Ulrich Deinet, Maria Icking (Hrsg.): Jugendhilfe und Schule
Rezensiert von Thomas Buchholz, 24.09.2010

Ulrich Deinet, Maria Icking (Hrsg.): Jugendhilfe und Schule. Analysen und Konzepte für die kommunale Kooperation. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2010. 2., durchges. Auflage. 260 Seiten. ISBN 978-3-86649-317-9. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 44,00 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die Anfänge der Kooperationsbeziehungen zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und Schule gehen bis in die 1970er-Jahre zurück. Jedoch konstatierte Thomas Olk noch im Jahre 2005, dass „das Thema Kooperation von Jugendhilfe und Schule … im Wesentlichen ein politisches Randthema geblieben [ist] und … niemals einen wirklich wichtigen Platz in der Hierarchie der bildungs- und sozialpolitischen Topthemen erringen“ (Olk, T.: Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. In: Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Band 4: Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. München, 2005, S. 11) konnte. Es ist jedoch die Tendenz zu beobachten, dass das Thema stetig an Bedeutung gewinnt und sich heute zunehmend zu einer Kernfrage in der Jugend- und Bildungspolitik entwickelt. In Anlehnung an die Systematisierung der KMK und den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (beide in: Hartnuß, B./Maykus, S., Hg.: Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Berlin, Fulda, 2004) lassen sich folgende Handlungsfelder für die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule identifizieren:
- Tageseinrichtungen für Kinder und Schule: Übergang von Kindergarten in Grundschule
- schulbezogene Angebote offener Jugendarbeit (§11 SGB VIII): Freizeit und interessengebundene Angebote
- Jugendsozialarbeit (§13 SGB VIII): Übergang von Schule in eine Ausbildung
- Schulsozialarbeit und schulbezogene Angebote der Kinder- und Jugendhilfe
- Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz (§14 SGB VIII)
- Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen (z.B. schulische Lern- und Leistungsdefizite, Verhaltensauffälligkeiten in und außerhalb der Schule, Entwicklungsverzögerungen)
- Erzieherische Hilfen
- Erziehungs- und Familienberatung.
Gleichzeit ist zu beobachten, dass gerade im Kooperationsfeld von Jugendhilfe und Schule Fachkräfte aus beiden Professionen vor großen Herausforderungen stehen. Nicht nur systembedingte Unterschiede, sondern auch kooperationshemmende Strukturen und intransparente Arbeitsabläufe können Kooperationsprozesse erschweren (vgl. Olk, T./Speck, K.: LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen - Institutionelle und berufskulturelle Bedingungen einer „schwierigen“ Zusammenarbeit. In: Becker, P./Schirp, J. (Hrsg.): Jugendhilfe und Schule. Zwei Handlungsrationalitäten auf dem Weg zu einer? Münster, 2001, S. 46-85).
Trotzdem gibt es immer wieder gute Beispiele für gelingende Kooperationsprozesse von Sozialpädagogen der Kinder- und Jugendhilfe und Lehrern in Schulen. Diese werden nicht zuletzt durch die Erarbeitung einer entsprechenden Kooperationskultur und die Beteiligung aller Akteure an kooperationsbezogenen Aushandlungsprozessen unterstützt. An diesem Punkt setzt der Sammelband von Ulrich Deinet und Maria Icking an: Autoren aus verschiedenen Bereichen stellen gelungene Kooperationsansätze auf kommunaler Ebene vor, die eine positive Vorbildwirkung auf Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und Schule haben können.
Aufbau und Inhalt
Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die zweite Auflage des Buches (vgl. die Rezension von Peter-Ulrich Wendt vom 16.11.2006).
