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Heiner Keupp, Reinhard Rudeck et al. (Hrsg.): Armut und Exklusion

Rezensiert von Prof. Dr. Wilfried Hosemann, 31.03.2011

Cover Heiner Keupp, Reinhard Rudeck et al. (Hrsg.): Armut und Exklusion ISBN 978-3-87159-621-6

Heiner Keupp, Reinhard Rudeck, Hubertus Schröer, Mike Seckinger, Florian Straus (Hrsg.): Armut und Exklusion. Gemeindespsychologische Analysen und Gegenstrategien. dgvt-Verlag (Tübingen) 2010. 299 Seiten. ISBN 978-3-87159-621-6. 15,00 EUR.
Reihe: Fortschritte der Gemeindepsychologie und Gesundheitsförderung - Band 21.

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Thema

Armut und Exklusion sind die Lebenssituationen, an denen sich zeigen muss, zu was die Neuorientierung des bundesrepublikanischen Sozialstaates führt. Ob und wie die gesellschaftliche Transformation durch Schlüsselkonzepte der Gemeindepsychologie beeinflusst werden kann, ist die leitende Fragestellung des Sammelbandes. Die Gemeindepsychologie fasst individuelle Entwicklungen im gesellschaftlichen Kontext auf und bietet einen Rahmen für die Suche nach einer gelingenden Lebensführung, die über den defizitorientierten Blick auf das Individuum hinausgeht.

Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Die Herausgeber und 19 weitere AutorInnen kommen aus psychosozialen und gesundheitsbezogenen Arbeitsfeldern und repräsentieren Hochschulen, Forschungsinstitute und Praxiseinrichtungen. Es ist hier leider nicht möglich alle AutorInnen angemessen zu würdigen, auch wenn sie es inhaltlich sicher verdient hätten

Entstehungshintergrund

Der Sammelband baut auf den Beiträgen der Tagung „Fördern und Fordern – Armut und Exklusion in individueller Verantwortung“ der Gesellschaft für gemeindespychologische Forschung und Praxis e.V. 2007 in München auf.

Aufbau und Inhalt

Eine Einführung und 21 Beiträge, mit einer eigenen Literaturliste, bieten durch ihre Gliederung einen guten Überblick und einen überschneidungsfreien Raum für spezifische Fragestellungen - immer wieder werden Beispiele, konkrete Thesen und Praxishinweise geboten.

I Veränderte Koordinaten einer gesellschaftlichen Illusion. Der erste Teil des Buches (15-96) diskutiert die neuen sozialen Fragen mit Hilfe der Begriffe Armut, Exklusion, Migration, Diversity Management und „Netzwerkkapitalismus“. Leitend für die Beiträge ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Ausgrenzung und den Konzepten Inklusion/Exklusion.

II Gemeindepsychologische Perspektiven. Mit fünf Beiträgen (97-131) wird diese Perspektive über die Konzepte Salutogenese, Labeling Ansatz, Empowerment, Netzwerkansatz und Gender aufgegriffen. Deutlich wird die Bedeutung der Kommunen für Ansatzpunkte, die sich nur auf der örtlichen Ebene bieten.

III Handeln im Quartier. Die quartiersbezogenen Strategien (145-268) werden durch einen Beitrag zur Armut als kommunalpolitischer Aufgabe (am Beispiel München) von Friedrich Graffe eingeleitet. Die weiteren Unterkapitel beziehen sich auf Beratung und Psychotherapie in Zeiten der Prekarisierung (Beratung für Menschen in Armut, Erfahrungen und Forderungen aus der Perspektive einer Beratungsstelle), Empowerment durch Interkulturelle Bildungsarbeit (US-Diskurs, Selbstorganisation, Armut und Anmut), Erfolg trotz Exklusion. (Änderungen im Sozialrecht – Die Folgen für psychisch kranke Menschen, Menschen mit Handicap auf dem ersten Arbeitsmarkt). Immer wieder fließen praktische Erfahrungen, Projekte und Forschungsergebnisse in die Beiträge ein und sichern ihre Aussagekraft.

IV Armut in globaler Sicht. Ein Beitrag von Wolfgang Stark (269-284) zeigt vor internationalem Hintergrund grundsätzliche Möglichkeiten und Erfolge einer Empowermentstrategie (base-of-the-pyramid-Ansatz).

