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Reinhard Lelgemann: Körperbehindertenpädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. Bernhard Klingmüller, 09.11.2011

Cover Reinhard Lelgemann: Körperbehindertenpädagogik ISBN 978-3-17-021212-1

Reinhard Lelgemann: Körperbehindertenpädagogik. Didaktik und Unterricht. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2010. 284 Seiten. ISBN 978-3-17-021212-1. 27,00 EUR.
Reihe: Heil- und Sonderpädagogik.

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Autor und Thema

Lelgemann, Lehrstuhlinhalber für Körperbehindertenpädagogik an der Universität Würzburg, hat mit dieser Veröffentlichung in Zeiten der Sammelbände eine Monographie zur Körperbehindertenpädagogik vorgelegt.

Aufbau und Inhalt

Das Lehrbuch ist so aufgebaut, dass der Autor zunächst allgemeine Themen behandelt und später auf konkrete Fragestellungen eingeht.

Er beginnt mit ethischen und historischen Aspekten als einer Grundlage für die Einordnung der Didaktik. Dazu rechnet er auch das Problem der Bezeichnung und der möglichen Folgen unterschiedlicher Bezeichnungen wie Stigmatisierung, wobei er sich für die Formulierung „körperbehinderte Kind oder Mensch“ entscheidet.

Anschließend beschreibt er den veränderten Personenkreis, der heute die schulischen Angebote für Körperbehinderte wahrnimmt, bei dem häufig zusätzlich schwere Behinderungen, Mehrfachbehinderungen und Geistiger Behinderung bedeutsam sind. Als analytische Instrumente der Beschreibung von Behinderungsformen verwendet er die Leitbegriffe Entwicklung und Beeinträchtigung.

Nach diesen Grundlegungen diskutiert er einzelne didaktische Theorien und Modelle, ausgehend vom Bildungsbegriff und dessen Relevanz für die Schule, also für Unterricht und Erziehung. Er bezieht die Bereiche, die bei den heutigen körperbehinderten Schülern einen wesentlichen Teil ihres Alltags ausmachen, nämlich Therapie, Pflege und spezielle Förderung, der natürlich auch im Rahmen der Schulsituation bedeutsam ist, mit ein.

Danach behandelt er die Unterrichtssituation im Rahmen seiner Konzeption von Erziehung, wobei der Schwerpunkt der Darstellung entsprechend seinen persönlichen programmatischen Vorstellungen auf den handlungsorientierten Unterricht gelegt wurde. Dieses Kapitel bildet auch vom Umfang her den Schwerpunkt des Lehrbuchs. Es schließt sich die Begründung der Notwendigkeit an, Therapie und Pflege bei körperbehinderten Schule in den Unterricht zu integrieren. Hier macht der Autor konkrete Vorschläge, wie das zu realisieren ist. In dem Zusammenhang ergibt sich für Lelgemann auch die besondere Betonung der Kooperation zwischen den verschiedenen beteiligten Personen als Gegenmodell zu der klassischen räumlichen und zeitlichen Trennung der verschiedenen Interventionen. Diese Vorstellung von Kooperation beginnt bei der Perspektive der Beziehung zu den Schülern als Kooperation mit den Schülern, wird dann angewendet auf das Verhältnis zwischen Lehrern und unterstützenden Pädagogen einschließlich der medizinischen Heil- und Hilfsberufe, aber lässt auch das Personal einer Schule wie z.B. den Hausmeister und Reinigungskräfte nicht außer Acht.

Vor einem abschließenden kurzen programmatischen Statement berücksichtigt er weitere Hintergründe wie die Architektur einer Schule und ihrer einzelnen Räume, die personale Ressourcen und die Notwendigkeit der Bereitstellung fiskalischer Mittel zur Realisierung von akzeptierenden Unterricht.

Diskussion

Insgesamt besteht der große Vorteil einer Monographie darin, dass die Argumentationsstruktur entlang eines zentralen Fadens entwickelt werden kann. Dieser Faden ist hier der handlungsorientierte Unterricht. Er wird sowohl als Antwort auf die spezifischen Probleme von körperbehinderten Schülern. Lelgemann realisiert dies aber nicht dogmatisch, in dem er alle anderen Konzeptionen und Fragestellungen einfach unter den Tisch fallen läßt, sondern sie in seine Diskussion einbezieht.

Einige kritische Punkte sollten nicht den Gesamteindruck dieser Monographie schmälern.