Im ersten Teil werden in drei Beiträgen theoretische und konzeptionelle Grundlagen für die Kooperation von Jugendhilfe und Schule besprochen: Im ersten Beitrag beschreiben Ulrich Deinet und Maria Icking Potentiale für Schule, die sich aus einer Öffnung gegenüber der Jugendhilfe entwickeln können. Dabei gehen die Autoren von einem erweiterten Bildungsbegriff aus, der non-formelle und informelle Bildungsprozesse als Arbeitsfeld von Jugendhilfe und Schule in den Blick nimmt. Im nächsten Beitrag thematisiert Ulrich Deinet das Konzept der Sozialraumorientierung. Vor diesem Hintergrund wird Schule als Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ernst genommen und zu einem Arbeitsfeld für die Kinder- und Jugendhilfe. Anschließend beschreibt Raingard Knauer unterschiedliche Anforderungen für Akteure von Jugendhilfe und Schule. Beide Partner sind in ihren jeweiligen Systemlogiken verhaftet, was sich bereits in der Vergangenheit als kooperationshemmend für einen gelingende Zusammenarbeit erwiesen hat. Die Autorin beschreibt daher Entwicklungsfelder für die Kooperationspartner aus Jugendhilfe und Schule, die zugleich Qualitätsmerkmale guter Kooperationspraxis darstellen.
Im zweiten Teil des Bandes widmen sich drei Autoren dem Kooperationsfeld der Jugendarbeit. Zunächst untersucht abermals Ulrich Deinet, welche Bedeutung die Ganztagsschule für die Entwicklung der Kooperation von Jugendarbeit und Schule hat. Karlheinz Thimm macht anschließend die Potentiale der Jugendarbeit für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen deutlich. Hierzu greift er auf das erweitere Bildungsverständnis und die bekannte Kategorien der informellen bzw. non-formalen Bildungsprozesse zurück. Anschließend beschreibt Helle Becker Herausforderungen aber auch Potentiale einer politischen Bildung im schulischen Kontext unter dem Aspekt der Kooperation von Schule mit Angeboten der Jugendarbeit.
Das dritte Kapitel ist mit dem Titel „Soziale Arbeit an Schulen“ überschrieben und meint im Kern das Handlungsfeld der Schulsozialarbeit. Ulrich Deinet beschreibt unterschiedliche Konzepte der Schulsozialarbeit und verdeutlicht, welche thematischen Schwerpunktsetzungen die Praxis in diesem Kooperationsfeld hervorgebracht hat. Anschließend widmen sich Ulrike Leonhardt und Beate Schnabel der Elternarbeit in der Schule. Die Autoren beschreiben, in welcher Form Eltern in Schulen beteiligt werden können. Im dritten Beitrag dieses Teils beschreibt Claudia Streblow ausgehend von ihren Projekterfahrungen in Berliner Hauptschulen einen konkreten Ansatz für die Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Das Kooperationsmodell der Schulstationen eröffnet Schülern erweiterte Erfahrungsräume außerhalb des regulären Klassenkontextes.
Der Übergang von der Schule in den Beruf wird im vierten Abschnitt des Buches als Handlungsfeld für die Kooperation von Jugendhilfe und Schule thematisiert. Chancen für einen gelingenden Übergang eröffnen sich, wenn es Jugendhilfe und Schule gelingt, zunehmend auch Wirtschaftsunternehmen in ihre Angebote einzubeziehen. Die Bedeutung von Wirtschaftsunternehmen für die Berufsorientierung verdeutlicht Maria Icking im ersten Beitrag dieses Kapitels. Anschließend stellt Wenka Wetzel ihre Erfahrungen in Bezug auf die geschlechtsspezifische Berufsorientierung von Mädchen dar. Unter dem Aspekt des Netzwerkmanagements gibt Holger Spiekermann einen Einblick aus seiner wissenschaftlichen Begleitung eines durch die EU geförderten Programms zum Aufbau eines regionalen Netzwerkes am Übergang von der Schule in den Beruf.
Der letzte Teil des Bandes untersucht keine konkreten Handlungsfelder für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, sondern beschreibt notwendige Kooperationsstrukturen und Planungskonzepte auf kommunaler Ebene. Im ersten Beitrag dieses Teils beschreibt Maria Icking Erkenntnisse aus einer empirischen Untersuchung zu bestehenden Kooperationsstrukturen in ausgewählten Kommunen in Nordrhein-Westfalen. Stefan Maykus weist im Anschluss auf die Notwendigkeit einer Verzahnung von Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung hin. Er macht deutlich, dass dieses Kooperationsfeld in hohem Maße entwicklungsbedürftig ist. Der letzte Beitrag beschreibt das Konzept einer „Zukunftsschule im Wohnquartier“. Hierbei macht Gaby Grimm deutlich, dass ein solches Projekt über die Vernetzung von Jugendhilfe und Schule hinaus geht. Vielmehr bedarf es hierbei einer Integration verschiedener Ressorts zu einem institutionellen Zusammenhang.
