Ju-Hwa Lee: Inklusion - Eine kritische Auseinandersetzung [...]
Rezensiert von Tobias Schubert, 07.10.2010
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Ju-Hwa Lee: Inklusion - Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von Andreas Hinz im Hinblick auf Bildung und Erziehung von Menschen mit Behinderungen.
Athena-Verlag e.K.
(Oberhausen) 2010.
248 Seiten.
ISBN 978-3-89896-405-0.
D: 29,50 EUR,
A: 30,40 EUR,
CH: 50,00 sFr.
Reihe: Schriften zur Pädagogik bei Geistiger Behinderung - 1.
Thema
Ju-Hwa Lee legt mit dieser Veröffentlichung ihre Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg aus dem Jahr 2009 vor. Darin setzt sie sich kritisch mit dem Inklusionsbegriff auseinander, der spätestens seit der deutschen Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr zuvor erhebliche theoretische und praktische Fragen aufwirft. Lee analysiert in ihrer Arbeit insgesamt 146 Beiträge des in Deutschland wohl bedeutendsten Protagonisten Andreas Hinz aus den Jahren 1987-2009 mit dem Anspruch, wie es im Vorwort Erhard Fischers heißt, „wesentliche Zusammenhänge ‚verstehend‘ zu erschließen“ (9) sowie „eine logische Überprüfung im Hinblick auf Stimmigkeit bzw. Konsistenz der rationalen Begründung“ (9) vorzunehmen. Die dabei zutage tretenden offenen Fragen und Widersprüche arbeitet Lee sehr akribisch heraus, „ohne die Idee der Inklusion als Zielkategorie grundsätzlich infrage zu stellen oder abzuwerten“ (10).
Aufbau und Inhalt
Lee setzt sich in ihrem insgesamt sieben Kapitel umfassenden Buch intensiv mit den Ursprüngen und der Weiterentwicklung des Inklusionskonzepts von Andreas Hinz auseinander. Ausgehend von der Offenlegung ihrer Fragestellung stellt sie terminologische Grundlagen ebenso dar wie unterschiedliche Theorieansätze zur Inklusion, bevor sie sich in Kap. 4 ausführlich mit dem Inklusionskonzept von Andreas Hinz im Speziellen beschäftigt. Diesem folgen eine kritische Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen (Kap. 5) sowie den praktischen Folgerungen (Kap. 6), bevor Lee den Bogen in Kap. 7 mit einem Gesamtfazit schließt.
Lee leitet ihre Arbeit in Kapitel 1 ein mit dem Verweis auf Artikel 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, „in der deutlich ‚an inclusive education‘ postuliert wird“ (11). Vor dem Hintergrund einer inflationären Verwendung des Inklusionsbegriffs mit sehr verschiedenen Bedeutungen (ebd.) richtet Lee nun den Fokus auf das Inklusionsmodell von Andreas Hinz, um dieses hinsichtlich seiner Grundannahmen, theoretischen Ansprüche und Forderungen sowie praktischen Umsetzungsmöglichkeit zu prüfen und in seinem ökonomisch-politischen Kontext zu betrachten. In ihrem methodischen Vorgehen (Kap. 1.3) legt Lee den Schwerpunkt auf einen hermeneutischen Ansatz, in dem es nicht um eine empirische Untersuchung der praktischen inklusiven Pädagogik geht, „sondern vielmehr darum, den Gehalt und die Sinnstruktur des Inklusionskonzeptes von Hinz zu analysieren und zu erörtern“ (17).
Mit Kapitel 2 (Terminologische Erläuterungen) legt Lee wichtige Grundlagen für ihre Arbeit, indem sie die häufig ungenau zueinander abgegrenzten Begriffe ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ inhaltlich spezifiziert und sodann ‚Inklusion‘ und ‚Exklusion‘ als „relative Begriffe“ (25) aus inklusionspädagogischer und systemtheoretischer Perspektive reflektiert.
