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Jutta Kirchhoff, Bernd Jacobs: Wohnformen für Hilfebedürftige

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 16.12.2010

Cover Jutta Kirchhoff, Bernd Jacobs: Wohnformen für Hilfebedürftige ISBN 978-3-8167-8222-3

Jutta Kirchhoff, Bernd Jacobs: Wohnformen für Hilfebedürftige. Fraunhofer IRB Verlag (Stuttgart) 2010. 111 Seiten. ISBN 978-3-8167-8222-3. 33,00 EUR. CH: 55,50 sFr.
Reihe: Bauforschung für die Praxis - Band 94.

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Thema

Wohnen wird im Allgemeinen mit einer selbständigen Lebensweise verbunden, die es erlaubt, gemäß den Bedürfnissen die Räumlichkeiten und deren Inventar ohne Hilfe Dritter zu nutzen. Nimmt hingegen aufgrund von altersbedingter Gebrechlichkeit und chronischen Erkrankungen das Vermögen zu einer Bewältigung des Alltagsgeschehens ab, dann treten Stück für Stück je nach Grad des ansteigenden Hilfebedarfes Personen mit Betreuungs- und Versorgungsaufträgen in diesen Lebensbereich ein. Die Wohnung wird dann mehr und mehr Arbeitsplatz für die Helfer, während die Bewohner ihre Sphäre zusehends auf die Nutzung von Bett und Sessel einschränken müssen. Eine herkömmliche Wohnung kann hierbei im Laufe von wenigen Jahren regelrecht zu einer Mini-Pflegestation mutieren, ausgestattet mit Pflegebett, Lifter und angepassten Sanitäranlagen. Als Wohnen im ursprünglichen Sinne kann dies nicht mehr bezeichnet werden.

Die vorliegende Studie thematisiert dieses Wohnen für Gebrechliche unter dem Aspekt der erforderlichen Hilfestellungen und des sozialen Umfeldes. Es wird vor allem angesichts der zunehmenden demografischen Alterung in Deutschland versucht, Lösungen für anstehende Problemlagen in naher Zukunft zu konzipieren. Es handelt sich dabei um ein Projekt, das mit Mitteln des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung gefördert wurde. Hinweise über den beruflichen Hintergrund der Autoren sind in der Publikation nicht enthalten.

Aufbau und Inhalt

Die Studie ist in neun Kapitel untergliedert.

Zu Beginn im Kapitel „Problemstellung“ wird auf die zunehmende Alterung der Bevölkerung in Deutschland anhand von Hochrechnungen bis ins Jahr 2050 mit dem Hinweis verwiesen, dass bei dieser Entwicklung die bisherigen Versorgungsstrukturen der stationären Altenhilfe nicht mehr zu finanzieren wären. Es wird vorgeschlagen, die rüstigen Senioren stärker als ehrenamtliche Helfer in die zukünftigen Helfernetze einzubinden. Parallel sollten kleinräumige Bereiche wie Nachbarschaften und Quartiere mit einer Verdichtung der Kontakte im Sinne gegenseitiger Hilfeleistungen ausgestattet werden. Vorrangiges Ziel hierbei besteht aus dem längeren Verbleib in der eigenen Wohnung und damit der Vermeidung eines Heimeinzuges. Zusätzlich sollten diese überschaubaren Quartiere mit vorstationären und teilstationären Versorgungseinrichtungen wie ambulante Dienste, Haus- und Wohngemeinschaften und Kontakt- und Beratungszentren ausgestattet werden, die als Ersatz der herkömmlichen Pflegeheime fungieren sollten.

In den anschließenden Kapiteln „Barrierefreiheit“ und „Wohnformen“ werden zu Beginn die bautechnischen Aspekte des barrierefreien Zugang zur Wohnung und die barrierefreie Nutzung des sozialen Umfeldes (Zugang zu Geschäften und Betreuungseinrichtungen, Wege ohne Stufen und hohe Bordsteine u. a.) beschrieben. Es folgen Ausführungen über die verschiedenen Formen des Wohnens im Alter: die so genannte „Normalwohnung“, Haus- und Wohngemeinschaften in Verbindung mit flankierenden Hilfe- und Versorgungsstrukturen, die in den angeführten Beispielen überwiegend von den Wohnungsgesellschaften oder Wohlfahrtsverbänden vorgehalten werden. Eingestreut in Kästen sind Kurzdarstellungen von bereits realisierten Quartierkonzepten aus einigen Städten, die teils mit Fotos und Grundrissen illustriert sind.

In einem äußerst knappen Kapitel von nur drei Seiten wird die „Die Vision eines Quartiers, das älteren und hilfebedürftigen Bewohnern ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft bietet“ entworfen. Es sieht ein Angebot von verschiedenen Wohnformen für Personen mit Unterstützungsbedarf vor, die in einem nachbarschaftlichen Hilfenetzes eines Bürgervereines eingebunden sind. Ein Bürgerzentrum mit diversen Versorgungs-, Beratungs- und Gesellungsangeboten bildet das Zentrum. Ambulante Pflegedienste und Wohngemeinschaften für Schwerstpflegebedürftige und Demenzkranke ergänzen die Angebotspalette. Fast alle Betreuungsleistungen und Alltagshilfen werden von Ehrenamtlichen erbracht, die von einem anstellten „Kümmererteam“ koordiniert werden.

