Michael Schacht: Zur Persönlichkeitsentwicklung aus der Sicht des Psychodramas
Rezensiert von Dr. Birgit Szczyrba, 06.01.2004
Michael Schacht: Spontaneität und Begegnung - Zur Persönlichkeitsentwicklung aus der Sicht des Psychodramas. inScenario-Verlag (München) 2003. 447 Seiten. ISBN 978-3-929296-13-6. 32,00 EUR.
Einführung
"Man stelle sich vor, Psychoanalyse würde ausschließlich mit der Couch identifiziert...". Mit diesem Satz beginnt Schacht seine Erklärung, was ihn zu diesem Buch veranlasst hat: Die Gleichsetzung des Psychodramas mit der szenischen Arbeit auf einer Bühne bedeutet für ihn (wie für einige andere Psychodramatiker/innen auch) eine fatale Verkürzung des Psychodramas auf seine methodisch-technische Anwendung. Schacht ist es wichtig, als Psychodramatiker eine bestimmte Schule des Denkens vor eine bestimmte Art des methodischen Handelns zu stellen. Hierzu liefert er eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem psychodramatischen Theoriegebäude in zentralen Begriffen wie Rolle, Handlung, Spontaneität und Kreativität sowie Moral und Verantwortung und entwirft in einem Vermittlungsprozess zwischen den wertvollen, aber eher programmatisch gemeinten und nicht gänzlich ausgearbeiteten Ideen Morenos und den gesicherten Erkenntnissen der modernen Forschung (insbesondere der Säuglingsforschung) ein differenziertes Verständnis intra- und interpersoneller Dynamik zur Fundierung der psychotherapeutischen und psychosozialen Arbeit.
Der Autor
Dr. phil. Michael Schacht, Diplom-Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler ist Psychologischer Psychotherapeut (BDP) in eigener Praxis. Er erlernte das Verfahren Psychodrama am Moreno-Institute in Beacon, NY mit dem Abschluss Director of Psychodrama. Des Weiteren ist er Psychodrama-Therapeut (DFP) und Weiterbildungsleiter am Psychodrama-Institut-Münster.
Aufbau und Inhalte
Die Grundkonzepte der psychodramatischen Persönlichkeitstheorie werden im ersten Teil des Buches dargestellt. Schacht erläutert seine Auswahl und stellt diese Grundkonzepte in das Licht der aktuellen psychologischen Forschung. Eines der Grundkonzepte des Psychodramas ist das Handeln in Rollen ("man is an actor"). Moreno grenzte sich von soziologischen Rollentheorien des mainstreams ab und entwarf Rollenkategorien: Psychosomatische Rollen stellen das körperlich verankerte Handeln dar; psychodramatische Rollen sind individuelle, ganz persönlich geformte Rollen sowie Phantasierollen wie "Gott, Teufel, Engel und Feen"; die soziodramatischen Rollen schließlich greifen, wenn das Rollenhandeln kollektiven Normen und Mustern folgt, also soziale Rechte und Pflichten symbolisiert. Im Gegensatz zu Moreno und Autoren, die Morenos Rollentheorie reformuliert haben, spricht Schacht von Rollenebenen, die eine simultane Kombination der Rollenkategorien darstellen. Soziales Handeln stellt immer ein Zusammenwirken aller Rollenebenen dar. Auf jeder Ebene wird Denken, Fühlen und Handeln unterschiedlich komplex reguliert.
In Teil 2 widmet er sich der Entwicklung der Rollenebenen im Laufe des menschlichen Heranwachsens. Er behandelt in drei Kapiteln die Zeit von der Geburt bis zum 24. Lebensmonat, in der sich die psychosomatischen Rollen entwickeln, die Zeit bis zum 4. bis 6. Lebensjahr, die für die Entwicklung der psychodramatischen Rollen steht, sowie die Zeit bis zur späten Adoleszenz, in der wesentliche Mechanismen der Handlungs- und Selbstregulation der soziodramatischen Phase entstehen.
Teil 3 widmet sich Schlussfolgerungen, die aus den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen über die Entstehung von Handlungskompetenzen für ein psychodramatisches Verständnis des Fühlens, Denkens und Handelns zu ziehen sind. Hier beschreibt Schacht, wie die vorher zu analytischen Zwecken getrennt dargestellten Rollenebenen im Handeln des Erwachsenen stets simultan zusammenwirken.
Er stellt das psychodramatische Gesundheitsverständnis vor, dass sich im Wesentlichen als die Fähigkeit zu Spontaneität und Kreativität sowie als Begegnungsfähigkeit versteht. Während der spontane und kreative Mensch sich als "Anhänger des Imperfekten" zeigt, der im Moment des lebendigen Ausdrucks das Ergebnis seiner Tat noch nicht beurteilen kann, sie aber dennoch wagt, befindet er sich in einer ausgewogenen Spontaneitätslage, in der alle Rollenebenen angemessen zur Verfügung stehen. Der "Anhänger des Perfekten" hingegen ist in seinen Handlungskompetenzen eingeschränkt. Er setzt sich illusionäre, perfekte Ziele, die nur unter Ausblendung von Rollenebenen aufrechtzuerhalten sind und letztlich nicht erreicht werden können. Die dazu gewählten Interaktionsmuster, "innere Arbeitsmodelle" führen nicht zur Begegnung, d.h. zu befriedigenden Interaktionsergebnissen für alle Beteiligten.
