Heinz Kammeier (Hrsg.): Maßregelvollzugsrecht
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 15.12.2010

Heinz Kammeier (Hrsg.): Maßregelvollzugsrecht. Kommentar.
Walter de Gruyter
(Berlin) 2010.
3., neu bearb. Auflage.
649 Seiten.
ISBN 978-3-89949-049-7.
98,00 EUR.
CH: 157,00 sFr.
Reihe: De-Gruyter-Kommentar.
Autorinnen und Überblick
„Der Kammeier“ ist der umfassende Kommentar zu allen Rechtsfragen rund um den Maßregelvollzug. Dr. Bern Kammeier ist studierter Theologe und Jurist, war langjährig als Klinikseelsorger in einer großen Maßregelvollzugsklinik tätig, beschäftigt sich seit Jahren im Rahmen von Forschung, Beratung und Praxis mit dem Maßregelvollzug. Der Kommentar zum Maßregelvollzug wird seit 1994 bereits in dritter Auflage vorgelegt. An der vorliegenden Ausgabe haben neben dem Herausgeber weitere im Rechtsgebiet erfahrene ExpertInnen (u. a. Pollähne, Rzepka, Kamann) mitgewirkt.
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende, mittlerweile dritte Ausgabe des von Heinz Kammeier herausgegebenen Kommentars zum Maßregelvollzug wurde vollständig überarbeitet und um zusätzliche Fragestellungen erweitert. So wird die Veränderung im juristischen, aber auch organisatorischen Bereich des Maßregelvollzugs der vergangenen Dekade in einen orientierenden Rahmen gestellt, wodurch die in der Rechts- sowie der Vollzugspraxis auftretenden Fragen beantwortbar werden. Der Band greift neben der Kommentierung der einzelnen Ländergesetze zum Maßregelvollzug gem. §§ 64, 64 StGB grundsätzliche Fragestellungen, wie etwa verfassungsrechtliche Aspekte, oder Finanzierungsfragen auf. Der im Vergleich zur Vorauflage deutlich umfangreichere Band ist in 11 Abschnitte unterteilt, welche von neun ausgewiesenen Fachspezialisten neu formuliert, bzw. überarbeitet wurden.
In Abschnitt A greift der Herausgeber die „Entstehung und Entwicklung von Maßregelrecht und Maßregelvollzug“ auf. Er skizziert die vor dem Hintergrund fortschreitender Industrialisierung und wirtschaftlicher Entwicklung auftretenden sozialen Problemlagen und deren Niederschlag im Bereich der Kriminalität ab dem 19. Jahrhundert. Kritisch werden Justiz und Psychiatrie nicht nur als normgebende sondern auch als Umdeutungsinstanzen, welche soziale Probleme in individuelle Pathologie umdeuten und bearbeiten eingeordnet. Kammeier nutzt die Beschreibung des historischen Hintergrunds um die weiteren Entwicklungsschritte, die Ausdifferenzierung in Strafrecht und Psychiatrie als „Modernisierungsprozess der Gesellschaft“ darlegen zu können: die Identifikation gefährlicher Wiederholungsstraftäter, welche das Gemeinwohl, die öffentliche Sicherheit gefährden, die Ausdifferenzierung in der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit psychisch kranker Straftäter, die Erschaffung spezialisierter Institutionen zur Betreuung und Behandlung dieser Tätergruppe, aber auch die Pervertierung der gesonderten strafrechtlichen und psychiatrischen Behandlung durch die Nationalsozialisten, welche den Maßregelvollzug als Umsetzungsmöglichkeit für ihre rassenhygienischen und wirtschaftlichen Zwecke benutzten. Kammeier schildert die rechtlichen Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs im Nationalsozialismus ausführlich um in einem weiteren Unterkapitel „Maßregelrecht und Maßregelvollzug in der Bundesrepublik Deutschland“ die jüngere Entwicklung nachvollziehbar machen zu können. Dominierend sei hier die „Dominanz des Sicherheitsdenkens“ (17) in Politik und Justiz, wodurch es zu einer zunehmenden Verschärfung der Rechtssituation und dadurch zu einer erheblichen Zunahme an Einweisungen in den psychiatrischen Maßregelvollzug und der Unterbringungszahlen gekommen ist. Ein Endpunkt ist – so Kammeier- darin erreicht, dass der erhebliche Aufwand für den stationären Maßregelvollzug an Grenzen gestoßen ist und mittlerweile fiskalische Überlegungen und Probleme zu einer stärkeren Hinterfragung der Anwendung des Maßregelvollzugs und zu einer Öffnung der Forensischen Institutionen in Form von Ambulanzen und rückfallpräventiven Maßnahmen geführt hat.
