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Brita Schirmer: Schulratgeber Autismus-Spektrum-Störungen

Rezensiert von Monika Pietsch, 30.12.2010

Cover Brita Schirmer: Schulratgeber Autismus-Spektrum-Störungen ISBN 978-3-497-02132-1

Brita Schirmer: Schulratgeber Autismus-Spektrum-Störungen. Ein Leitfaden für Lehrer-Innen ; mit 1 Tabelle. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2010. 172 Seiten. ISBN 978-3-497-02132-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 34,50 sFr.

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Thema

Die Vielschichtigkeit und Bandbreite der Autismus Störungen werden in diesem Buch erörtert und konkrete methodische Hilfen für Lehrerinnen gegeben.

Autorin

Dr. Brita Schirmer ist Lehrerin an Sonderschulen in Berlin. Sie arbeitet seit ca. 20 Jahren schwerpunktmäßig mit SchülerInnen mit Autismus- Spektrum- Störungen, hat verschiedene Bücher zum Thema geschrieben, wirkt bei Kongressen mit und ist Herausgeberin der Schriftenreihe "Autismus. Studien, Materialien und Quellen".

Entstehungshintergrund

In ca. jeder 4. Klasse taucht ein Kind mit Autismus- Spektrum- Störungen (ASS) auf. Lehrer und Pädagogen haben in der Regel zu wenig Informationen über diese Besonderheiten und wenig Methoden und Techniken zur Unterrichtung und Förderung von Schülern mit diesen Störungen. Dieses Praxisbuch beschreibt die theoretischen Überlegungen und zeigt Beispiele jahrelanger praktischer Arbeit.

Aufbau

Das Buch umfasst sechs Kapitel.

1. Was ist Autismus?

Das Asperger- Syndrom, der Atypischen und der Frühkindlichen Autismus in den verschiedenen Schweregraden stellen eine gemeinsame Beeinträchtigung dar. Diese bilden die Autismus- Spektrum- Störung (ASS). Allen gemein ist, dass es sich um tiefgreifende genetische Entwicklungsstörungen handelt. Der Grad der Beeinträchtigung reicht von schwersten Behinderungen mit hohem Pflegebedarf bis hin zur Grenze zur Normalität. Störungen aus dem autistischen Spektrum führen dabei immer zu Auffälligkeiten in drei Bereichen:

  • der Kommunikationsfähigkeit, z.B. ausbleiben von verbaler Sprachentwicklung, Echologie, kein Verständnis von Gestik
  • dem Sozial- und Kontaktverhalten, z.B. Unfähigkeit auf den eigenen Namen zu reagieren, Probleme Freundschaften aufzubauen und zu pflegen, ungeeignete Arten Kontakt aufzunehmen
  • dem eingeschränkten Spektrum an Handlungen und Interessen, z.B. Spezialinteressen, Stereotypien

Eine Kombination der verschiedenen Symptome ist wahrscheinlich.

2. Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern mit ASS

Schirmer stellt die anzuwendenden gesetzlichen Grundlagen für Deutschland, Österreich und die Schweiz dar.

3. Autismusspezifischer Förderbedarf

Alle Förderbedarfe sind in einer Tabelle zusammengefasst und mögliche Maßnahmen aufgelistet. Gleichzeitig wird auf die folgenden Unterkapitel verwiesen:

Förderbedarf im Bereich Kommunikation: Drei auffällige Bereiche in der Sprachentwicklung werden unterschieden:

  1. Etwa die Hälfte der Menschen mit frühkindlichem Autismus entwickeln keine differenzierte Sprache.
  2. Es fällt Menschen mit ASS schwer, Körpersprache zu verstehen und selbst anzuwenden.
  3. Häufig kommt das Echolalieren (entweder sofort oder später wiederholen des Gehörten), das „Wörtlich- Verstehen“ und Probleme mit Ironie vor, auch ungewöhnliche oder fehlende Betonung, falsche Personalpronomen und Schwierigkeiten im Verständnis von ungenauen Zeit- Ort- Häufigkeitsangaben (z.B. bald, später, ein wenig).

Methodisch kann dem begegnet werden durch genauere Formulierungen und angewandte Hilfsmittel für ein Kommunikationstraining. Schirmer stellt diese vor und plädiert gleichzeitig für eine Einbeziehung der Mitschüler.