Im umfangreichen Kapitel „Quartier“ werden anhand von konkreten Beispielen aus verschiedenen Orten Deutschlands die Kernelemente des quartiersbezogenen Ansatzes -Infrastruktur, soziale Netze, Dienstleistungen, Beratung, Sicherheit und lokale vorstationäre Pflegeangebote - beschrieben. Im Zentrum stehen die so genannten „Kümmerer“, die in der Sozialarbeit Quartiers- oder Stadtteilmanager bezeichnet werden. Ihnen obliegt die Aufgabe, Kontakte zwischen den Bewohnern aufzubauen und gleichzeitig ein Netzwerk an gegenseitigen Hilfen zu initiieren, das überwiegend von einem Kreis von ehrenamtlichen Helfern getragen wird. Organisatorischer Rahmen für diese Helfergruppen sollen so genannte Bürgervereine sein. Pflegeheime sind in diesem Konzept nicht vorgesehen.

Die folgenden Kapitel „Akteure und Finanzierung“ und „Migranten“ enthalten viele Beispiele und Empfehlungen, wie diese Vernetzung und Kontinuität an Kontakten und Hilfen mit unterschiedlichen Institutionen und Berufsgruppen hergestellt werden könnte. Auch die Fragen einer Anfangs- oder Anschubfinanzierung werden kurz erörtert, wobei auf Zuwendungen der Kommunen, Stiftungen u. Ä. verwiesen wird. Bezüglich der Migranten wird empfohlen, auf Berater aus den entsprechenden Herkunftsländern allein schon wegen der Sprachbarrieren zurückzugreifen.

Das abschließende Kapitel „Fazit und Empfehlungen“ fasst auf wenigen Seiten nochmals die wesentlichen Faktoren des quartiersbezogenen Ansatzes zusammen. Darüber hinaus wird konstatiert, dass gegenwärtig eine flächendeckende Planung für diese neuen Formen der Hilfe und Vernetzung noch fehlt.

Diskussion

Dass Deutschland wie die anderen westeuropäischen Länder demografisch altert, ist ein Faktum. Ebenso der Tatbestand, dass die Kosten für die Gesundheits- und Sozialleistungen gemäß der Zunahme an entsprechenden altersbedingten Gebrechen kontinuierlich zunehmen. Auf diesem Hintergrund entwerfen die Autoren eine Reihe von Lösungskonzepten, um den zukünftigen Bedarfslagen an Hilfen und Versorgung für gebrechliche Senioren gerecht werden zu können. Doch die vorgestellten Modelle und Strategien können aus den folgenden Gründen nicht überzeugen:

  • Eine Untersuchung basiert in der Regel auf dem Stand der Forschung als Referenzrahmen für die Interpretation der Ergebnisse. In dieser Studie ist die immense Fachliteratur u. a. über das Wohnen im Alter bei zunehmender Gebrechlichkeit nicht aufgearbeitet worden.
  • Die Studie basiert auf der ideologischen Verengung, dass die stationäre Altenhilfe als nicht mehr zeitgemäßes Leistungsangebot minderer Qualität eingeschätzt wird. Belege hierfür werden jedoch nicht angeführt. Hier lehnen sich die Autoren an die Kampagne „Abschaffung der Pflegeheime“ an, die seit einigen Jahren in Deutschland von einigen Personen getragen wird. Als Alternative wird die wohnortsnahe vorstationäre Versorgung im Stadtteil auf der Basis nachbarschaftlicher Hilfe propagiert.
  • Der Sachverhalt, dass die sozialpolitische Ausrichtung der Ersetzung der Heime durch ambulante Dienste und vorstationäre Wohngemeinschaften in den letzten Jahrzehnten u. a. in Schweden gescheitert ist, scheint den Autoren wohl nicht bekannt zu sein.
  • Des Weiteren scheint den Autoren der Wissensstand zu fehlen, dass über 70 Prozent der Pflegebedürftigen mittelschwer und schwer dementiell erkrankt sind. Für diese Gruppe der Demenzkranken hat sich das Pflegeheim mit entsprechenden Organisations- und Milieustrukturen international als angemessene Versorgungsform herausgestellt. Vorstationäre Einrichtungen wie so genannte Wohngemeinschaften für Demenzkranke haben sich hingegen als unzureichende Versorgungsformen erwiesen, da sie nicht das vollständige Leistungsspektrum bis zur Finalpflege vorhalten können. Darüber hinaus sind Kleinst- und Kleineinrichtungen u. a. aus personalwirtschaftlichen Kalkulationen bei weitem teurer als eine vergleichbare Heimversorgung.
  • Das vehemente und ausschließliche Rekurrieren auf die unbezahlten ehrenamtlichen Helfer im Nahbereich – „bürgerschaftliches Engagement“ u. a. – in dem Konzept der Quartierversorgung verweist auf den Tatbestand, dass hier bloße Wunschträume oder „Visionen“ der Autoren als Sozial- und Stadtteilplaner vorliegen. Empirisch Belege für die gesellschaftliche Faktizität dieser neuen Sozialstruktur des Helfens werden nicht angeführt. Die wenigen angeführten allseits bekannten Vorzeigeprojekte (u. a. Eching, Modell Heerstraße in Berlin und Ansätze in Bielefeld) bilden Ausnahmen, die bisher zu keinen nachweisbaren Ausweitungen dieser Ansätze einer Versorgung jenseits der Heime geführt haben.

Fazit

Es bleibt das betrübliche Fazit zu ziehen, dass hier eine Veröffentlichung vorliegt, die deutliche Mängel an faktischer Durchdringung eines hochkomplexen Themenfeldes aufweist. Hier werden Wissensstände durch „Visionen“ und ideologische Verengungen ersetzt. Fundiertes Handlungs- und Orientierungswissen für die Belange einer ständig alternden Gesellschaft wird sich in diesem Kontext nicht bilden können.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 16.12.2010 zu: Jutta Kirchhoff, Bernd Jacobs: Wohnformen für Hilfebedürftige. Fraunhofer IRB Verlag (Stuttgart) 2010. ISBN 978-3-8167-8222-3. Reihe: Bauforschung für die Praxis - Band 94. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9843.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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