In einem für die vorliegende Ausgabe neu verfassten Abschnitt geht Pollähne, Rechtsanwalt aus Bremen auf „Verfassungsrechtliche Grundlagen und Menschenrechte“ ein. Verfassungsrechtlich verankerte Grundrechte werden hier als Rechte beschriebenen, die den Untergebrachten im Maßregelvollzug nicht gewährt werden, sondern (die) „vielmehr in die Kliniken (von diesen in die Unterbringung) ‚mitgebracht‘“ (27) werden. In dem Spannungsfeld individueller Bedürfnisse des Patienten (Freiheit, Behandlung) und gesellschaftlicher Erwartung (Sicherung, Schutz vor der Gefährlichkeit des Patienten) seien diese Grundrechte jedoch systematisch gefährdet und bedürften des (ebenso systematischen) besonderen Schutzes. Als Grundregel gilt dabei das grundrechtlich verankerte Recht auf persönliche Freiheit, woraus sich, und das ist zentral für den Maßregelvollzug, der „Vorrang der Besserung [des Patienten] vor der Sicherung“ ableiten lässt. Die in Anordnung, Vollzug und Beendigung der Maßregel unumgänglich auftretenden Konfliktsituationen werden in diesem Kapitel mit Hinweis auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen und z. B. für die Themen Prognosestellung, Therapie, Pflege und Resozialisierung, Sicherheit, Verwaltungsverfahren und Rechtsschutz im Maßregelvollzug ausformuliert.
Fritz Baur, erster Landesrat und Kämmerer beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe geht in Abschnitt C auf „Vollzugsgrundlagen, Organisation und Finanzierung“ des Maßregelvollzugs ein. Die gesetzlichen Grundlagen aus dem Strafvollzugsgesetz, vor allem aber die gesetzlichen (und sehr unterschiedlichen) Länderregelungen zum Vollzug der Maßregeln nehmen hier breiten Raum ein. In einem eigenen Unterkapitel werden Organisationsformen und unterschiedliche Trägermodelle (Staatliche Einrichtungen vs. gewerbliche bzw. frei gemeinnützige Träger) dargestellt und die Beschränkungen für nicht-staatliche Organisationsformen des Maßregelvollzugs benannt, z. B. die Notwendigkeit Grundrechte einschränkende Maßnahmen in „privaten“ Kliniken nicht durch das beim dortigen Träger angestellte Personal entscheiden und durchführen zu lassen. Fragen der baulichen Voraussetzungen werden umfangreich, Aspekte der personellen Ausstattung detailliert, z. T. für einzelne Berufsgruppen ausgearbeitet. Zwei weitere Unterkapitel beschäftigen sich mit der Regelung der Finanzierung des Maßregelvollzugs, inkl. der Regelungen zur Kostenbeteiligung der untergebrachten Patienten und mit den Regelungen zur Tätigkeit von Besuchskommissionen und dem Beschwerde- und Antragsrecht im Vollzug.
Im umfangreichen Abschnitt D geht Bernd Wagner, Rechtsanwalt in Hamburg auf Grundsätze und rechtliche Regelungen der Behandlung im Maßregelvollzug ein. Wagner geht einführend auf grundsätzliche Aspekte der Behandlung ein: Krankheitsbegriff, Behandlungsbegriff, Behandlungskonzepte, unterschiedliche Therapiemethoden werden mit Nennung zentraler Literaturstellen erläutert. Danach stellt der Autor vollständig die unterschiedlichen Länderregelungen zur Behandlung im Maßregelvollzug vor, unterteilt in Aufnahme, Postakutbehandlung und Entlassvorbereitung. Ein längerer Abschnitt befasst sich mit den gesetzlichen Grundlagen der Zwangsbehandlung, bzw. den –aus Sicht des Autors- nötigen und möglichen Maßnahmen zur Entwicklung von Behandlungsmotivation, Beteiligung und Freiwilligkeit beim Patienten.
