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Detlef Horster (Hrsg.): Welthunger durch Weltwirtschaft

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.06.2010

Cover Detlef Horster (Hrsg.): Welthunger durch Weltwirtschaft ISBN 978-3-938808-91-7

Detlef Horster (Hrsg.): Welthunger durch Weltwirtschaft. Hannah-Arendt-Lectures und Hannah-Arendt-Tage 2009. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2010. 128 Seiten. ISBN 978-3-938808-91-7. 14,80 EUR. CH: 25,50 sFr.

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„Es ist die Pflicht zu handeln, nicht die, etwas zu unterlassen“

Die große Denkerin Hannah Arend wurde am 14. 10. 1906 in Hannover geboren, und sie starb am 4. 12. 1975 in New York. Sie hat sich, obwohl ihr viele den Titel als Philosophin zugeschrieben haben, nicht gerne als solche bezeichnet; vielmehr widmete sich die Publizistin und Wissenschaftlerin den Fragen der Politischen Theorien und hier insbesondere deren Wirkungen auf die alltägliche und institutionelle Praxis der Menschen. Als kritische Denkerin und Jüdin musste sie vor den Verfolgungen der Nationalsozialisten fliehen. Ihre Geburtsstadt Hannover gedenkt ihrer mit dem Projekt „Wissenschaft trifft Politik – Politik trifft Wissenschaft“, das von der Philosophischen Fakultät der Universität organisiert und von einem Kuratorium geleitet wird. Das Vorhaben gliedert sich zum einen in Vorträgen Lectures), die sich überwiegend an den wissenschaftlichen Fragen der politischen Theorie orientieren, und den Hannah-Arendt-Tagen, die der Hannöversche Oberbürgermeister ausrichtet und in denen stärkere Öffentlichkeitswirkung erzeugt werden soll. Es geht dabei um Einmischen in die politische Entwicklung, lokal und global, und um Position beziehen. Beides, so die Kuratoriumsmitglieder der Veranstaltung, hätte Hannah Arendt heute auch getan, lebte sie noch. Die Tagungsthemen und –ergebnisse liegen bei Velbrück Wissenschaft vor: Sozialstaat und Gerechtigkeit“ (2005), „Das Böse neu denken“ (2006), „Verschwindet die politische Öffentlichkeit?“ (2007), „Die Krise der politischen Repräsentation“ (2008), „Bestandsvoraussetzungen und Sicherungen des demokratischen Staates. Das Beispiel Türkei“ (2009).

Die 2009er Veranstaltungen zum Thema „Welthunger durch Weltwirtschaft“ werden im Tagungsband vom Projektleiter Detlef Horster vorgelegt. Der Titel „Welthunger durch Weltwirtschaft“ ist Feststellung, Aussage und Standortbestimmung zugleich. Horster leitet sie ein mit der Feststellung: „Weltarmut als moralisches Problem“. Die Folgen des Hungers in der Welt sind bekannt; die Statistik ist erschlagend und deprimierend. Mehr als eine Milliarde hungernde Menschen leben auf der Erde, mehr schlecht als recht. Die Folgen der Unter- und Mangelernährung für das humane und volkswirtschaftliche Kapital sind unermesslich und als ein Existenz- und Zukunftsproblem der Menschheit zu betrachten. Die Asymmetrie von Überfluss und Mangel, als Grundproblem des ungleichen menschlichen Zusammenlebens der Menschen auf der Erde, muss als der Menschheitsskandal und von Menschen gemacht angesehen werden. Alle bisherigen, allzu zaghaften und unzulänglichen Versuche, daran etwas zu ändern, sind gescheitert. Eine Veränderung der Weltwirtschaftsordnung, die seit einigen Jahrzehnten immerhin diskutiert wird, ist nicht in Sicht, auch wenn die Kritik am Kapitalismus angesichts der neuesten Weltwirtschafts- und Finanzkrisen wächst (vgl. dazu: Christian Stenner (Hg.), Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise, Wien 2010, vgl. die Rezension) und Alternativen gedacht werden (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt/M. 2010, vgl. die Rezension; sowie: Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Schwalbach/Ts., 2009, vgl. die Rezension).

Fokussierung

Es ist der moralische Anspruch, ohne Wenn und Aber, der Menschen veranlassen müsste, in lokalen und globalen Notsituationen vom „Mehrwert“ abzugeben. Konzepte dafür gibt es seit langem, um eine Umverteilung von Gütern zu ermöglichen: 0,7 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts von 2005 und etwas mehr der Bruttosozialprodukte der wohlhabenden Länder. Auch wenn der ökonomische Wachstumsmaßstab mittlerweile anders definiert wird, bleibt die Grundforderung: Wir müssen verhindern, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, lokal und global. Auch die Initiative des ehemaligen UN-Generalsekretärs und Friedensnobelpreisträgers Kofi Annan, mit dem „Global Compact“ soziale Verantwortung in die Weltwirtschaft zu bringen, kann als positives Zeichen hin zu Veränderungen des traditionellen wirtschaftlichen Denkens und Handelns gewertet werden.

Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Philosoph und Ethiker, Norbert Anwander, geht in seiner Fragestellung – „Ist Weltarmut ein globales Problem?“ – ebenfalls davon aus, dass die Situation in der Welt, in der eine erhebliche Zahl von Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können, nicht schicksalhaft, sondern menschengemacht ist, also auch von Menschen verantwortet werden muss. Die philosophisch hergeleitete Argumentation lässt weder Ausflüchte und Verdrängungen zu, wie etwa: „Die Regierungen und die Politik müssen es richten“, schon gar nicht ein bequemes „Da kann man nichts machen“; vielmehr kommt es darauf an, sich bewusst zu machen, dass wir, jeder von uns, als Individuum und gesellschaftlich, „verantwortlich in letzter Instanz“ ist.

