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Helmut Lambers: Wie aus Helfen soziale Arbeit wurde

Rezensiert von Prof. Dr. Juliane Sagebiel, 30.11.2010

Cover Helmut Lambers: Wie aus Helfen soziale Arbeit wurde ISBN 978-3-7815-1741-7

Helmut Lambers: Wie aus Helfen soziale Arbeit wurde. Die Geschichte der Sozialen Arbeit. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2010. 272 Seiten. ISBN 978-3-7815-1741-7. 19,90 EUR.
Reihe: Kernkompetenzen Soziale Arbeit und Pädagogik.

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Thema

Helfen als Form des Bedarfsausgleiches ist eine soziale Interaktionsform, die durch Strukturen wechselseitigen Erwartens definiert und gesteuert wird. Die ist eine eher unvertraute, abstrakte Definition Sozialer Arbeit, die jeglichen Bezug zu einem ontologischen Verständnis Menschen zugewandten helfenden Handelns vermissen lässt. Sie steht im Gegensatz zu Definitionen bekannter Klassiker und Klassikerinnen, die Helfen als einen Wesenszug des Menschen beschreiben wie z. B. Scherpner, als Kulturaufgabe wie Alice Salomon, als Unterstützung zur Herstellung eines gelingenderen Alltags oder als Menschenrechtsaufgabe, die auf Veränderung von problematischen Wirklichkeiten zielt, wie Staub-Bernasconi vorschlägt.

Hier begegnet uns ein Autor, der die Geschichte des Helfens und Erziehens, mithin der Sozialen Arbeit, funktional systemtheoretisch vor dem Hintergrund der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann nachzeichnet. Nun könnte man sagen, es gibt bereits einschlägige Lehrbücher zur Geschichte der Sozialen Arbeit – warum ein weiteres, und wodurch unterscheidet es sich von den bereits vorliegenden? Die Antwort findet sich in der sozialevolutiven Geschichtsbetrachtung, dem gesellschaftstheoretischen Verstehenskonzept, wie es der Autor nennt (7), das einen entscheidenden Unterschied zu anderen, illustrativen oder epochal orientierten Geschichtsbüchern herstellt. „Soziale Arbeit wird in diesem Buch anhand des Formenwandels von persönlicher Hilfe zu gesellschaftlicher Hilfe nachgezeichnet“ (7) als eine Art erwartbaren Bedarfsausgleichs, der sich durch ständige Ausdifferenzierung von Gesellschaften als Antwort auf „humane Folgeprobleme“ entwickelt hat.

Autor

Helmut Lambers lehrt seit 1999 als Professor für Fachwissenschaft der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster. Vorausgegangene Veröffentlichungen sind: Systemtheoretische Grundlagen Sozialer Arbeit: Eine Einführung (2010) (vgl. die Rezension) und eine empirische Untersuchung zur Selbsteinschätzung ehrenamtlichen Engagements in den nordrhein-westfälischen Flüchtlingssozialdiensten (2004).

Aufbau und Inhalt

Der Autor schließt sich dem sozialevolutiven Stufenmodell von Niklas Luhmann an, gesellschaftliche Entwicklung nach den Zeit-, Sach- und Sozialdimensionen zu differenzieren. Gleichwohl finden sich in der Rekonstruktion dieser Dimensionen auch die bekannten Epochenaufteilungen wieder. In der Zeitdimension kommt es zu einer Dreiteilung, wie sie auch Luhmann in seinem Aufsatz „Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen“ (1973) ausführt:

  • den archaischen, segmentär nach Sippen und Clans organisierten unterkomplexen Gesellschaften,
  • den hochkultivierten, stratifikatorischen, nach Ständen organisierten komplexen Gesellschaften und
  • den modernen, funktionalen, in Funktionssystemen organisierten hochkomplexen Gesellschaftsformen.

Dieser Systematik folgend ist das Buch in drei Abschnitte gegliedert.