Förderbedarf im Bereich des Sozialverhaltens. ASS Menschen fällt es schwer die Perspektive Anderer einzunehmen und einzuschätzen. Schirmer beschreibt in diesem Zusammenhang das Theory of Mind (TOM). Diese Theorie umfasst: wie und wann Denkprozesse, Erkennen, Verstehen und Erklären von fremdem und eigenem Verhalten und dessen Vorherzusage erlernt wird. Es ist umstritten, ob TOM bei ASS- Kindern eingeschränkt ist, doch hilft das daraus resultierende Konzept bei mangelhaft entwickelter TOM ASS besser zu verstehen. Für ASS Kinder stellt Schirmer ein Trainingsprogramm vor, das so viel Unterstützung bietet, damit ein sicherer Erfolg möglich ist.

Der eingeschränkte Handlungs- und Interessenbereich. Die Motivation von ASS Schülern ist schwierig, da die üblichen Methoden wie Lob, Lächeln, Ermuntern und Tadeln nicht verstanden werden. Schirmer stellt das von ihr als „Gummibärchen -Methode“ bezeichnete Konditionieren dar. Für den Umgang mit Spezialinteressen, Stereotypen und Overload (überladen des Gehirns, das zu einer Pause oder Stereotype, wie dem Wackeln mit dem Oberkörper, zwingt) schlägt sie vereinbarte Regeln vor.

Besonderheiten beim schulischen Lernen. Die Probleme im Nachahmen entstehen vermutlich wegen fehlender Spiegelneuronen. Auch kommt es zu einer Filterschwäche: wichtigen Geräusche, z.B. die Stimme des Lehrers, können aus einer Klasse nicht herausgehört werden. Eine mögliche Unterstützung bieten schriftliche Anweisungen und übersichtliche Strukturen z.B. Tafelbilder und Arbeitsblätter. Doch sie warnt vor emotionalen Illustrationen (z.B. eine Blume). Diese können das ASS Kind verwirren und überfordern.

Das ausgewogene Leistungsprofil. Das Leistungsprofil ist bei ASS Schülern oft sehr unausgewogen. Für eine gute Unterstützung ist es sinnvoll eine frühkindliche Diagnostik anzuwenden, um die Leistungsstärken für verschiedene Bereiche auszuloten. Dabei werden 2 Diagnoseprogramme unterschieden für Kinder bis 12 Jahre und ab 13 Jahre. Aus dem Test lassen sich Übungen für den Alltag ableiten.

Abläufe und Aufgaben organisieren. Für ASS Schüler bestehen Schwierigkeit sich zu organisieren, Zeitstrukturen aufzubauen, Prioritäten zu setzen. Auch werden einfache Handlungen als komplex erlebt und müssen zur Ausführung in kleine Schritte geteilt werden z.B. die Begrüßung per Handschlag, Handheben, Augenkontakt, Guten Tag sagen etc. Schirmer stellt für verschiedenen Altersklassen Methoden zum Erlernen vor, die allein bewältigt werden können.

Die beeinträchtigte räumliche Orientierung. Beeinträchtigungen auf 3 Ebenen sind möglich: 1. Orientierung im Haus, 2. im Raum, 3. am Platz. Dabei sind 2 wichtige Grundsätze zu beachten: eine Reizreduktion zur Entlastung des Schülers und Hinweisreize, zum Erlernen von Aufgaben.

Beeinträchtigte zeitliche Orientierung. Das Zeitverständnis ist beeinträchtigt, ungenaue Zeitangaben werden nicht verstanden, Leerzeiten können nicht gefüllt werden. Schirmer beschriebt Unterstützung z.B. mit Zeitplänen auch in Bildsprache.

Motorische Ungeschicklichkeit. Durch das beeinträchtigte Körpergefühl, der Geruchs- und Geräuschempfindlichkeit sind motorische Tätigkeiten nur eingeschränkt möglich. Schirmer empfiehlt ASS Schüler eher vom Sportunterricht zu befreien und ihnen Massagen oder Individualsportarten zu bieten (z.B. Radfahren).

Übergänge und unerwartete Ereignisse meistern. Bei ASS Schülern werden häufig alle Informationen behalten und keine Nervenverbindungen aufgelöst. Um eine Flexibilisierung zu erreichen sollte nach Schirmer der Schüler mit einer eigenen Routine an Veränderungen herangeführt werden. Methoden zur Umsetzung werden gegeben.

4. Allgemeine Grundsätze der pädagogischen Arbeit

Schirmer postuliert, dass die Unterstützung von ASS Schülern Mut, Durchsetzung und Ideenreichtum von Seiten der Lehrer benötigt. Gleichzeitig gehören Einzelfallhilfe, interdisziplinäre Zusammenarbeit, strukturierte Lernangebote und mehr Zeit dazu.

5. Die „richtige“ Schule

Schirmer beschreibt strukturelle Anforderungen und pädagogische Vorgehensweisen, die eine Inklusion und Integration von ASS Schülern erfolgreich gestalten.