Verschiedene Theorieansätze der Inklusion sind Inhalt von Kapitel 3. Lee gibt hier einen kurz gefassten Überblick über die „Pädagogik der Vielfalt“ (3.1) nach Prengel, die das „demokratische Prinzip der Gleichberechtigung“ (28) im Rahmen einer feministischen, integrativen und interkulturellen Pädagogik postuliert, um „Gleichheit ohne Angleichung“ (31) zu verwirklichen. Ein wesentliches Augenmerk dieser Pädagogik der Vielfalt liegt auf der „Prozesshaftigkeit der Integration“ (33), worin Lee einen Unterschied zum Inklusionskonzept nach Hinz ausmacht. In Kap. 3.2 arbeitet Lee die Hauptmerkmale der amerikanischen „full inclusion„-Bewegung heraus, die seit 1975 auf festgelegter rechtlicher Grundlage die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung fordert und als prägend auch für europäische und deutsche Inklusionsbestrebungen angesehen werden kann. Auf internationaler Ebene (Kap. 3.3) verweist Lee dementsprechend auf die Salamanca-Erklärung von 1994, die mit dem 1996 nachfolgenden HELIOS II-Aktionsprogramm einen Bogen schlägt bis hin zur UN-Konvention von 2006 und resümiert: „Verschiedene internationale Aktionsprogramme und Erklärungen richten sich zunehmend auf ‚Inklusive Bildung‘ oder ‚Erziehung für alle‘ aus. Jedoch ist davon auszugehen, dass in der Praxis umstrittene Maßnahmenvorschläge bestehen“ (40).
In Kapitel 4 stellt Lee nun
das Inklusionskonzept nach Hinz in den Mittelpunkt ihrer
Ausführungen. Sie kritisiert zunächst die unkritische
Aufnahme des angloamerikanischen Begriffs der ‚inclusion‘
in die deutschsprachige Diskussion durch Hinz, der dabei die
Unterschiede der bildungspolitischen Rahmenbedingungen zwischen
Deutschland und den USA nicht berücksichtige (41). Das
Verhältnis von Integration und Inklusion bleibe dabei ungeklärt
und verwirrend, da Hinz das integrationspädagogische Verständnis
der Integration mit seinem Fokus auf die ‚totale‘ und
‚uneingschränkte‘ Eingliederung vom
sonderpädagogischen Verständnis abgrenze und nur das erste
als dem Inklusionsansatz entsprechend ansehe (43). Im Folgenden (Kap.
4.2) stellt Lee die Kritik an der Integration aus der
inklusiven Perspektive differenziert dar, die sich vor allem an der
„Zwei-Gruppen-Theorie“ und einer Ressourcen-zuweisenden
Etikettierung von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen
Förderbedarf entzündet. Die Alternativen, die nun das
Inklusionskonzept anbietet, kommen in Kap. 4.3 zur Sprache. Lee
arbeitet als Kernpunkte das Verständnis von Menschen mit
Behinderung als Minderheiten, die Öffnung für alle
Dimensionen von Heterogenität und die Orientierung an der
Bürgerrechtsbewegung heraus. Ausgehend von einem Verständnis
von Behinderung als „Produkt einer gesellschaftlichen Selektion
und Segregierung“ (50) stelle das Inklusionskonzept „im
Grunde nichts wirklich Neues dar“ (ebd.), wohingegen es sich
durch die Fokussierung auf Heterogenität mit erweiterten
Dimensionen deutlich von bisherigen Theorieansätzen der
Integrationspädagogik unterscheide (56). Diesem Aspekt widmet
Lee die Kapitel 4.4 und 4.5, in denen sie das Primat der
Heterogenität bei Hinz dezidiert beleuchtet und nachfolgend
seine darauf basierenden Umgangsstrategien mit Heterogenität
untersucht. Sie kritisiert hierbei, dass der „authentische
Aspekt der Prozesshaftigkeit bei ihm nicht deutlich zum Vorschein“
komme (65), sondern in seinem Fokus auf den Zielpunkt, „an dem
die Balance zwischen Gleichheit und Verschiedenheit bereits
hergestellt ist“ (65), einen „gewissen euphorisierenden
Effekt“ (66) erzeuge.