Rolf Marschner, Fachanwalt für Sozialrecht aus München und Fachautor bearbeitete den Abschnitt E „Rehabilitation“. Der Maßregelvollzug als freiheitsentziehende Maßregel ist einem umfassenden Wiedereingliederungsgebot verpflichtet. „Nur wenn die Unterbringung aufgrund der rehabilitativ orientierten Angebote so kurz wie möglich gehalten wird, ist der auferlegte Freiheitsentzug noch rechtmäßig“ (165). Entsprechend diesem Grundsatz werden in dem Kapitel unterschiedliche Rehabilitationsbereiche (Gesundheit, Ausbildung, berufliche Eingliederung) und Aspekte der Sozialversicherungspflicht (im Fall externer Beschäftigung) und Entlohnung erörtert. Ein Unterkapitel befasst sich mit den Grundlagen und der rehabilitativen Funktion von persönlichen Finanzmitteln (Barbetrag, Taschengeld) und Überbrückungsgeld.
Vollzugslockerungen werden von Helmut Pollähne unter der Überschrift „Das Maß des Freiheitsentzugs“ behandelt. Vollzugslockerungen dienen der externen Überprüfung (z. B. stationär erarbeiteter Therapieziele) und der Erprobung im Rahmen der Entlassvorbereitung. Pollähne geht in dem umfangreichen Abschnitt auf unterschiedliche Konzeptionen und Gestaltungsmöglichkeiten von Lockerungsmaßnahmen (Ausführungen, Ausgänge, Beurlaubungen, Offener Vollzug) ein, benennt die jeweils in den Bundesländern geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen. Als Leitmotiv für diese Ausführungen leitet Pollähne einen verfassungsrechtlich begründeten „Rechtsanspruch auf Vollzugslockerungen“ (191) aus; eine Auffassung die in Fachkreisen wahrscheinlich nicht unwidersprochen bleiben wird. Grundlagen für die Versagung von Vollzugslockerungen (Therapiegefährdung, negative Kriminalprognose etc.) und verfahrensrechtliche Aspekte ergänzen die differenzierten Ausführungen in diesem Abschnitt.
Wolfgang Lesting, Richter am Oberlandesgericht Oldenburg greift in Abschnitt G, „Grundrechte und Einschränkungen“ einzelne Patientenrechte und deren mögliche, bzw. notwendige Einschränkung auf: persönlicher Besitz, Vorenthaltung und Entzug von Gegenständen, eigene Kleidung, privater Besuch (und dessen Überwachung, bzw. dessen Verbot), Schriftwechsel und Telefonverkehr, Freizeitgestaltung und Medienkonsum, Religionsausübung werden ausführlich und jeweils mit Verweis auf die unterschiedlichen Länderregelungen aufgegriffen. Lesting stellt seinen Ausführungen ein Motiv aus der Arbeit Goffmans zu „totalen Institutionen“ voran: die Einschränkung persönlichen Besitzes bedeutet hier eine „Wegnahme der Identitäts-Ausrüstung“, ein Umstand der –im Fall zu starker Einschränkung- einen Angriff auf Artikel 2 Grundgesetz „Schutz der Menschenwürde“ darstellt. Entsprechend plädiert der Autor auf eine „angemessene“ Ausstattung der Patienten mit persönlicher Habe und Ermöglichung zur gesellschaftlichen Teilhabe.
Sicherungsmaßnahmen sowie die Regelungen zum unmittelbaren Zwang bearbeitet Dorothea Rzepka, Professorin am Fachbereich Rechtwissenschaft der Universität Frankfurt im nächsten Kapitel. Verfassungsrechtliche Vorgaben in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit von Zwangs- und Sicherungsmaßnahmen, deren Entscheidung, Bekanntmachung, Begründung und Dokumentation werden unter Rückgriff auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und die länderrechtlichen Regelungen erläutert und anwendungsbezogen auf einzelne Maßnahmen (Untersuchung, Durchsuchung, Festnahme, erkennungsdienstliche Maßnahmen und besondere Sicherungsmaßnahmen wie Fesselung, Isolierung oder Fixierung, bzw. unmittelbarem Zwang) behandelt.
Ein für die vorliegende Überarbeitung des Bandes neu geschriebener Abschnitt J geht auf „Besondere Personengruppen“ ein. Helmut Pollähne und Dorothea Rzepka behandeln hier diejenigen Personengruppen im Maßregelvollzug, deren Rechtsstellung teilweise unklar geregelt ist, etwa die Patienten die sich zwar in Maßregelvollzugseinrichtungen befinden, gegen die jedoch (noch) keine Maßregeln gem. §§ 63, 64 StGB verhängt wurden, etwa einstweilig untergebrachte Straftäter, deren Unterbringungsstatus sich aus den §§ 81 bzw. 126a StPo ergibt. Die rechtlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit personenbezogenen Besonderheiten werden hinsichtlich weiblicher Untergebrachter, Jugendlicher, Patienten mit Migrationshintergrund und mit Behinderung erfasst. Auch wenn die entsprechenden Unterkapitel z. T. sehr knapp ausfallen ist damit ein Überblick zu vollstreckungs-, jugend- und sozialrechtlichen Fragen gegeben.
