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Markus Holzinger, Stefan May et al.: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.08.2010

Cover Markus Holzinger, Stefan May et al.: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand ISBN 978-3-938808-87-0

Markus Holzinger, Stefan May, Wiebke Pohler: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2010. 320 Seiten. ISBN 978-3-938808-87-0. 28,00 EUR. CH: 48,00 sFr.

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Furcht schafft eigene Wirklichkeit

In der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt gehen die Sicherheiten verloren. Auch wenn diese sich in der Vergangenheit eher als fragile, fragwürdige und täuschende individuelle und gesellschaftlich-politische Sicherheitsempfindungen darstellten, so wird mit dem von Ulrich Beck geprägten Begriff „Weltrisikogesellschaft“ (siehe dazu: Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2007, Rezension) deutlich, dass die Gefährdungspotentiale nicht mehr lokalisiert werden können, sondern, wenn es sich um global-gesellschaftliche Entwicklungstrends und Risiken handelt, wie etwa dem Weltgesundheits- und dem Terrorismusrisiko, weltweite Unsicherheitsbedrohungen darstellen, die als individuelle, gesellschaftliche und politische Ausnahmezustände wirken.

Entstehungshintergrund und Autorenteam

Risiko ist überall und wird jeweils unterschiedlich wahr genommen und erlebt. Die Empfindungen und Abwehrmechanismen gegen Bedrohungen und Katastrophen, ob es sich um die Atombombe, ein Terrorattentat, eine Hungerkatastrophe oder um genmanipulierte Entwicklungen handelt, werden von den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich ausgedrückt. Sie reichen von fatalistischen bis zu revolutionären Verhaltensweisen und Aktivitäten. Ebenso unterscheiden sich die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen. In der wissenschaftlichen Analyse lassen sich beim Umgang mit Katastrophen (global) dabei drei Grundpositionen darstellen: Die eine zeigt sich darin, dass das Risiko negiert, also als solches nicht wahr genommen wird, aus der Überzeugung heraus, dass die Bedrohung bewältigt werden kann. Zum zweiten wird der politische Risikodiskurs dadurch bestimmt, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse die Frage nach dem Eintreten oder dem Vermeiden von Risiken angestellt wird. Zum dritten schließlich sind Versuche zu nennen, unvermeidbare Risiken durch Maßnahmen der Prävention vermeidbar zu gestalten.

Diese Fragestellungen werden von einem Team der Ludwig-Maximilians-Universität München in einem Forschungsprojekt bearbeitet: „Reflexiver Konstitutionalismus? Analysen zum Rechtsformenwandel im Prozess reflexiver Modernisierung“. Die Forscher kommen dabei zu dem Ergebnis, „dass die größte Gefahr oftmals nicht das Risiko selbst ist, sondern vielmehr seine Antizipation und Wahrnehmung, in deren Folge die Gefahrenphantasien und ihre Gegenmittel freigesetzt werden, die die moderne Gesellschaft ihrer bisherigen Handlungsfähigkeit berauben könnte“. Mit anderen Worten: Sicherheitspolitische Aktionen und Reaktionen können demokratisches, freiheitliches Denken und Handeln beeinflussen und sogar gefährden.

Die Autorin und die Autoren, Markus Holzinger aus Göttingen, Stefan May aus München und Wiebke Pohler, ebenfalls von der LMU in München, diskutieren die soziologischen, rechts- und völkerrechtspolitischen Konsequenzen, wie sie der internationale Terrorismus erzwingt. Dabei wird deutlich, dass „die unser Weltbild bisher tragenden Unterscheidungen von Krieg und Frieden, Militär, Polizei, Krieg und Verbrechen, innerer und äußerer Sicherheit… aufgehoben“ werden und es „eines neuartigen Präventionsrechts mit kriegsrechtlichen Elementen“ bedarf, um auf die neuen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus agieren und reagieren zu können. Es bedürfe, so die Autoren, neuer Formen der Entgrenzung des Krieges und des Politischen, um die Risikokonstellationen einschätzen und ihnen begegnen zu können.