V Herausforderungen für die Theorie- und Praxisentwicklung. Hier gehen die Herausgeber (285-292) zusammenfassend auf die sozialstaatliche Entwicklung ein und diskutieren die Kernkonzepte Soziales Netzwerk, Salutogenese und Empowerment. Eine Neujustierung des gemeindepsychologischen Projektes wird gefordert und begründet.

Diskussion

Heiner Keupp von der Ludwig-Maximilians-Universität München und den anderen Autoren ist ein sehr lesenswerter Band mit kritischen und kompetenten Beiträgen gelungen. Er bereichert die Debatte um Armut und Gerechtigkeit in dem er sowohl die psychosozialen Folgen wie die gemeindebezogenen Strategien in den Blick nimmt. Populistischen Vereinfachungen werden Interpretationen entgegengesetzt, die die Spanne zwischen Individuum und Gesellschaft nicht aussparen sondern zum Gegenstand ihrer Reflexion machen. Die gesellschaftlichen Strukturen bilden keinen neutralen oder „ins Reich des Bösen“ verwiesenen Rahmen. Sie werden im Zusammenhang beschrieben, konkretisiert, bewertet und auf ihre Folgen hin diskutiert. Für die Professionellen aus den Bereichen Psychotherapie, Medizin und Soziale Arbeit bietet der Band komprimierte, theoretisch verankerte und eine Vielzahl praxisnaher Hinweise. Die Herausforderungen werden sowohl an die einschlägigen Professionen als auch an die Politik adressiert und den Lesern ein ausgezeichnetes Reflexionsniveau und Anregungspotenzial geboten.

Mit drei exemplarischen Hinweisen soll die reflexive Qualität der Beiträge veranschaulicht werden. Martin Kronauer beschreibt im ersten Beitrag den Hintergrund des sozialen Wandels mit den Hinweisen auf die Umbrüche am Arbeitsmarkt, der Schwächung traditioneller Milieus und den abnehmenden Fähigkeiten des Sozialstaates zum sozialen Ausgleich. Diese Lesart wird in den weiteren Beiträgen aufgegriffen und differenziert umgesetzt. Hubertus Schröer geht auch der Exklusion durch die Sozialpolitik nach und Heiner Keupp verweist auf die Versäumnisse in den Sozialwissenschaften sich auf die „Ausgegrenzten“ einzulassen und bietet mit dem Band eine Alternative.

Bedeutend erscheint mir, die konkreten Fragen weiter zu verfolgen, wie die Folgen psychosozialer Belastungen in den gesellschaftlichen Funktionsbereichen Medizin, Therapie und Soziale Arbeit bearbeitet werden. Die gemeindepsychologische Perspektive erfordert die Schnittstellenanalyse. Hier besteht ein Analysebedarf, den auch dieser Band nicht abdeckt (aber Grundlagen dafür schafft).

Das Buch bietet Perspektiven, die mehr Aufmerksamkeit und Beachtung verdient hätten. Denn in einer Gesellschaft, in der exponierte und kampagnenfähige Kräfte Vorteile aus der Individualisierung von Armut, Exklusion und prekären Arbeitsverhältnissen ziehen, sind Beispiele für gelingende Gegenstrategien von überragender Bedeutung. Die Themen Armut und Exklusion aus den Kontext von Mitleid und Schuldzuweisungen heraus zu nehmen und sie als politisch und gesellschaftlich Beeinflussbare zu präsentieren, ist auch die für beteiligten Professionen von unschätzbarem Gewinn.

Fazit

Die gemeindepsychologischen Analysen und Gegenstrategien zu Armut und Exklusion sind ein bedeutender Beitrag individualisierenden Perspektiven entgegen zu wirken. Sie sind theoretisch und argumentativ transparent verankert und praxisnah ausgelegt. Der Sammelband ist sehr empfehlenswert: sowohl für Hochschulen als auch für Praxiseinrichtungen und Leser, die Anregungen und Argumente suchen, die am Einzelnen ausgerichteten Hilfestrategien zu überwinden und sowohl den direkt Betroffenen wie den indirekt Betroffenen – uns allen – zu helfen.

Rezension von
Prof. Dr. Wilfried Hosemann
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Es gibt 24 Rezensionen von Wilfried Hosemann.

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ISSN 2190-9245