Diskussion
Das Buch erhebt nicht den Anspruch, das gesamte Spektrum der Kooperationsfelder von Jugendhilfe und Schule zu bearbeiten, wie der Titel zunächst vermuten lässt. Wer Ausführungen zu Kooperationsbereichen wie den Hilfen zur Erziehung, Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschulen oder erzieherischen Kinder- und Jugendschutz sucht, wird in dem Buch nicht fündig werden. Die Autoren entscheiden sich bewusst für drei exemplarische Kooperationsfelder: die Kinder- und Jugendarbeit im schulischen Kontext, Schulsozialarbeit und den Übergang von der Schule in den Beruf.
Dabei wäre die Thematisierung von Handlungsfeldern der einzelfallbezogenen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe oder des Kinderschutzes dringend angezeigt. Dies gilt umso mehr, da die bisherige Literatur zum Thema Kooperation von Jugendhilfe und Schule diese Felder eher vernachlässigt. Darüber hinaus erfährt das Thema des Kinderschutzes bei Kindeswohlgefährdung für Schulen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen zunehmend an Brisanz. So hat z.B. die Bundesregierung im Jahr 2009 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der Schulen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Anzeichen auf Gefahren für ihr Wohl stärker in die Pflicht nimmt (BT-Drs. 16/12429). Gleichzeitig haben auch mehrere Länder in ihren Schulgesetzen entsprechende Regelungen getroffen. Gerade auch auf kommunaler Ebene gibt es Ansätze zur Bearbeitung dieses Kooperationsfeldes. In dieser Hinsicht hätten Ulrich Deinet und Maria Icking durch eine inhaltliche Erweiterung ihres Buches in der zweiten Auflage einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke in der Publikationslandschaft leisten können.
Darüber hinaus gelingt es dem Band leider nur randständig, aktuelle Kooperationsbemühungen in den Gesamtkontext eines von der KMK geforderten Gesamtsystems aus Erziehung, Bildung und Betreuung einzuordnen (Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 18. und 19. Mai 2000). Darunter wird ein System verstanden, „das bei Anerkennung der Eigenständigkeit der einzelnen Bereiche (Jugendhilfe, Schule), die gemeinsame Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen sieht und daraus einheitliche, zusammenhängende und sich ergänzende Angebote und Leistungen ableitet“ (AGJ [Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe]: Handlungsempfehlungen zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Berlin, 2006, S. 2). Lediglich der Beitrag von Gaby Grimm wagt den Blick über den Tellerrand hinaus und zeichnet den Perspektivenwechsel von einer Kooperation hin „zur Integration von Schule und Jugendhilfe“ (S. 253) nach. Die Autorin leitet konkrete Anforderungen an die Kommunalpolitik ab, will diese ein integriertes Gesamtsystem schaffen, z.B. „Zusammenführung von verschiedenen Finanzierungssträngen, Veränderung bestehender Organisationsstrukturen, Erweiterung von Weiterbildungs- und Ausbildungsangeboten“ (S. 255).
Fazit
Entgegen der Vermutung, die der Titel nahe legt, kann das Buch es nicht leisten, einen Überblick über die bestehenden Kooperationsfelder von Jugendhilfe und Schule zu geben. Diesen Anspruch verfolgen die Autoren nicht. Vielmehr richten sie ihre Ausführungen an Personen, die in der Praxis arbeiten und nach Anregungen für die Umsetzung des Kooperationsgebotes suchen und den Blick über ihre Region hinaus in andere Kommunen wagen wollen. Im Einzelfall können sich hieraus Anregungen und Impulse für die eigene Praxis ergeben. Peter-Ulrich Wendt weist richtigerweise darauf hin, dass sich das Buch insofern an „Fachkräfte im Kooperationsalltag als auch an Leitungskräfte aus Jugendhilfe und Schulbehörden sowie mit Fragen der Kooperation von Jugendhilfe und Schule strategisch befasste Kommunalpolitiker/innen“ richtet (Rezension).
Rezension von
Thomas Buchholz
M.A.
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