Carsten Gericke, Rechtsanwalt aus Hamburg befasst sich in Abschnitt K mit dem Rechtsschutz im Maßregelvollzug, also die Fragen rund um die Rechte der untergebrachten Patienten. Gericke geht zunächst auf die besonderen Situationen des eingeschränkten Rechtsschutz ein, etwa wenn therapeutische Gründe als Begründung für die Einschränkung angeführt werden, oder stark querulatorisches Verhalten von Patienten zu Einschränkungsmaßnahmen führen. In weiteren Unterabschnitten werden unterschiedliche Rechtsschutzmöglichkeiten wie Beschwerderecht, Dienstaufsichtsbeschwerde, Petition und ausführlich der gerichtliche Rechtsschutz nach § 109 StVollzG ausgeführt.
Für die vorliegende Ausgabe neu verfasst wurde der Abschnitt L „Vollstreckungsrecht“, der durch den Richter i. R., Ulrich Kamann bearbeitet wurde. In zwei großen Unterkapiteln werden hier das materielle Vollstreckungsrecht mit den Gebieten Vollstreckungsreihenfolge, Vorabvollstreckung, Reststrafenregelung, Dauer der Unterbringung und die Maßregel der Führungsaufsicht (inkl. der neuen Regelungen nach der Reform der Führungsaufsicht 2007) und das formelle Vollstreckungsrecht mit einer Vielzahl von Aspekten (u. a. gerichtliche Zuständigkeit, Vollstreckungsverfahren) behandelt.
Im über 150 Seiten starken Anhang finden sich alle relevanten Bundesgesetze in Auszügen, sowie die vollständen Gesetze der einzelnen Bundesländer, ein Fundstellenregister der kommentierten landesrechtlichen Normen, sowie ein ausführliches Sachregister.
Diskussion
Das Rechtsgebiet des Maßregelvollzugs, seine Anordnung, die Gestaltung der Unterbringung, die Beendigung des Vollzugs z. B. durch Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung und die ambulante Nachsorge stellen ein äußerst komplexes Rechtsgebiet dar. Für die in der Praxis mit dem Vollzug befassten Berufsgruppen, Richter und Strafverteidiger, Staatsanwaltschaften, Klinik- und Stationsleitungen ist ein übersichtliches Handbuch, das alle relevanten Aspekte erfasst und als Kommentar fassbar macht unentbehrlich. Das in dritter Auflage vorliegende Werk erfüllt beide Merkmale, ist Kommentar und Handbuch. Durch die in der Neuauflage zusätzlich aufgenommenen Kapitel wird die fast vollständige Erfassung aller relevanten Fragestellungen und deren rechtliche Fundierung erreicht. Lediglich einzelne Spezialaspekte, wie z. B. die Nutzungsregelung von Personal Computern und Internet im Vollzug bleiben unberücksichtigt. Trotz der Fülle an Beiträgen und der Vielzahl an kommentierten Stellen ergeben sich für die Lektüre keine Einschränkungen, zumal der Zugriff auf einzelne Fragestellungen durch ein detailiertes Sachregister erleichtert wird. Durch die Aufnahme aller landesrechtlichen Regelungen im Anhang des Bandes ergeben sich für den Leser gute Vergleichsmöglichkeiten zur Vollzugsgestaltung in der gesamten Bundesrepublik.
Fazit
Heinz Kammeiers „Massregelvollzugsrecht“ ist das Standardwerk für alle mit dem Maßregelvollzug Beschäftigte. Die Genauigkeit der rechtlichen Fundstellen und die Übersichtlichkeit in der Darstellung machen den umfassenden Kommentar zum unverzichtbaren Helfer in den Kliniken, Vollstreckungsbehörden, anordnenden Gerichten und Anwaltskanzleien. Die vollständige Darstellung der länderrechtlichen Regelungen zum Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung geben einen raschen Überblick in der von föderalen Strukturen geprägten Unterbringungssituation und erlauben einen direkten Vergleich der Rechtspraxis in den jeweiligen Bundesländern. Die vielfältigen Literaturhinweise verweisen auf weiterführende Literaturstellen. Der Kommentar zum Maßregelvollzug wird weiter die Praxis der Rechtsprechung und den Vollzug der Maßregeln prägen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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