Susanne Hauser, Franz Schambeck et al. (Hrsg.): Übergangsraum Adoleszenz
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.12.2010
Susanne Hauser, Franz Schambeck, Juliane Bründl, Peter Bründl, Yecheskiel Cohen (Hrsg.): Übergangsraum Adoleszenz. Entwicklung, Dynamik und Behandlungstechnik Jugendlicher und junger Erwachsener. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2010. 200 Seiten. ISBN 978-3-86099-682-9. 19,90 EUR. CH: 35,90 sFr.
Das Gewahrwerden von Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit …
lässt sich, als physischer, intellektueller, moralischer und emotionaler Akt menschlichen Lebens, als Entwicklungsphase datieren; es ist der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter, die Adoleszenz. Es ist ein Wandlungsprozess, der nicht immer „harmonisch“ verläuft; oder man könnte auch sagen, zum Glück sich nicht unbeachtet und unauffällig vollzieht – weil Wandlungs- und Übergangsprozesse immer eine Form von umwälzender, spürbarer und dramatischer Veränderung darstellen, wenn sie „normal“ verlaufen sollen! Es handelt sich also um eine physische und psychische Herausforderung, die Anstrengung erfordert, beim Individuum und seiner Umwelt Einsicht notwendig macht und Nachsicht fordert. Und es ist eine Phase, in der der junge Mensch am Auf- und Ausbau der eigenen Identität arbeitet.
Aufbau und Inhalt
Die adoleszente Entwicklung beim Menschen bedarf des Wissens um die körperlichen und geistigen Grundlagen und Veränderungsprozesse, sowohl bei den Jugendlichen selbst, als auch – und vor allem – bei den Erwachsenen in seiner Umwelt, den Eltern, Erziehern und Pädagogen, und nicht zuletzt derjenigen, die als Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzte, Pädagogen und Sozialarbeiter bei den Veränderungsprozessen unterscheiden müssen zwischen einer der Norm und den Erfahrungen entsprechenden Autonomie- und einer abnormen, pathologischen Entwicklung und Hilfestellung leisten müssen.
Susanne Hauser, Psychologin, analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Dozentin und Lehranalytikerin und Franz Schambeck, Psychiater und Psychoanalytiker, beide mit eigener Praxis und Vorstandsvorsitzende der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP), sind die Herausgeber eines Sammelbandes, das die „Adoleszenz und ihre Implikationen hinsichtlich der Behandlungstechniken“ bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Thema hat. Die Beiträge des Autorenteams sind bei den Jahrestagungen der Münchner Arbeitsgemeinschaft und bei nationalen und internationalen Kongressen gehalten worden und bilden so einen Querschnitt des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses und der praktischen Behandlungsmethoden zu adoleszenten Entwicklungsverläufen und Störungen.
Jack Novick und Kerry Kelly Novick, beide Psycho- und Lehranalytiker an der University of Michigan und der Wayne State University Medical Schools referieren in einer zweiteiligen Präsentation über „Hindernisse am Entwicklungsübergang von der Adoleszenz zum Erwachsenenleben“. Im ersten Teil zeigen sie an einem Fallbeispiel das „geschlossene System der Selbstregulation“ auf, das sich durch sadomasochistische, realitätsferne Machtdynamiken, omnipotente Empfindungen und lähmenden Stillstand in der Entwicklung darstellt. In detaillierten Beschreibungen und deskriptivem Nachvollzug der Lebensgeschichte des Patienten (Nick), vom Säuglingsalter bis zu seinem 19. Lebensjahr, als er die Therapeuten aufsuchte, werden die verschiedenen familiären, schulischen und beruflichen Einbrüche, Dynamiken und Fehlentwicklungen deutlich, bei denen, in diesem Fall, die Therapeuten an die Grenzen ihres professionellen Handelns gelangen und nach Möglichkeiten suchen müssen, neue Therapiekonzepte und Methoden einzusetzen. Das ist die „Arbeit mit dem offenen System der Selbstregulation“, die sie im zweiten Teil diskutieren: „Eine der wichtigsten Manifestationen der Funktion im offenen System in der Behandlung ist die durch den Patienten und den Therapeuten gemeinsam hergestellte therapeutische Allianz über die Dauer der Behandlung“. Die entwicklungsbedingten und durch Kultur und Umwelt sich verstärkenden, feindlichen und allmächtigen Machtdynamiken des geschlossenen Systems können – durch langandauernde und kontinuierlich durchgeführte Therapien – reduziert und vielleicht sogar mit dem Kräfteausgleich des offenen Systems geheilt werden.