Inhalt

Während Markus Holzinger die semantischen und politischen Konsequenzen des (internationalen) Ausnahmezustandes thematisiert und die Gegenwartsgesellschaft als permanenten Ausnahmezustand charakterisiert und dabei die verschiedenen politischen und soziologischen Theorien zu Rate zieht und dabei eine „Soziologie des Wandels“ entwickelt, analysiert Wiebke Pohler am Beispiel der 2002 in China ausgebrochenen Atemwegserkrankung SARS (Servere Acute Respiratory Syndrom) das lokale Problem der Infektionskrankheit als globales und globales Risiko. Die Herausforderungen, die sich für die sozialwissenschaftliche Forschung ergeben, stellen einen Perspektivenwechsel für die gesellschaftswirksamen Akteure dadurch dar, dass die angenommene „natürliche Ordnung“ in der Existenz und im Zusammenleben der Menschen auf der Erde durch „eine Grenzziehung zwischen Sozialem und Natürlichen“ in einen veränderten Blickpunkt gerät: „Das Soziale kann nicht länger allein durch Soziales erklärt werden, sondern das Soziale steht selbst in Frage und wird erklärungsbedürftig“.

Markus Holzinger reagiert auf den „planetarischen Ausnahmezustand“, der sich durch die neuen Kriege und kriegsähnliche Konflikte weltweit ergeben dadurch, dass er an zwei Fallbeispielen – dem Kosovo-Konflikt und dem globale Terrorismus als „Asymmetrierung des Gewaltgeschehens – die „Nebenfolgen zweiter Ordnung“ mit vier Thesen darstellt: Entgrenzung von politischer Gewalt, Krise des Rechts, Umbau des Völkerrechts und Wandel der Funktionsaufgaben des Nationalstaates. Für die Analyse darüber, ob in dieser Situation der internationalen Unsicherheiten eine „neue Weltordnung“ erforderlich sei und wie diese aussehen solle, bedürfe es, so Holzinger, einer „Wissenschaft vom Globalen“. Die möglichen Konturen zeigt er Autor auf, macht aber gleichzeitig deutlich, dass im internationalen, wissenschaftlichen Diskurs dafür noch kein tragfähiges Ordnungsmodell vorliegt.

Stefan May weist in seinem Beitrag „Neue Risiken – Sicherheit – Prävention“ darauf hin, dass sich im liberalen, rechtsstaatlichen Verständnis von der „Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit“ (Humboldt) ein Wandel dahingehend vollzieht, dass der Staat zur Sicherung der (Rechts-) Sicherheit präventiv auf- und herausgefordert wird. Dieser „Rechtsformenwandel als Wandel der Rationalitätsvoraussetzungen rechtsstaatlichen Denkens“ versichert und verunsichert die Menschen in einem Rechtsstaat zunehmend; die Empfindungen, in einer „Risikogesellschaft“ (Beck) zu leben, führen zu (absoluten) Erwartungen an die Gesellschaft und den Staat, die nicht erfüllbar sind; die „Präventionsgesellschaft“ ist entstanden. Mit den abschließenden Bemerkungen fasst das Autorenteam die dargestellten neuen, globalen Risiken als „Ausnahmezustand“ zusammen und formuliert „Herausforderungen an eine Politik des Ausnahmezustandes“. Es ist die risikobehaftete Spannweite vom „Kontrollwahn“ und der Erweiterung der staatlichen Machtbefugnisse, bis zum „Nichtstun“, die den Blick auf die politische Legitimation einer Sicherheitspolitik in neuer Weise notwendig macht, denn „gerade im Kontext weitreichender Pluralisierung treten die Ansprüche des Individuums an das Leben und an einen seinen Lebensraum transzendierenden Raum der Politik auseinander“, und zwar lokal und global.

Fazit

Der Zwischenbericht, den das Autorenteam des Forschungsprojektes „Reflexiver Konstitutionalismus? Analysen zum Rechtsformwandel im Prozess reflexiver Modernisierung“ vorliegen, dürfte deshalb für die Politik- und Sozialwissenschaften, wie auch für Politiker und an Sicherheitsfragen Interessierten von besonderem Interesse sein, weil gewissermaßen ein Perspektivenwechsel der gewohnten Betrachtung von „Regel“ und „Normallage“ hin zur „Ausnahme“ und zum „Ausnahmezustand“ sich andeutet: „Der moderne Terrorismus ist eine Form der Kriegsführung, und zu seiner Bekämpfung bedarf es eines neuartigen Präventionsrechts mit kriegsrechtlichen Elementen“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 09.08.2010 zu: Markus Holzinger, Stefan May, Wiebke Pohler: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2010. ISBN 978-3-938808-87-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9743.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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