. Kapitel zur Jugendsozialarbeit bzw. Jugendberufshilfe. Hier skizziert er die beeindruckende Entwicklung, die die Kompetenzdiagnostik und die dazu inzwischen zahlreich vorhandenen Verfahren in der beruflichen Bildung für benachteiligte Jugendliche genommen hat. Vor allem interessiert ihn dabei, inwieweit es in den einzelnen Ansätzen gelingt, einerseits wissenschaftlichen Gütekriterien der empirischen Sozialforschung gerecht zu werden und dabei andererseits auch noch so praktikabel zu sein, dass sie an verschiedenen Lernorten eingesetzt werden können und dennoch zu vergleichbaren Ergebnissen führen. Dieses Kapitel endet mit der Zusammenstellung von „Kriterien zur Bewertung von Verfahren zur Erfassung von Kompetenzen in der Jugendsozialarbeit“ (S. 65).

5. „Synoptischer Überblick über Verfahren zur Kompetenzerfassung in der Jugendsozialarbeit“

Mit Bezügen zu den abschließend zum 4. Kapitel entwickelten Kriterien stellt Rüdiger Preißer acht Kompetenzfeststellungsverfahren, die in der Berufsbildung benachteiligter Jugendlicher gängig und weit verbreitet sind, in tabellarischer Form vor und vergleicht sie miteinander: (1) MELBA / IDA, (2) HAMET 2, (3) START, (4) Profil-AC, (5) TASTE, (6) P.E.A.Ce, (7) EXPLORIX, (8) DIA-TRAIN – DIA GNOSE UND TRAIN ING.

6. „Bewertung von und Anforderungen an Kompetenzfeststellung in Qualifizierungsmaßnahmen der Jugendsozialarbeit“

In diesem abschließenden 6. Kapitel führt Rüdiger Preißer seine zentralen Forschungsergebnisse zusammen und kommt in dieser Gesamtschau zu interessanten und weitreichenden Konsequenzen. Obwohl es mich reizen würde, einige davon hier aufzuführen, möchte ich darauf verzichten, um das Interesse der LeserInnen noch mehr zu wecken. Hier soll deshalb das Fazit genügen, das Rüdiger Preißer zieht. Er plädiert dafür, die Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Integrationsförderung grundlegend neu zu denken und zu konzipieren. Anstatt vor allem aus bildungs- und sozialpolitischer Sicht diagnostische, gar messtheoretische Anforderungen an sie zu stellen, sollten die zahlreich entwickelten Verfahren als Methoden zur Förderung metakognitiver Kompetenzen, wie Lern- und Selbstregulationsfähigkeit, eingesetzt werden (S. 136). In seinem Verständnis durchlaufen die jungen Menschen die Kompetenzfeststellung dann nicht mehr zu Beginn einer Maßnahme, sondern prozessbegleitend, so dass ihre Lernprozesse für sie selbstreflexiv gestaltet werden können. Eine so als Förder- bzw. Lernmethode und nicht mehr als Diagnostik verstandene Kompetenzfeststellung in der beruflichen Integrationsförderung könnte mit Rüdiger Preißer (S. 48) an ein langes in Deutschland gehegtes Kompetenzverständnis anknüpfen, so wie es bereits 1974 vom Deutschen Bildungsrat formuliert wurde. Das Ziel von Bildungsprozessen sollte sein, „dass der Lernende sich seiner selbst als eines verantwortlich Handelnden bewusst wird, dass er seinen Lebensplan im mitmenschlichen Zusammenleben selbstständig fassen und seinen Ort in Familie, Gesellschaft und Staat richtig zu finden und zu bestimmen vermag“ (Deutscher Bildungsrat, zit. S. 48).

Diskussion

Dass ich von der Publikation begeistert bin und dafür auch gute Gründe habe, mag in meiner Vorstellung zu „Aufbau“ und „Inhalt“ deutlich geworden sein. Deshalb möchte ich mich hier kurz fassen und darauf verweisen, dass für mich dieser Band, obwohl er nur insgesamt 164 Seiten (mit Literaturverzeichnis) hat, den Status eines „Grundlagenwerks“ zur Kompetenzdiagnostik in der Berufsbildung benachteiligter Jugendlicher hat. Denn meines Erachtens gelingt es Rüdiger Preißer in Gänze, kurz, prägnant und gut verständlich die zentralen bildungspolitischen, sozialwissenschaftlichen und berufspädagogischen Grundlagen von Kompetenzfeststellungsverfahren in der Berufsbildung generell sowie in der beruflichen Integrationsförderung für benachteiligte Jugendliche speziell zusammenzustellen, kontrovers aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu diskutieren. Ferner vergleicht er insgesamt acht in der Praxis verbreitete Ansätze miteinander, indem er sie systematisch in einer Tabelle gegenüber stellt, nachdem er zuvor entsprechende Vergleichs- und Bewertungskriterien erarbeitet hat. Schließlich kommt er aufgrund seiner spannenden Forschungsergebnisse zu grundlegend neuen Bewertungen und Gestaltungsvorschlägen. Ebenso beachtlich finde ich das von ihm entwickelte Kategoriensystem, um den inzwischen vorhandenen Wildwuchs verschiedener Kompetenzbegriffe und –konzepte zu ordnen. Dieser Vergleichs- und Bezugsrahmen lohnt es aus meiner Sicht, in weiteren Untersuchungen weiter verfolgt zu werden.

Fazit

Da mich dieser Band aus den genannten Gründen sehr anspricht, möchte ich ihn dringend allen Menschen empfehlen, die in den verschiedenen Bereichen von Wissenschaft, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Jugend- und Sozialpolitik sowie Sozialverwaltung mit Fragen der Kompetenzdiagnostik in der Berufsbildung generell und für benachteiligte Jugendliche speziell befasst sind. Außerdem denke ich bei der Zielgruppe dieser Publikation an Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sowie der Sozialpädagogik bzw. Sozialen Arbeit, denn sie werden dort - neben spannenden Reflexionen und Untersuchungsergebnissen – auch zahlreiche Anregungen zu eigenen Forschungsarbeiten zur Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Integrationsförderung für benachteiligte Jugendliche finden.

Rezension von
Prof. Dr. Ruth Enggruber
Hochschule Düsseldorf, FB Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 62 Rezensionen von Ruth Enggruber.

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ISSN 2190-9245