Schacht erläutert dann, wie seine Überlegungen in die psychodramatische Praxis umgesetzt werden können. Er schildert an vielen praktischen Beispielen aus dem Alltag und der psychotherapeutischen Praxis, wie Einschränkungen des Rollenhandelns im Zuge der kindlichen und jugendlichen Entwicklung begründet sind und ordnet sie den einzelnen Rollenebenen und den damit verbundenen Kompetenzen und/oder Störungen zu.
Es folgt ein Anhang, in dem der Autor gründliche Erläuterungen zu theoretischen Hintergründen und Begrifflichkeiten anbietet.
Diskussion
Schacht bereitet wesentliche Bausteine der psychodramatischen Theorie auf, indem er sein zentrales Anliegen, ein differenziertes Verständnis intra- und interpersoneller Dynamik zur Fundierung der psychotherapeutischen und psychosozialen Arbeit herzustellen, sorgfältig und gut nachvollziehbar verfolgt.
Zentrale Begriffe des Psychodramas werden von Schacht mit aktuellen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen vermittelt und fundiert: Spontaneität, Kreativität, Selbst und Identität, Rolle, Handlung, Wille und Verantwortung werden als Grundlagen der psychodramatischen Persönlichkeitstheorie aus der bisher eher abgegrenzten Diskussion in der psychodramatischen "Binnenwelt" hinaus mit anderen Wissenschaftsdisziplinen verknüpft. Schacht ist es damit gelungen, die Fachwelt der psychosozialen Arbeit mit dem psychodramatischen Menschenbild und Gesundheitsverständnis zu bereichern. Sein Buch erklärt, wie Identitäts- und Beziehungsstörungen und die damit misslingenden Interaktionsmuster durch die Desintegration verschiedener Rollenebenen und den damit verbundenen Handlungskompetenzen und/oder -störungen entstehen und behandelt werden können.
Dieses Buch ist darüber hinaus ein weiterer Schritt in der Erkenntnis, dass Moreno, der Begründer des Psychodramas, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinen ungewöhnlichen Ansätzen, dazu in poetisch-expressionistischer Ausdrucksart, eine Konzeption des Menschen entwickelte, die sich heute in den Grundzügen (nicht nur) psychologischer Forschung wiederfindet.
In verständlicher Sprache werden wissenschaftliche Erkenntnisse mit alltäglichen Beispielen oder solchen aus der eigenen psychotherapeutischen Praxis interessant erläutert. Durch die Beispiele verleiht Schacht dem Buch "Erlebnischarakter". Leser/innen können an vielen geschilderten Szenen das tägliche Leben oder "alte Bekannte" aus der Berufspraxis wiedererkennen. Das Buch macht Mut, denn das psychodramatische Menschenbild ist optimistisch und Schacht schildert, wie seine Arbeit mit Klient/innen - wenn auch z.T. als Politik der kleinen Schritte - durch psychodramatisches Denken und Handeln Erfolge zeitigt. Umfangreich an Seiten eignet sich das Werk als Fundierung für Beziehungsarbeiter/innen der psychosozialen und psychotherapeutischen Praxis mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Es spricht darüber hinaus Vertreter/innen der Pädagogik, Psychologie und der Sozialen Arbeit an, die mit der Problematik der sozialen Pathologien schlechthin befasst sind.
Fazit
Das Psychodrama, das älteste aller szenischen Verfahren, wird mit Schachts Buch einmal mehr auf ein zeitgemäßes wissenschaftliches Fundament gestellt. Daher gehört das Buch mit denen von Buer (vgl. die Rezension) und Hutter (vgl. die Rezension) in die Hausbibliothek der szenisch verfahrenden Fachleute psychosozialer Praxis und solchen, die sich beispielsweise in der Bildungsarbeit für rollentheoretisch untermauerte Ressourcenarbeit interessieren.
Rezension von
Dr. Birgit Szczyrba
Sozial-und Erziehungswissenschaftlerin, Psychodrama-Leiterin (DFP/DAGG), Leiterin der Hochschuldidaktik in der Qualitätsoffensive Exzellente Lehre der Technische Hochschule Köln, Sprecherin des Netzwerks Wissenschaftscoaching
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Es gibt 24 Rezensionen von Birgit Szczyrba.
Zitiervorschlag
Birgit Szczyrba. Rezension vom 06.01.2004 zu:
Michael Schacht: Spontaneität und Begegnung - Zur Persönlichkeitsentwicklung aus der Sicht des Psychodramas. inScenario-Verlag
(München) 2003.
ISBN 978-3-929296-13-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/988.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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