Corinna Mieth von der Ruhr-Universität Bochum setzt sich auseinander mit „Weltarmut, soziale Menschenrechte und korrespondierende individuelle Pflichten“. Dabei geht sie kritisch mit unserer gewohnten „Wohltätigkeitssicht“ um und weist darauf hin, dass Wohltätigkeit und wie auch immer geartete soziale und materielle Zuwendung beginnen muss mit der Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf der Erde ihre Grundbedürfnisse erfüllen können. Es geht darum, eine Verantwortung zu denken und zu praktizieren, in der „sowohl die Dimension des Verstrickt-Seins als auch die des Eingreifen-Könnens“ enthalten ist.

Der Hannöversche Entwicklungs- und Agrarökonom Hermann Waibel analysiert den Zusammenhang von „Armut und Landwirtschaft in der Dritten Welt“. An zahlreichen Beispielen zeigt er auf, welche Ursachen, Voraussetzungen und Entwicklungen im globalen landwirtschaftlichen Sektor vorfindbar sind, verbunden mit den bekannten Marktmechanismen, wie Überschuss und Mangel, Produktivitätssteigerung und –verhinderung und nicht zuletzt der Versorgungs- und Verteilungsproblematik. Nach Ansicht des Autors wird es, angesichts des zunehmenden weltweiten Bevölkerungswachstums und der dabei entstehenden Nachfrage nach (landwirtschaftlichen) Nahrungsmitteln und steigender Energienachfrage, nicht möglich sein, einen Strukturwandel herbeizuführen – es sei denn, es gelänge uns, den Gedanken der globalen Ernährungssicherung in das Zentrum unseres Denkens und Handelns zu rücken.

Die ehemalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, zieht ein Fazit der bisherigen (unzulänglichen) Bemühungen, den „totalen Anspruch des Kapitals“ durch die Politik abzuwehren und die nachteiligen Folgen und Auswirkungen der Globalisierung durch mehr Freiheit und Gerechtigkeit zu ersetzen. Entwicklungspolitik, die mehr ist als „Entwicklungshilfe“, muss sich orientieren an der drängenden und unverzichtbaren Aufgabe, eine Politik für gerechte(re) globale Strukturen zu schaffen; den Prozess fördern, zu einem globalen Konsens für die von den Vereinten Nationen im September 2000 ausgerufenen Millenniumsziele zu kommen; nichts unversucht lassen, die globale Entwicklung dadurch zu fördern, dass das 0,7-Prozent-Ziel bis spätestens 2010 erreicht wird.

Thomas Pogge von der Yale-University geht in seinem Beitrag insbesondere auf die Bedeutung der Menschenrechte und unsere Verantwortung dafür ein. Dabei räumt er auf mit der gängigen Einschätzung, dass die Weltarmut dazu beitrüge, die globale Umwelt weniger zu schädigen, als wenn die derzeit armen Menschen wohlhabender würden und damit mehr konsumierten. Er weist darauf hin, „dass der sehr viel größere ökologische Fußabdruck der reicheren Hälfte sich verringern würde“, verbunden mit einer Abnahme des Weltbevölkerungswachstums. So kommt auch Pogge zu dem Ergebnis: „Weltarmut ist das moralisch wichtigste Thema unserer Zeit“.

Die ebenfalls im Buch abgedruckten Texten einer Diskussion unter der Leitung von Christiane Grefe (DIE ZEIT), mit dem Göttinger Volkswirtschaftler Stephan Klasen, dem Gründer des Komitees Deutsche Not-Ärzte Cap Anamur und Initiator des Friedenscorps Grünhelme e.V., Rupert Neudeck, Thomas Pogge und dem ehemaligen Direktor des UN-Umweltprogramms und Gründungsdirektor des Potsdamer Instituts für Klimawandel, Erdsystem und Nachhaltigkeit, Klaus Töpfer, lesen sich wie eine Bestandsaufnahme zur Thematik – und als Fingerzeige, wohin die Entwicklung in unserer Einen Welt gehen sollte, wenn die Menschen auf der Erde dies nur wollten!

Fazit

Die Leserinnen und Leser der Texte aus dem Tagungsband zu den Hanna-Arendt-Lectures und der Hanna-Arendt-Tage 2009 könnten bei der Lektüre zu der Auffassung kommen, dass über die skandalösen Zustände zur Welternährungslage immer wieder viel geredet und argumentiert wird, jedoch wenig geschieht, um konkret die Situation der Hungernden in der Welt zum Positiven zu verändern. Auch die Referentinnen und Referenten der Veranstaltung konnten keine „Lösungen“ vorlegen; aber ihre Argumente, Analysen und Bestandsaufnahmen sind notwendig, damit die Hoffnung nicht stirbt: Die Menschheit ist lernfähig und moralisch anrührbar, diese Einsicht hätte auch Hannah Arendt gefallen!

Die Hanna-Arendt-Lectures und Tage 2010 stehen unter dem aktuellen Motto: "Markt und Staat - Was lehrt uns die Finanzkrise?"; dass es auf diesem (unantastbarem?) Gebiet Handlungs- und Veränderungsbedarf gibt, das kommt mehr und mehr in das öffentliche Bewusstsein. Verbindet man das mit dem Optimismus, dass der Mensch ein Lebewesen ist, das zur Wandlung befähigt ist (vgl. dazu: Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, 2009, vgl. die Rezension), ist Hoffnung in Sicht!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1694 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245