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Markus Reiter: Dumm 3.0

Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 05.07.2010

Cover Markus Reiter: Dumm 3.0 ISBN 978-3-579-06883-1

Markus Reiter: Dumm 3.0. Wie Twitter, Blogs und Networks unsere Kultur bedrohen. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2010. 191 Seiten. ISBN 978-3-579-06883-1. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 31,90 sFr.

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Zu dem Titel liegt eine Leseprobe vor.

Sind wir auf dem Weg ins digitale Mittelalter?

Wer kennt das nicht: Lästernde und rüpelhafte Kommentare von Internetnutzern, die sich hinter der Anonymität fantasievoller Decknamen verbergen. Blogger, die für Meinungsmache zur Not auf begründete und recherchierte Argumente verzichten können. Das Szenario vom Untergang der Printmedien - ganz zu schweigen von der allgegenwärtigen Diskussion um das Urheberrecht, wenn nahezu alles kostenlos ins Netz gestellt und "downgeloadet" werden kann.
Für Markus Reiter ist es daher längst an der Zeit, ein Buch zu schreiben, das über die Schattenseiten des Internets zum Nachdenken anregen will: Seiner Ansicht nach leiste es nicht nur einem rüpelhaften Umgangston und getwitterten Kurztexten Vorschub. Vielmehr geht es dem Autor darum zu zeigen, dass wichtige Errungenschaften unserer Kultur, wie Bildung, Produktivität und politischer Dialog, auf dem Spiel stehen.

Autor

Der Diplom-Politologe Markus Reiter hat eine abwechslungsreiche Vita vorzuweisen: Als "Medienberater, Schreibtrainer und freier Journalist"– wie er sich selber nennt – hat er für mehrere namhafte deutsche Tageszeitungen, eine PR-Agentur und das Reader's Digest Deutschland Magazin gearbeitet, teilweise in leitender Funktion. Zurzeit ist er als Dozent in der Aus- und Weiterbildung von Journalisten an mehreren Journalisten-Akademien tätig und betreibt die Agentur klardeutsch nebst eigenem Blog. Reiter hat mehrere Bücher zu den Themen professionelles Schreiben, mediale Öffentlichkeitsarbeit sowie jüngst vermehrt zum öffentlichen Sprachstil verfasst.

Aufbau und Inhalt

Der Autor entfaltet seine kulturkritische Analyse in sieben Schritten. Im ersten thematischen Abschnitt - "Warum Kritik am Internet nötig ist" - macht Reiter die Beobachtung, dass Informationen in der Onlinewelt flüchtiger und unzuverlässiger gehandelt werden. Es vollziehe sich eine schleichende Spaltung in eine Informations-Zweiklassengesellschaft, in der es einer Elite vorbehalten bleibe, auf zuverlässige Informationen zurückzugreifen. Alles in allem gefährde diese dritte Medienrevolution Bildung, Kultur und Demokratie. Eine These, mit der Reiter auch den thematischen Rahmen für den Rest des Buches vorgibt.

"Die drei Medienrevolutionen" – von der Schriftverwendung, über den Buchdruck zur digitalen Vernetzung - erläutert Reiter dann im gleichnamigen Kapitel, dem zweiten Teil des Buches.

Von hier aus geht der Autor über zur Verteidigung von vier Prinzipien, die er als grundlegend für unsere Kultur ausmacht: Den mit 70 Seiten umfänglichsten Part nimmt die "Verteidigung des Journalismus" ein. Am Beispiel der New York Times illustriert der Autor, welch bedeutende Rolle journalistische Printmedien als Informations-„Gatekeeper“ spielen. Im krassen Gegensatz dazu sieht Reiter eine "Laienkultur" in Form von Bloggern heraufziehen, die sich selbst als eine neue, ungefilterte und authentische Form der Informationsverbreitung sehen. Reiter stellt journalistische Prinzipien und Arbeitsweisen heraus, die er sorgfältig und im Detail gegen die Argumente der Blogger-Szene abwägt. Mit dem Ergebnis, dass zuverlässiger professioneller Journalismus nach wie vor unverzichtbar bleibe und sich nicht durch ehrenamtliche oder "Freizeit-Journalisten" ersetzen lasse. Wie sich dieser Journalismus in Zeiten des Internets erhalten könne, skizziert Reiter dann im Anschluss.