Besondere Probleme im pädagogischen Alltag. Bei etwa der Hälfte der ASS Schüler treten Aggressionen auf. Schirmer unterscheidet instrumentell- aggressives, affektiv- aggressives, impulsiv- aggressives und automatisiert- aggressives Verhalten. Sie gibt Hinweise über die Gründe und Hilfen zur Bewältigung. Gleichzeitig schlägt sie Supervision, Selbstreflexion und Notfallmaßnahmen wie Selbstverteidigung der Lehrenden vor. In der Elternarbeit würdigt sie deren besondere Bedürfnisse und Kenntnisse und gibt methodische Hinweise zur Zusammenarbeit. Abschließend werden die besonderen Probleme in der Pubertät erläutert: Belohnungssystem, Einfühlungsvermögen, Hormonschwankungen Körperhygiene, Freundeskreis und psychische Erkrankungen

6. Perspektiven nach der Schule

Die Felder Arbeit, Wohnen, Gesundheit und Soziale Beziehungen werden kurz erläutert. Dabei bleibt das Fazit, dass Menschen mit ASS dauerhaft Unterstützung in allen Bereichen brauchen.

Ein Literaturverzeichnis und ein Sachregister schließen das Buch ab.

Diskussion

Dieses Buch schafft es einfach und gut strukturiert in die Thematik des ASS einzuführen und den Blick auf die Chancen der Betroffenen zu lenken. Die Störungen werden differenziert benannt und ihre graduellen Unterschiede verdeutlicht. Es sind grundlegende Informationen und weiterführende Studien zu finden. Die Adressaten des Buches sind Lehrer. Sie bekommen einfache Hilfen (z.B. Aufgaben verschriftlichen) und komplexe Methoden aufgezeigt (Gewöhnung an Veränderung). Dabei geht Schirmer von den alltäglichen Problemen der Schule aus: Ordnung, Orientierung, Aufgabenverständnis, Sozialkontakte, Regeln, Konsequenzen. Die Zitate von Betroffenen beleben das Buch und zeigen Authentizität. Sehr deutlich wird unter anderem das Dilemma zwischen der Außen- und Innenwelt der Betroffenen, da sie sehr offen über ihre Gedanken und Empfindungen berichten. Der größte Anteil des Buches widmet sich den pädagogischen Methoden. Schirmer bleibt dabei praktisch und anschaulich durch Bilder und Fotos, die das beschriebene illustrieren. Darüber hinaus spricht sie Supervision und Teamarbeit in den Schulen an.

Fazit

Zu allen Auffälligkeiten, die Schüler heute aufweisen, werden Lehrbücher und methodische Hilfen angeboten. Lehrer fühlen sich dennoch oft zu recht überfordert. Daran hat auch die Schulpolitik ihren Anteil: große Klassen, viel Stoff, wenig Lehrkräfte. Sieht man sich die Anforderungen an einen Lehrer im Bezug auf das Unterrichten von ASS Schülern an, so wird diese Einschätzung noch einmal deutlicher. Bei dieser vielschichtigen Störung wird viel biologisches und psychologisches Wissen nötig, da sie den Alltag aller damit Befassten grundlegend verändert. Durch die graduell so unterschiedlichen Auffälligkeiten ist es oft schwer eine genaue und richtige Diagnose zu stellen und passende Hilfen zu implementieren. Hier braucht es ein Team aus Lehrern, Psychologen, Ärzten und Eltern, die gemeinsam vorgehen. Dennoch macht das Buch Mut auch diese Kinder und Jugendlichen in die Schulen zu integrieren. Die im Buch vorgestellten Anforderungen sind für alle Kinder wichtig: Verlässlichkeit der Lehrkräfte, Genauigkeit in den Formulierungen, einen Blick auf die individuelle Entwicklung, das Erkennen von Stärken und deren Förderung. Die vorgestellten Methoden sind pragmatisch und bedürfen dennoch der guten Vorbereitung und vor allem einem schulischen und politischen Umfeld, in dem Andersartigkeit nicht als Makel sondern als Bereicherung erlebt wird.

Rezension von
Monika Pietsch
Training und Konstruktives Lernen
selbständige Trainerin und Beraterin, Schwerpunkt: Team- und Führungskompetenzen mit den Methoden des konstruktiven Lernens
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Es gibt 60 Rezensionen von Monika Pietsch.

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Zitiervorschlag
Monika Pietsch. Rezension vom 30.12.2010 zu: Brita Schirmer: Schulratgeber Autismus-Spektrum-Störungen. Ein Leitfaden für Lehrer-Innen ; mit 1 Tabelle. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2010. ISBN 978-3-497-02132-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9740.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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