Der Tübingen Kinder- und Jugendtherapeut Michael Günter diskutiert mit seinem Beitrag „Scham und Sexualität in der Adoleszenz“ die Übergangsräume und Fixierungen im Problemfeld von Verleugnung und Omnipotenz der Sexualität im Hier und Heute, als narzisstische Inszenierung des sexuellen Körpers durch mediale, märchenhafte und futuristische Darstellungen. An einem Fallbeispiel zeigt er auf, dass die sich scheinbar beschleunigenden sexuellen Erfahrungen bei jungen Jugendlichen, bei Jungen intensiver als bei Mädchen, nicht zu einer Stabilisierung der Fähigkeit zu lieben führen, sondern, bei entsprechenden Entwicklungshemmnissen und –störungen, zu schweren Entwicklungspathologien sich auswachsen können, die ein Leben lang anhalten. Die in der Adoleszenz massiv eintretenden körperlichen Veränderungen und die Entwicklungsschübe in der Sexualität bewirken Gefühle, die sich als Scham, Ekel, Angst und sadomasochistischen Phantasien ausdrücken und die Identitätsbildung beeinträchtigen können. Die „Integration des sexuellen Körpers in die eigene Identität …(muss) … beim Scheitern dieser Entwicklung dazu führen ( ), dass Liebesbeziehungen und Intimität mit anderen kaum entstehen können…“.
Der Mailänder Psychiater und Psychoanalytiker Enrico de Vito stellt einige Probleme von „Bindungsbeziehungen von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter“ dar, die sich aus einer Längsschnittstudie über die Kontinuität von Bindungsmustern von der Adoleszenz ins junge Erwachsenenalter ergeben, die am Mailänder Zentrum für die Psychotherapie Heranwachsender (Progetto A) durchgeführt wurden. Dabei wird deutlich, dass es „prinzipiell ... eine starke Verbindung zwischen einem sicheren Bindungsmuster und einem Zustand der Resilienz... und zwischen einem unsicheren Bindungsmuster und einem Zustand der Verwundbarkeit der Vorgänge, welche das Selbst regulieren und anpassen“, gibt.
Franz Schambeck macht mit seiner Metapher „Nichts ist mehr wie vorher“ deutlich, dass der „Handlungssprache in der Jugendlichenanalyse“ eine große Bedeutung zukommt. Das als „Gegenübertragung“ in der Psychoanalyse bekannte Phänomen diskutiert der Autor an einem Fallbeispiel, indem der Therapeut vom Abgelehnten, eine drohende Gefahr signalisierenden Instanz, zum Vertrauten und Schonrauminhaber, bis hin zum Ohnmächtigen wird, die Notwendigkeit der Einbindung aller Beteiligten in diesem adoleszenten Entwicklungsprozess.
Susanne Hauser setzt sich mit „Problemen der Geschlechtsidentität“ beim schwierigen Übergang bei Jugendlichen ins Erwachsenenalter auseinander. Sie nimmt ein Fallbeispiel zum Anlass, um über die Phase des Übergangs ins Erwachsenenalter bei jungen Frauen zu reflektieren. Die Therapeutin geht davon aus, dass Probleme der Geschlechtsidentität dabei nicht direkt therapeutisch angegangen werden sollten, vielmehr ließen sich durch eine indirekte therapeutische Grundhaltung bessere Zugänge zum Patienten finden, gewissermaßen, um einen „psychosozialen Möglichkeitsraum“ in der Therapie zu schaffen. Die Anamnese, zusammen mit den Eltern von „Anna“ brachte brüchige und unstabile Elemente in der Identitätsentwicklung vor allem der Mutter zu Tage. Die sich im Laufe des mehrjährigen Therapiezeitraums dabei mit der Methode des offenen Systems sich ergebenden Entwicklungsschritte, unterbrochen durch Flüchte, Verweigerungen und Zusammenbrüche, konnten zur Stabilisierung und bemerkenswerten Entdeckungen, wie etwa der Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Sexualität, Fortpflanzung, beitragen.