Als Instrument zur
Verwirklichung inklusiver Bildung reflektiert Lee in Kap. 4.6
den von Hinz & Boban 2003 ins Deutsche übersetzten
„Index für Inklusion“, bevor sie in Kap. 4.7 das
Augenmerk auf den „Personenkreis des Inklusionskonzeptes“
richtet. Ausgehend von der Prämisse, dass Behinderung in
inklusivem Verständnis nach Hinz nur noch einen von mehreren
Heterogenitätsaspekten darstellt, kritisiert Lee auch
hier Ungenauigkeiten in der Argumentation, die Unterschiede in dem
Angebot einer „Schule für alle“ zwischen
Schülerinnen und Schülern mit
Entwicklungsbeeinträchtigungen einerseits und schweren und
Mehrfachbehinderungen andererseits (als „Menschen mit
elementaren Unterstützungsbedürfnissen“) mache (77).
An diesem Beispiel zeigt sich für Lee das Grunddilemma
der inklusiven Prämisse: „Es ist fraglich, ob eine Schule
für alle im Inklusionskonzept namentlich für ‚Alle‘
ohne jegliche Beschränkung umgesetzt werden kann“ (78).
Die Konsequenzen für ein „gemeinsames allgemeines
Curriculum“ beleuchtet Lee in Kap. 4.8. Sie zeigt dabei
auf, in welchem Zusammenhang es zur Forderung einer „Aufhebung
der sonderpädagogischen Förderung“ (81) im
Allgemeinen und einer Abwendung vom Prinzip der individuellen
Förderplanung im Besonderen kommt. Kontrastierend hierzu wird
der Ansatz einer „multilevel instruction“ beschrieben
(81), der nach Hinz in ein „Individualized Education Program
(IEP)“ (82) mündet. Lee positioniert sich hierzu
kritisch und fragt, „ob wirklich jedem einzelnen Schüler
genügend individuelle Förderung zuteil wird“ (83).
Das Verhältnis von „Inklusiver Diagnostik und
persönlicher Zukunftsplanung“ beleuchtet Lee in
Kap. 4.9. Hier geht es um die Abkehr von einer traditionellen,
Ressourcen-beschaffenden Diagnostik hin zu einer persönlichen
Zukunftsplanung, durch die letztlich „die bisherige
Expertenrolle in der Sonder- und Integrationspädagogik in Frage“
gestellt wird (86). Auf der fachwissenschaftlichen Ebene führt
dies zwangsläufig zu einer „Neudefinition der
sonderpädagogischen Rolle“ (Kap. 4.10) in ihrem
Spannungsverhältnis zur allgemeinen Pädagogik.
Mit Kapitel 5 leistet Lee eine umfassende Kritische Auseinandersetzung mit dem Inklusionskonzept nach Hinz in der Theorie. Sie überprüft hier – ausgehend von ihren bereits in Kap. 4 umrissenen Überlegungen – dezidiert die Stringenz des Konzeptes im Hinblick auf
- Irritationen um den Begriff der Inklusion (Kap. 5.1),
- das Etikettierungs- und Diskriminierungsproblem des Behinderungsbegriffes (5.2),
- das Pauschalisierungsproblem im Kontext einer Schule für Alle (5.3),
- spezielle individuelle Erziehungsbedürfnisse (5.4),
- das Postulat der pauschalen, systemischen Ressourcenzuweisung (5.5),
- die Neudefinition der Sonderpädagogik und der Rolle des Sonderpädagogen (5.6) und schließlich
- Inklusion als Vision (5.7).
