Anton Došen, William I. Gardner et al.: Praxisleitlinien und Prinzipien (geistige Behinderung)
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Theunissen, 27.07.2010

Anton Došen, William I. Gardner, Dorothy M. Griffiths, Robert Kind, Andre Lapointe: Praxisleitlinien und Prinzipien. Assessment, Diagnostik, Behandlung und Unterstützung für Menschen mit geistiger Behinderung und Problemverhalten.
Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung DGSGB
(Berlin) 2010.
78 Seiten.
ISBN 978-3-938931-22-6.
Materialien der DGSGB, Band 21.
Thema
Von Medizinern für Mediziner ist soeben eine von der European Association for Mental Health in Intellectual Disability (EAMHID) erarbeite Version über Behandlungsleitlinien für Menschen mit geistiger Behinderung und Problemverhalten erschienen, die ursprünglich in den USA durch die National Association for Dually Diagnosed (NADD) publiziert wurden.
Erinnern wir uns: Jahrzehntelang wurden vonseiten der Psychiatrie Verhaltensauffälligkeiten, problematische Verhaltensweisen und psychische Störungen von Menschen mit geistiger Behinderung als „wesensbedingt“ betrachtet. Mit der „sozialen Wende“ in der Behindertenhilfe zu Beginn der 1980er Jahre setzte sich dann allmählich die Auffassung durch, dass geistig behinderte Menschen zusätzlich zu ihrer Behinderung Verhaltensprobleme oder psychische Störungen entwickeln können. Allerdings wurde bis vor kurzem der Auffassung kaum widersprochen, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung als Hinweis auf einen krankhaften Prozess zu interpretieren seien: ”Viele Verhaltensstörungen haben eine organische Grundlage … Es gibt immer mehr Anhaltspunkte dafür, dass auffälliges Verhalten in vielen Fällen auf eine zugrunde liegende psychische Krankheit zurückzuführen ist” (K. A. Day: Psychische Störungen und geistige Behinderung, in: Gaedt, Ch. u. a.: Psychisch krank und geistig behindert, Dortmund 1993, 79f.).
Inhalt
Vor diesem Hintergrund ist es ohne Zweifel ein Fortschritt, wenn jetzt mit den Praxisleitlinien eine Handreichung für Mediziner vorliegt, die sich von derlei Vorstellungen verabschiedet hat, indem sie
- Verhaltensprobleme nicht ausschließlich als eine Angelegenheit der betreffenden Person, sondern „als Ergebnis einer ungünstigen Wechselwirkung zwischen Person (mit ihrem biologischen und psychologischen Substrat) und ihrer physischen und sozialen Umwelt“ (ebd., 14) auslegt,
- einen umfassenden, entwicklungsbezogenen und bio-psycho-sozialen Zugang zu Verhaltensproblemen aufsucht (ebd., 15),
- von einer Vielzahl ursächlicher Faktoren in Bezug auf ein Problemverhalten ausgeht wie zum Beispiel altersuntypisches Entwicklungsniveau, körperliche Krankheiten oder Gesundheitsstörungen, biologisch und genetisch bedingte Störungsbilder, Dysfunktionen des Zentralnervensystems, inadäquate Umweltbedingungen und Erziehungspraktiken, fehlende protektive Faktoren durch schädliche frühe Sozialisationsbedingungen, Stress und unzureichendes Bewältigungsverhalten
- Behandlungs- und Unterstützungsmaßnahmen vorsieht, die in erster Linie dort, wo die Person wohnt, lebt oder arbeitet, erreichbar sein sollten (16, 60f.) und
- Wert darauf legt, dass „Eingriffe, Restriktionen und Störungen des täglichen Lebens der Person auf ein Minimum“ (61) beschränkt werden. Damit soll möglichst eine Unterbringung in psychiatrischen (Spezial-)Einrichtungen vermieden werden, wenngleich es manchmal notwendig sein kann, „die Person aus der Wohnumgebung herauszunehmen“ (61) und „in neuen, entlastenden Umgebungen oder in spezialisierten Settings“ (ebd.) Unterstützung anzubieten.
