Georg Theunissen, Henriette Paetz: Autismus. Neues Denken - Empowerment - Best-Practice
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 27.05.2011

Georg Theunissen, Henriette Paetz: Autismus. Neues Denken - Empowerment - Best-Practice. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2011. 216 Seiten. ISBN 978-3-17-021482-8. 24,90 EUR.
Entstehungshintergrund und AutorInnen
Das zentrale Anliegen des Buches ist es, die längst überfällige Abkehr von der Defizitorientierung bei Menschen mit Autismus hin zu einer Stärkenperspektive und –orientierung aufzuzeigen. Prof. Dr. Georg Theunissen (Universität Halle) und seine Mitarbeiterin Henriette Paetz haben aus diesem Anlass dieses Buch geschrieben, das sich u.a. stark auf anglo-amerikanische Entwicklungen bezieht. Das Buch hat fünf theoretische Kapitel, die das neue Denken bzw. die Herleitung und Notwendigkeit dazu beschreiben sowie zwei Kapitel am Schluss, die Praxisbeispiele mit dieser (neuen) Perspektive schildern.
Aufbau und Inhalt
Das erste Kapitel ist mit „Autismus neu denken“ überschrieben. Hier werden die gängigen Beschreibungen von Autismus sowie die pathologische Darstellung im ICD-10 kritisch betrachtet. Einerseits werden Merkmale aufgezählt, deren Betrachtung nur als Defizite konstatiert werden können und zum anderen sagen diese (möglichen) Merkmale nichts über die jeweilige Person aus. Unter Bezug auf die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen wird die Stärken-Perspektive noch einmal nachhaltig eingefordert und deren Notwendigkeit verdeutlicht.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Autism Rights Movement (ARM), einer Bewegung aus den USA, die ähnlich wie die Independent Living Bewegung eine selbstorganisierte lose Vereinigung von Betroffenen ist, die in eigener Sache auf sich aufmerksam machen und ihre Interessen wahrnehmen. Die Autoren diskutieren dann, ob es eine autismusspezifische Kultur gibt, ob Autismus eine der vielfältigen Formen des menschlichen Seins ist oder nach bisherigem Verständnis als Behinderung und „Problem“ gesehen werden muss. Außerdem werden die Selbsthilfebewegungen in den USA und Deutschland einem Vergleich unterzogen.
Das dritte Kapitel befasst sich mit Bildung im Erwachsenenalter. Autisten (so möchten sie gerne selber genannt werden) nutzen z.B. Angebote von Volkshochschulen. Da macht es Sinn, wenn es dann in bestimmten Regionen auch Angebote gibt, die ihren besonderen Bedürfnissen und Belangen Rechnung tragen.
Im vierten Kapitel geht es um berufliche Perspektiven. Im Sinne der eingangs dargestellten Stärkenperspektive als Leitgedanken des Buches geht es um die Orientierung an den spezifischen Ressourcen von Autisten. Zum einen, so argumentieren die Autoren, wäre es eine Verschwendung von Steuergeldern, wenn die Hilfen für Autisten nicht dazu führen würden, dass sie zu ihrem Lebensunterhalt selbständig beitragen können, und zum anderen wäre es auch volkswirtschaftlich Unsinn, wenn die besonderen Fähigkeiten und Potentiale von den Autisten nicht auch im beruflichen Kontext genutzt werden können.
In einem sehr ausführlichen fünften Kapitel (fast 50 Seiten) geht es um die Verhaltensprobleme, die Autisten mit anderen Menschen oder in bestimmten Situationen haben. Viele Verhaltensprobleme ver- und be-hindern viele Dinge im Alltag; so kann auch eine Stärken-Perspektive durch häufige Verhaltensprobleme nachhaltig getrübt werden. Neben den „Klassikern“ zum Umgang mit solchen Situationen bzw. Ratschlägen zur Entschlüsselung von solchen Situationen (Missverständnisse etc.) diskutieren die Autoren eine Reihe gängiger Konzepte, zeigen mögliche Wege auf und stellen abschließend das TEACCH-Konzept vor, das sich mittlerweile als das gängigste und in weiten Teilen hilfreichste Konzept herausgestellt hat. Ziel dieser vergleichsweisen umfangreichen Darstellung ist eine positive Verhaltensunterstützung, denn –das zeigen auch die Autoren auf- die Autisten leiden selber unter diesen Situationen, wie es in einigen von ihnen geschriebenen Büchern auch immer wieder deutlich wird.
Anhand von zwei separaten Beispielen, die ausführlich dargestellt und kommentiert werden, werden die vorher dargestellten zentralen neuen Denkmuster auf die Praxis übertragen. Beide Beispiele stehen jeweils für sich und werden auch nicht miteinander verglichen, was auch keinen Sinn machen würde. Dabei kommen natürlich auch Versäumnisse im „System“ zu Tage, wo z.B. trotz einer eindeutigen Diagnose autismusspezifische Therapien nicht angewendet werden.
Diskussion und Fazit
Das Buch ist notwendig, um die derzeitigen Meilensteine des neuen Denkens auch und gerade bei Autisten aufzuzeigen. Allerdings wird über weite Teile des Buches der Eindruck vermittelt, das nur das entsprechende Einlassen auf die Autisten dann auch dazu führen würde, dass sie mit sich und ihrer Umwelt und in dieser auch zu Recht kämen. Die vielen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Einrichtungen und Ambulanzen wissen aber, dass dieses zu kurz greift. Die Irritationen und Probleme stellen sich häufig wieder neu dar (z.B. nach spezifischen Entwicklungsphasen) und viele bereits erworbenen Dinge müssen wieder neu eingeübt werden. Außerdem lässt das Buch vermuten, dass es sich hauptsächlich auf Autisten mit einem vergleichsweise hohen Intelligenzniveau bezieht. Auch wenn das Beispiel von Herrn E. am Schluss des Buches einen Autisten mit höchstwahrscheinlicher Intelligenzminderung und Verhaltensauffälligkeiten anführt, so ist doch der Gesamteindruck des Buches dahingehend anders. Und das darf auf keinen Fall passieren: das es Autisten verschiedener „Ordnungen“ gibt, sondern es muss um spezifische Hilfen, orientiert an der Stärken-Perspektive, für Autisten geben, die sich nach Lebenslagen und Bedarfen differenzieren. Die Umsetzung dieses neuen Denkens in die Praxis ist ein schwieriges und mühsames Unterfangen – nicht nur bei Kostenträgern und Gesetzgeber, sondern auch bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es geht ja darum, neue Überzeugungen zu entwickeln, also mit veränderten Haltungen seiner Arbeit nachzugehen. Insofern wären Überlegungen zur Umsetzung in diesem Buch noch wünschenswert gewesen. Die derzeitig zu beobachtende Tendenz, bisherige Inhalte einfach mit neuen Begriffen zu besetzen (z.B. statt bisher Integration nun Inklusion; statt bisher Teilhabe nun Partizipation) darf auch hier nicht passieren. Die Autoren würden sich sicherlich vehement dagegen wehren, wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von sich sagen würden, das haben wir in der Vergangenheit auch schon so gemacht, aber wir haben es nicht so benannt. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es eine breite Debatte auslöst, wie das neue Denken umzusetzen ist und dass es in seinen zentralen Aussagen Anschluss findet an die allgemeine Diskussion um die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Zitiervorschlag
Stefan Müller-Teusler. Rezension vom 27.05.2011 zu:
Georg Theunissen, Henriette Paetz: Autismus. Neues Denken - Empowerment - Best-Practice. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2011.
ISBN 978-3-17-021482-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9922.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
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