Der Frage der Umsetzbarkeit des Inklusionskonzeptes widmet Lee sich folgerichtig in Kapitel 6 (Kritische Auseinandersetzung mit dem Inklusionskonzept von Hinz in der Praxis), das damit sowohl unter qualitativen als auch quantitativen Aspekten den Schwerpunkt des Buches ausmacht. Lee beleuchtet in Kap. 6.1 (Inklusion im allgemeinpädagogischen Diskurs und im Kontext bildungspolitischer Rahmenbedingungen) die von Hinz kritisierten Fehlentwicklungen der schulischen Integration im Spannungsfeld zu dem hohen Anspruch des Inklusionskonzepts. Dabei weist sie ebenso auf das Problem des fehlenden Interesses seitens der Allgemeinen Pädagogik (145) hin wie auf die aus ihrer Sicht unzureichende Auseinandersetzung Hinz‘ mit den aktuellen bildungspolitischen Debatten, die insbesondere unter dem Aspekt der Qualitätsentwicklung und Bildungsstandards/PISA-Studie kontrovers geführt werden: „Deutlich wird, dass je intensiver das Thema der Bildungsstandards in die Inklusionsdebatte einbezogen wird, desto unausweichlicher spezielle Erziehungsbedürfnisse von Schülern mit Behinderungen Berücksichtigung finden müssen“ (164). In ihren weiteren Ausführungen bezieht Lee sich auf gesamtgesellschaftliche und darüber hinaus auch globale Aspekte, in deren Kontext das Inklusionskonzept von Hinz gerade auch vor dem Hintergrund eines primär ökonomisch geprägten Qualitätsbegriffs sehr kritisch betrachtet werden müsse (Inklusion im Zeitalter der Globalisierung, Kap. 6.2). Als zentralen Bezugspunkt macht Lee in Kap. 6.3 die Inklusion in Bezug auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus, deren Aussagen sie zum Inklusionskonzept von Hinz, das im Gegensatz zur UN-Konvention die Notwendigkeit individueller sonderpädagogischer Unterstützung negiert, kritisch in Beziehung setzt: „Problematisch ist bei all dem, dass Hinz zu sehr einen systemischen Zugang betont. Solch eine einseitige Betonung diskriminiert jedoch unumgänglich eine bestimmte Personengruppe, für die doch individuelle spezielle Unterstützungen notwendig sind“ (199).
In ihrem Fazit (Kap. 7) fasst Lee noch einmal ihre wesentlichen Kritikpunkte am Inklusionskonzept von Hinz zusammen: Es sind dies die verwirrende Kontrastierung zwischen den Begriffen „Integration“ und „Inklusion“, der von Hinz zugrunde gelegte Behinderungsbegriff und das Etikettierungs- und Kategorisierungsproblem, sein unspezifischer, „systemischer“ Zugang zu Fragen der Unterstützung von Lernprozessen, die von ihr als unspezifisch kritisierte Neubestimmung der Rolle der Sonderpädagogen sowie die von ihm postulierte pauschale Ressourcenzuweisung. Lee benennt abschließend das Dilemma der Inklusion, das sich insbesondere aus der Relativierung der Dimension der Behinderung ergibt, wie Hinz sie propagiert, und schließt mit der etwas unscharfen Aussage: „Das Inklusionskonzept von Hinz mit seiner rigorosen Forderung nach einem sogenannten unspezifischen Personenkreis, der ‚alle‘ umfassen soll, kann unter diesen Umständen nicht als alternativloser Weg angesehen werden“ (211).
Diskussion und Fazit
Ju-Hwa Lee gelingt mit ihrer kritischen Auseinandersetzung zum Inklusionskonzept von Andreas Hinz eine angesichts der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion hoch aktuelle, umfassend und sorgfältig recherchierte sowie theoretisch fundiert untermauerte Analyse. Sie zeigt vielfältige Inkonsistenzen und Widersprüche auf, die in der Betrachtung der terminologischen, erziehungswissenschaftlich-theoretischen, curricularen, bildungspolitischen und nicht zuletzt praktischen Aspekte des Inklusionskonzeptes von Hinz deutlich werden. Lee vermag diese dezidiert zu belegen und wendet sich somit nachdrücklich gegen implizit überhöhte Ansprüche und rigorose Forderungen im Kontext einer Inklusionsdebatte, die dadurch in die Gefahr gerät, ihr eigentliches Ziel, die Teilhabe aller Schülerinnen und Schülern an gemeinsamer schulischer Bildung, zu verfehlen.
Aufbau und Inhalt des Buches sind klar gegliedert, so dass unterschiedliche rezeptive Zugangsweisen ermöglicht werden. Das Buch wendet sich mit seinem theoretischen Anspruch an eine Zielgruppe, die sich vertieft mit den erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Aspekten der Integration, Inklusion und des gemeinsamen Unterrichts befasst, und dürfte damit die fachliche Diskussion sehr bereichern und vor allem zu deren Versachlichung beitragen.
Rezension von
Tobias Schubert
Hauptamtlicher Studienleiter im Schulartteam Sonderpädagogik am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH), Systemischer Berater (DGsP), Landesfachrichtungsberater für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Schleswig-Holstein
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