Kapitel I beschreibt, ohne chronologische Aufteilung, archaische Gesellschaftsformationen, in denen Hilfe als wechselseitiger, unmittelbarer Bedarfsausgleich erfolgt und durch unbestimmte Hilfe- und Dankespflichten geprägt ist.

In hochkultivierten Gesellschaften präzisieren sich Hilfeformen und Dankespflichten. Sie gründen „auf einer moralisch, generalisierten, schichtenmäßigen Erwartungsstruktur“ (41). Der stratifikatorische Gesellschaftstypus wird in Kapitel II behandelt und umfasst die Epochen des frühen Mittelalters über die Aufklärung bis zur Klassik. Bezogen auf die Hilfeformen spannt der Autor den Bogen von der an die christliche Moral gebundenen Almosenpraxis über die Prozesse der Rationalisierung, Kommunalisierung und Pädagogisierung der Armenfürsorge bis hin zur Arbeitspflicht und Arbeitserziehung. Lambers unterzieht die pädagogischen Klassiker wie Rousseau, Salzmann, Francke, Pestalozzi und Fröbel als Wegbereiter von Erziehungsidealen einer kritischen Würdigung. „Obwohl sie auf die Liste ‚schwarze Pädagogik‘ zu setzen sind, ist ihre ideengeschichtliche Wirkung auf die weitere Geschichte der Sozialpädagogik und Sozialarbeit nicht zu unterschätzen“ (93).

In Kapitel III breitet der Autor auf der Folie funktional ausdifferenzierter Funktionssysteme Formen des planmäßig, rational organisierten Bedarfsausgleiches aus. „Hilfe wird zur gesellschaftlich sicher erwartbaren Leistung“ (105). Lambers gliedert die „Moderne“ in drei Abschnitte: die Industrialisierung, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Spätmoderne ab Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute. Die Entstehung der Sozialpädagogik und der Erziehung als gesellschaftliche Reaktion auf sozioökonomische Missstände in der Zeit der Industrialisierung wird entlang bekannter Pädagogen wie Herbart, Mager, Diesterweg und Wichern nicht ohne Kritik aufgezeigt. In vergleichbarer Weise wird die Entwicklung der Sozialen Arbeit am Beispiel bekannter Protagonisten und der Herausbildung der staatlichen Armenpflege und -fürsorge sowie der privaten und verbandlichen Fürsorge skizziert.
Für die zweite Phase der Moderne – der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zeigt der Autor die Entwicklungslinien der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit mit ihren rechtlichen und institutionellen Ausprägungen. Auch die Gründerinnen und Gründer der Sozialen Arbeit mit ihren theoretischen Ansätzen und ihrer Bedeutung für eine wissenschaftliche Ausbildung werden der Leserschaft vorgestellt. Der Niedergang der beginnenden Professionalisierung durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und seine Wirkungen auf den Verlust der „professionellen Integrität“ (175) bleiben nicht unerwähnt.
In der dritten Epoche, der Spätmoderne, steht die Bearbeitung von Problemen und Risiken bei steigender gesellschaftlicher Komplexität im Fokus des Bedarfsausgleiches. Lambers umfasst das Spektrum der „politischen Modernisierungsbemühungen um eine Reform des Sozialstaates, (die) mit Beginn des 21. Jahrhunderts in die programmatische Formel des aktivierenden Sozialstaates“ (187) münden. Aktuelle Fragen zu Konsequenzen des neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit werden ebenso thematisiert wie die Auswirkungen der Verrechtlichung Sozialer Arbeit (SGB und Hartz IV).
Das Kapitel schließt mit einer Reflexion der bisherigen Theorieentwicklung und einen Ausblick mit offenen Fragen, wohin sich Soziale Arbeit in Zukunft entwickeln könnte.