Dieser für Mediziner bestimmte Praxisleitfaden steht ohne Zweifel für ein fortschrittliches Denken im Lager der Psychiatrie, die sich hier Erkenntnissen angeschlossen hat, wie sie schon seit geraumer Zeit für die heil- oder sonderpädagogische Arbeit mit Menschen, denen neben einer geistigen Behinderung zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten nachgesagt werden, zugrunde gelegt werden. Allerdings wird durch den Titel der Handreichung und eine inhaltliche Grenzverwischung von Problemverhalten und psychischen Störungen der Eindruck erzeugt, dass Verhaltensauffälligkeiten (z. B. verbal-aggressives, oppositionelles, forderndes, sich herumtreibendes, störendes Verhalten) „behandlungsbedürftig“ seien. An der Stelle sind die in den USA durch die NADD publizierten Practice Guidlines for Diagnostic, Treatment and Related Services for Persons with Developmental Disabilities and Serious Behavioral Problems (Gardner, W. I. et al. 2006, Kingston, NADD Press) genauer, indem sie nur von schwerwiegenden Verhaltensproblemen (serious behavioral problems) sprechen. Diese Differenzierung ist wichtig, weil zahlreiche US-amerikanische Forschungsstudien die Wirksamkeit pädagogisch-therapeutisch dimensionierter, verhaltensorientierter Konzepte und Interventionen bei Problemverhalten nachgewiesen haben. Das gilt vor allem für die Positive Verhaltensunterstützung (positive behavior supports), die inzwischen als ein evidenzbasiertes Konzept hohe Wertschätzung erfährt (hierzu: Theunissen, Georg; Paetz, Henriette: Autismus. Neues Denken – Empowerment – Best Practice, Stuttgart 2010). In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Problemverhalten, wie es von der EAMHID ausgelegt wird, dem hiesigen fachwissenschaftlich erarbeiteten Verständnis von Verhaltenauffälligkeiten, herausforderndem Verhalten oder Verhaltensstörungen weithin entspricht. Ebenso werden in den USA von führenden Fachwissenschaftlern Begriffe wie Problemverhalten (problem behaviors oder behavior problems) und herausforderndes Verhalten (challenging behaviors) synonym benutzt und von Gesundheitsstörungen bzw. psychischen Störungen (mental health problems) unterschieden. Dies korrespondiert mit der Erkenntnis, dass im Falle eines Problemverhaltens Konzepte wie die Positive Verhaltensunterstützung, im Falle von psychischen Störungen interdisziplinäre Kooperationsformen und ein Breitbandkonzept angezeigt sind.
Fazit
Trotz der genannten Einwände stellt der Praxisleitfaden eine richtungsweisende Orientierungshilfe für Mediziner dar, die auf jeden Fall zum Verständnis von Gesundheitsstörungen und zum Umgang mit psychischen Störungen beiträgt. Für pädagogische oder psychologische Fachkräfte enthält er hingegen nichts Neues. So bietet er ihnen kaum Anregungen für die Praxis, da er weder ein funktionales Assessment und eine verstehende Problemsicht fokussiert, noch konkrete Arbeitsschritte für Unterstützungsmaßnahmen und pädagogisch-therapeutische Interventionen berücksichtigt. Weithin übergangen werden übrigens auch psychotherapeutische Handlungsmöglichkeiten, was angesichts positiver Erfahrungen in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen überrascht.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Theunissen
Prof. em. Dr., Diplom-Pädagoge, Heil- und Sonderpädagoge, acht Jahre leitend tätig in einer großen Behinderteneinrichtung, seit 1989 Professor für Heilpädagogik, 25 Jahre tätig an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät III Erziehungswissenschaften, 1994 – 2019 Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und 2012 – 2019 für Pädagogik bei Autismus, damit Gründer des 1. Lehrstuhls für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum. Autor von gut 70 Fachbüchern (Monografien, Handbücher, Herausgerberschriften, Neuauflagen) und über 600 Fachbeiträgen in Fachzeitschriften und Büchern. Anfragen für Praxisberatung, Fort- und Weiterbildungen in Bezug auf Autismus und herausforderndes Verhalten (Positive Verhaltensunterstützung):
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