  1. Zum einen fällt auf, dass nicht deutlich getrennt wird zwischen vorhandenem wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen und wünschenswerten, aber forschungsmäßig nicht belegten Konzeptionen. Bei der Übersicht, die der Autor offensichtlich über das Feld hat, wären Hinweise insbesondere auf Desiderata aufschlussreich.
  2. Zum zweiten wird nicht richtig deutlich gemacht, dass mit der Veränderung der Population auch eine Veränderung des wissenschaftlichen Feldes einhergeht. Die traditionelle Unterscheidung von Körperbehindertenpädagogik, Schwerbehindertenpädagogik bzw. Schwerstbehindertenpädagogik, Mehrfachbehindertenpädagogik und Geistigbehindertenpädagogik ist noch nicht verschwunden, aber es hat sich auch noch kein Modell entwickelt, dass systematisch diese Bereiche zusammen diskutiert. Wenn sich andererseits im Rahmen der Körperbehindertenpädagogik Zuständigkeiten für Autisten und ADHS-Kinder allein aufgrund von elterlichen Strategien oder Versorgungsengpässen an anderer Stelle ergeben, dann zeigt sich darin einerseits, wie Institutionen sich dem Bedarf anpassen, unabhängig von ihrer begrifflichen Grundlegung (Schule für Körperbehinderte). Es verweist auch auf die grundlegende Schwierigkeit, der Körperbehindertenpädagogik eine Zuständigkeit im Sinne aller Störungen, die einen körperlichen (medizinischen) Bezug haben als Wesensdefinition aufzustellen. Der Schädigungsdefinition der ICF folgend ließe sich das durchargumentieren, allerdings nur wenn man deren problematische Unterordnung mentaler Faktoren unter körperliche Faktoren akzeptiert und um den Preis eines institutionellen Konflikts mit den anderen oben genannten Bereichen der Sonderpädagogik.
  3. Zum dritten ist das Bild der Lehrerschaft ausgesprochen positiv konzipiert. Gerade solche Modelle wie handlungsorientierter Unterricht leben davon, dass sich die Lehrer/-innen sowohl zeitlich wie psychisch wie kognitiv und vielleicht auch politisch als ausgesprochen engagiert zeigen. Die Alltagswirklichkeit wird diesem Lehrerbild nicht immer gerecht. Es gibt bestimmte Schulen, die ausgesprochen attraktiv sind nicht nur für eine bestimmte Elternschaft, sondern ähnlich für eine Lehrerschaft, in denen das Bild des engagierten Pädagogen auf ein Kollegium insgesamt zutrifft. Die Bandbreite des Handelns von Lehrern muss jedoch als viel größer angesetzt werden. Es gibt nicht nur gute, engagierte Lehrer und Lehrerinnen, sondern auch mittelmässige und manchmal auch schlechte. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die Mädchen oder aber Jungen mehr gerecht werden. Es gibt Lehrer/-innen, die angepaßten Schüler lieben und andere die ein Faible für Rebellen haben. Es gibt Lehrer/-innen, die den Kopf voll haben mit anderen Dingen, wenn sie das Schulgebäude verlassen und nicht bereit sind, die notwendige gedankliche Nacharbeit zu leisten oder es nicht können aufgrund anderer Belastungen, z.B. als alleinerziehende Mütter usw.
  4. Ein weiteres Thema, das schwierig ist, weil es den Rapport zwischen Lehrerin und Eltern stören und belasten kann, ist die Frage der Bewältigungsprozesse und auch allgemein der möglicherweise auch egoistischen Interessen der Eltern. Hier zeichnet er ein positives Bild nach dem Modell gegenseitiger Wertschätzung. Untergründige Verhaltensdispositionen der Eltern, die sich auf die Kinder auswirken, werden dadurch leichter ausgeblendet. Ebenso wird das Verhalten der Kinder als letztlich psychisch gesund angesehen wird, als eine selbst gewählte adäquate Strategie der Reaktion auf Außenreize.
  5. Das Verhältnis von Stigma und Akzeptanz, das für vielfältige Erscheinungen eine Erklärung aus der Interaktionsordnung heraus ermöglicht, wird nur in einigen Nebensätzen erwähnt.
  6. Aber auch das Problem von pflegeabhängigen Schülern könnte noch mehr ausgearbeitet worden sein, wenn man an die Fach-Diskussionen zu Asymmetrie der Macht, der Gewalt in der Pflege oder Umgang mit Scham und Ekel denkt.

Fazit

Im Vergleich zu dem Lehrbuch von Hedderich („Einführung in die Körperbehindertenpädagogik“, vgl. die Rezension) ist das Werk von Lelgemann wesentlich elaborierter. Die Komplexität der thematischen Ausarbeitungen unterscheidet sich allerdings nicht wesentlich, wobei Hedderich sich meistens als griffiger zeigt und manchmal auch offener in der Darstellung von Kontroversen.

Für die Ausbildung zum Alltag an den heutigen schulischen Einrichtungen für Körperbehinderte und das heißt heute vor allem mehrfachbehinderte, handelt es sich mit den obigen Abstrichen um ein ausgesprochen solides Lehrbuch, das geeignet ist, Studierende zu diesem Beruf angemessen hinzuführen.

Rezension von
Prof. Dr. Bernhard Klingmüller
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Es gibt 14 Rezensionen von Bernhard Klingmüller.

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Zitiervorschlag
Bernhard Klingmüller. Rezension vom 09.11.2011 zu: Reinhard Lelgemann: Körperbehindertenpädagogik. Didaktik und Unterricht. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2010. ISBN 978-3-17-021212-1. Reihe: Heil- und Sonderpädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9859.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.


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