Thematisch nicht weit entfernt liegt die folgende "Verteidigung der gesellschaftlichen Debatte". Hier begegnet Reiter dem landläufigen Argument, dass das Internet – Stichwort Web 2.0 – per se den demokratischen Diskurs anrege, da es die Beteiligung aller ermögliche. Vielmehr sieht es für den Autor so aus, dass in den einschlägigen Foren und auf Blogseiten gar kein konträrer Dialog, sondern die Selbstbestätigung Gleichgesinnter stattfinde. Dazu komme ein in der Sache unangemessener, oft persönlich verletzender Umgangston unter den Diskutanten, die schließlich den Schutz eines anonymen Nutzernamens genössen. Auch bringe die reine Vielfalt an Meinungen noch keinen Zuwachs an Erkenntnis, sodass Reiter Blogs und Internetkommunikation insgesamt weniger als Sieg, denn als "neue Herausforderung für die Aufklärung" (Seite 140) betrachtet.

Im Kapitel "Verteidigung der Bildung" geht Reiter davon aus, dass die Folgen der dritten Medienrevolution für die Bildung noch gar nicht verstanden worden seien. Zum einen führe die Schnelllebigkeit des Internets dazu, dass sich auch die Gewohnheiten im Umgang mit Informationen änderten, vor allem bei der "Generation Internet". Ein Bildungssystem, welches nach wie vor darauf aus sei, Wissen anzuhäufen (Seite 154), bereite kaum darauf vor, mit der gewaltigen Wissensexplosion im Internet fertig zu werden. Aus Reiters Sicht sind hier vornehmlich zwei Kompetenzen notwendig: Schriftliche Informationen zu entnehmen und diese selektieren zu können.

Der vierte inhaltliche Bereich ist dann die "Verteidigung des Urheberrechts": Hier geht es nicht darum, dass Menschen ihre eigenen Erzeugnisse gratis im Netz zur Verfügung stellen, sondern um illegale Downloads, "Egoismus und Gier" und die Kostenlos-Mentalität, die Reiter anprangert. Ähnlich wie beim Thema Journalismus argumentiert er auch hier, dass Programmierer und Künstler einen wichtigen Beitrag zur Kultur leisten. Werden ihre Produkte illegal im Netz weiterverbreitet, führe dies zum Niedergang der gesamten Kreativwirtschaft und der professionellen Kunst.

"Wo soll das alles enden?", diese Frage, die sich vermutlich auch die Leserinnen und Leser stellen werden, sucht Reiter in sieben Szenarien zu beantworten, denen er drei Lösungsvorschläge entgegenstellt. Bei den Entwicklungstrends geht es zum Beispiel um das Verschwinden der gedruckten Tageszeitung, die Spaltung in eine Informations-Zweiklassengesellschaft, die veränderten Gewohnheiten im Umgang mit Informationen oder die zunehmende Verschmelzung von öffentlichem und privatem Bereich. Diesen Trends stellt der Autor - auf zwei Buchseiten – drei knappe Lösungsentwürfe gegenüber: Kostenpflichtigkeit der Inhalte im Netz, Durchsetzung des Urheberrechts sowie ein entsprechendes Bildungssystem.

Den Abschluss des Buches bildet das "Glossar – ein paar wichtige Web 2.0-Begriffe" sowie ein Literaturverzeichnis der Printmedien, auf die sich der Autor bezieht.

Diskussion

Zunächst einmal: Wer angesichts des provokanten Titels eine maschinenstürmerische Polemik erwartet, dürfte enttäuscht werden. Ist der Autor doch eigentlich nicht Gegner des Internets selbst, sondern einiger seiner kritikwürdigen Spielarten. Gut, dass Reiter bereits am Anfang seinen Standpunkt klar macht, der zwischen Internetbegeisterung und Kulturkritik liegt.

Trotz des apodiktischen "Dumm 3.0", welches kaum Alternativen zu dulden scheint, dürfte der Weg zukünftiger Entwicklungen deshalb nicht in einem "Entweder-oder" liegen, sondern in einem "Sowohl-als-auch": Zu nachhaltig ist der positive Einfluss des Internets gerade auch in den Bereichen, die Reiter kritisiert. Im Bereich Blogs verfügen wir beispielsweise über eine Reihe qualitativ hochwertiger Beiträge, in denen auch richtige und wichtige Themen angestoßen wurden. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit des Bürgerjournalismus, sich außerhalb der politischen und medialen Zensur Gehör zu verschaffen. Ich denke hier nicht nur an Deutschland. Ferner gibt es auch gelingende Bürgerbeteiligung über das Internet – diese muss allerdings initiiert und moderiert werden. Hier hat sich in der Tat eine wichtige Ergänzung, teilweise auch ein Korrektiv, zum politischen Diskurs in den herkömmlichen Medien entwickelt. Und auch die Open-Source-Bewegung hat einen Beitrag zur ideellen wie ökonomischen Wertschöpfung geleistet. Dies alles muss man gelten lassen dürfen, ohne jedoch die Schattenseiten zu verschweigen.