Die Psychologische Psychotherapeutin Juliane Bründl fordert in ihren „Überlegungen zur Reaktivierung adoleszenter Positionen in der analytischen Psychotherapie traumatisierter Mütter“: „Gebt dem Kind das Kind“. Sie richtet dabei die Aufmerksamkeit darauf, dass der „lebenslängliche Individuationsprozess von Erwachsenen ( ) meist erheblich eingeschränkt oder gehemmt (bleibt), wenn sie auf Grund schwerer infantiler oder adoleszenter Traumatisierungen, bzw. Retraumatisierungen…“ in der Adoleszenz nicht bewältigt werden konnten. Diese nachwirkenden und konstitutiv sich manifestierenden Entwicklungsbrüche zeigt die Autorin anhand von zwei Fallbeispielen bei zwei jungen Müttern auf, die in der Adoleszenz die Schwangerschaft als Mittel zur Ablösung vom Elternhaus und die sie bestimmenden Einfluss- und Machtverhältnisse benutzten. Eine analytische Langzeitpsychotherapie half ihnen, ihre Identitätsentwicklung nachzuholen.
Im Schlussbeitrag stellt der analytische Psychotherapeut Peter Bründl, ebenfalls anhand von zwei Fallbeispielen – einen Jungen beim Übergang in die Pubertät und einen Spätadoleszenten – den Behandlungsschritt der „Beendigungsphase“ vor, indem er argumentiert, dass „die Fähigkeit, mit sich selbst allein zu sein“ eine wichtige Grundlage für Kreativität und Kommunikation darstellt. Die Situation, dass eine Behandlung beendet werden muss, kann, darf…, ist selbstverständlich nicht standardisierbar; jedoch in der psychotherapeutischen Zusammenführung von Therapeut und Patient lassen sich Anhaltspunkte herausfiltern, wie gestisch, sprachlich, mental und emotional Erinnerungsarbeit geleistet werden kann und belastende Verluste und Entwicklungssperren aufgehoben werden können.
Diesem ordnet der israelische Kinder- und Jugendlichenpsychoanalytiker Yecheskiel Cohen einen Diskussionsbeitrag zu, in dem er die Verneinung, dass der Adoleszente nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsener sei, umdefiniert in: der Jugendliche ist gleichzeitig Kind und Erwachsener. Diese Betrachtung hat (auch) Auswirkungen auf die Bedeutung, die in der Therapie den Eltern zukommt: Therapien mit Kindern und Jugendlichen sind, ohne die Eltern in die therapeutischen Interventionen einzubeziehen, meist unwirksam.
Fazit
Beziehungserleben als konstitutive, entwicklungs- und identitätsfordernde und –fördernde Elemente im Übergangsraum Adoleszenz bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit in der Entwicklungspsychologie und Therapie. Der „intermediäre Raum“, als Handlungs- und Behandlungsfeld des Therapeuten mit dem Patienten, gewinnt, bei dem Balanceakt zwischen einem glückenden, adoleszenten Entwicklungsprozess und missglückenden, konfliktträchtigen Fixierungen, eine spezifische Bedeutung. Auf sie in den verschiedenen Aspekten therapeutischen Handelns hinzuweisen, verdient Anerkennung und kann dazu beitragen, den durchaus kontroversen Diskurs um geschlossene oder offene Systeme der Selbstregulation zu bereichern; genau so wie die Bedeutung der Adoleszenz in die pädagogisch-erziehungswissenschaftlichen Überlegungen einzubeziehen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.12.2010 zu:
Susanne Hauser, Franz Schambeck, Juliane Bründl, Peter Bründl, Yecheskiel Cohen (Hrsg.): Übergangsraum Adoleszenz. Entwicklung, Dynamik und Behandlungstechnik Jugendlicher und junger Erwachsener. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2010.
ISBN 978-3-86099-682-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9762.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.
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