Zielgruppen

Das Buch ist als Lehrbuch (9) mit didaktischen Elementen konzipiert und wendet sich vor allem an Studierende der Sozialpädagogik/Sozialarbeit, an Lehrende der Sozialen Arbeit und an Lehrende der Bezugswissenschaften. Auch interessierte Praktiker und Praktikerinnen finden hier interessante Informationen – insbesondere im dritten Kapitel – und Anregungen für Fachdiskussionen.

Diskussion

Der Autor legt uns ein umfassendes Werk der Geschichte der Sozialen Arbeit vor, hoch komprimiert auf nur 272 Seiten und auf das Wesentliche reduziert. Ihm gelingt im wahrsten Sinne des Wortes Komplexitätsreduktion, indem er die Rekonstruktion der historischen Entwicklung entlang den sozialevolutiven, systemtheoretischen Kriterien von Luhmann vornimmt. Dies Anwendung dieser „Methode“ besticht durch Klarheit, Präzision, Abstraktheit und Reduktion. Aufbau und Struktur des Buches folgen der Beschreibungs- und Erklärungslogik der Luhmannschen Gesellschaftstheorie und sind – wenn diese Logik einmal verstanden wurde – gut nachvollziehbar. Und Lambers verliert sich – bis auf einige Ausnahmen – nicht in den Sphären der Abstraktion. Vielmehr gelingt es ihm, die Inhalte für die Leser und Leserinnen auf die Essentials zu reduzieren: mit Beispielen und anhand der biographischen Einblendungen der „KlassikerInnen“ sowie durch Kurzzusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel, der einzelnen Epochenbeschreibungen und gesellschaftlichen Entwicklungsstufen. Diskursiv anregend z. B. für Lehrveranstaltungen dürften die Reflexionsvorschläge zu jeweiligen Gesellschafts- und Hilfeformen am Ende jedes Kapitels sein.

Dem Verstehen zuträglich sind die Grafiken, tabellarischen Übersichten und die Porträts von wegbereitenden Persönlichkeiten der Sozialen Arbeit. Satz und Schriftbild sowie grau unterlegte Textabschnitte schaffen Übersichtlichkeit und erleichtern den Lesefluss.

Was die Gliederung an Struktur abbildet, kann auf den ersten Blick die Leserschaft verwirren, denn auch die Gliederung wird mit zunehmender Komplexität der Gesellschaftsformation, die sie nennt, immer komplexer, obgleich sie in der Systematik verbleibt. Leichter sind Aufbau und inhaltliche Argumentation sicher zu verstehen, wenn Grundkenntnisse der Luhmannschen Gesellschaftstheorie als Vorwissen vorhanden sind. Leider versteigt sich der Autor an einigen Stellen doch in die Höhen der sprachlichen Abstraktion, vor allem in der Einleitung und im ersten Kapitel, was ungeübte, mit der Systemtheorie unvertraute Leser und Leserinnen frustrieren könnte. Man/ frau muss durchhalten, nach Seite 37 wird es einfacher.

Fazit

Dieses „theorielastige“ Lehrbuch ist überaus empfehlenswert! Es sollte in die Reihe der vorhanden „Geschichts- und Theoriebücher“ stehen und besser als Hardcoverausgabe. Mit der Wahl einer unvertrauten theoretischen Perspektive unterscheidet es sich von anderen Büchern zur Geschichte der Sozialen Arbeit und fordert auf, einen strukturellen Blick auf die Professionsentwicklung zu werfen. Strukturen zu erkennen und zu beschreiben, ist ein wesentliches Merkmal professioneller Kompetenz. Insofern darf das Werk von Lambers als gewinnbringender Beitrag für die Ausbildung gewertet werden. Anzuregen wäre vielleicht, dass der Autor fotografisch etwas freundlicher in Kommunikation mit seiner relevanten Umwelt tritt.

Rezension von
Prof. Dr. Juliane Sagebiel
Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule München, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
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Es gibt 6 Rezensionen von Juliane Sagebiel.

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ISSN 2190-9245