Zweifellos hat sich er Autor mit den Themen Internet, Journalismus, Urheberrecht, Bildung und Demokratie viel vorgenommen. Handelt er die Thematik nicht nur in der Breite, sondern erfreulicherweise auch in ihrer historischen Dimension – von Platon bis zum Web 2.0 - ab. Da bleibt es nicht aus, dass vieles nur anhand punktueller Beobachtungen – Blogs als Paradigma für das Internet im demokratischen Diskurs – behandelt werden kann. Einiges dürfte den Lesern auch allzu bekannt vorkommen: die Rede vom drohenden Untergang des Printjournalismus, die veränderten Nutzungsgewohnheiten der "Generation Internet" usw. Diese vielen Einzelbeobachtungen werden jedoch in einer Zusammenschau zu einer systematischen Analyse vereint.

Allerdings wird nicht alles in derselben Tiefe durchdrungen. Rein quantitativ fällt die Verteidigung des Journalismus am detailliertesten aus, was sicherlich durch Reiters beruflichen Hintergrund zu erklären ist. Aus meiner Sicht am schwächsten kommt hingegen die "Verteidigung der Bildung" herüber: Dass der Umgang mit Informationen durch das Medium Internet schnelllebiger, oberflächlicher und fragmentarischer wird sowie eine funktionale Bildung erfordert, ist an sich nichts Neues. Die Konsequenzen wurden bereits bei anderen Autoren, beispielsweise bei Tony Wagner (vgl. die Rezension), umfassend diskutiert. Auch im deutschen Bildungssystem dient die Kompetenz-Orientierung dazu, auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft vorzubereiten. Dass diese Entwicklung noch nicht voll bei den Schülern angekommen ist, dürfte vielmehr daran liegen, dass die Veränderung der Bildungssysteme - mit den Worten Alvin Tofflers gesprochen – eher in Schrittgeschwindigkeit verläuft.

Daraufhin in dem zugehörigen, äußerst knappen Lösungsvorschlag zu fordern, der "Staat muss so vielen Menschen wie möglich den Zugang zu Bildung ermöglichen" (Seite 185), klingt daher oberflächlich und für deutsche Verhältnisse anachronistisch. Hier wäre aus meiner Sicht gerade eine Anknüpfung zu den anderen Themen des Buches möglich: Es geht nicht allein darum, seine Privatsphäre zu schützen, sondern – siehe das Beispiel der anonymen Internetrüpel – den demokratischen, verantwortungsvollen Umgang mit dem Medium Internet als wichtiges Bildungsziel zu skizzieren. Hier bleibt das Buch hinter den Möglichkeiten zurück.

Gerade weil auch die anderen Lösungsvorschläge nur ansatzweise skizziert sind, sollte man von Reiters Buch keine vorschnellen Antworten erwarten. Erklärtes Ziel des Autors war es ja, zum Nachdenken anzuregen. Was Reiter auch erreicht hat, da die Diskussion seiner Argumente mühelos noch um ein Vielfaches weitergeführt werden könnte.

Insgesamt finde ich, der wichtigste Beitrag des Buches ist es nicht, das Internet an sich zu verdammen. Niemand wird ernsthaft hinter diese technische wie kulturelle Errungenschaft zurückgehen wollen. Allerdings weist Reiter in seinem Buch auf eine Entwicklung hin, die noch unzureichend im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen ist.

Was die handwerkliche Seite betrifft, die Reiter in der Onlinewelt, den Blogs und bei manchen als orthografiefeindlich identifizierten Kommentatoren anmahnt, so ist das Buch stilistisch sauber gearbeitet und angenehm zu lesen. Der Sachtext wird geschickt mit persönlichen Porträts von Bloggern, Jugendlichen, Journalisten und Medienvertreter aufgelockert. Außerdem ist Reiter bestrebt, seine Darstellung durch überprüfbare Belege und wissenschaftliche Studien zu untermauern. Bisweilen kommen kleinere Ungenauigkeiten, z.B. bei Eigennamen vor – dabei findet auch eine Wanderung schon mal auf einem schmalen "Grad" statt.

Fazit

Markus Reiter hat ein Buch geschrieben, das zum Nachdenken über das Internet anregen will. Der kulturkritischen Analyse des Autors ist in vielen Punkten zuzustimmen: Vor allem aber darin, das Internet nicht per se zur heilbringenden Technologie zu erheben, sondern es als ein Medium zu betrachten, das vernünftig und verantwortungsvoll gebraucht werden will.

Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.

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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 05.07.2010 zu: Markus Reiter: Dumm 3.0. Wie Twitter, Blogs und Networks unsere Kultur bedrohen. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2010. ISBN 978-3-579-06883-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9757.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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