Andreas Foitzik: Jugendhilfe im Einwanderungsland - ein Handbuch
Rezensiert von Prof. Dr. Claus Melter, 06.07.2010
Andreas Foitzik: „Vergiss..., vergiss nie, ...“ Jugendhilfe im Einwanderungsland - ein Handbuch. Ergebnisse aus dem Projekt djela. Diakonische Jugendhilfe im Einwanderungsland.
Diakonisches Werk Württemberg
(Stuttgart) 2008.
150 Seiten.
Zu bestellen bei: Diakonisches Werk Württemberg, Abteilung Kinder, Jugend und Familie, Postfach 101151, 70010 Stuttgart, 0711-1656-228, Reichel.A@diakonie-wuerttemberg.de
10 € plus Porto.
Thema und Entstehungshintergrund
Es gibt viele Theorien und Forderungen, wie die Jugendhilfe sich in rassismuskritischer sowie migrations- und kultursensibler Perspektive positionieren und welche Rolle Soziale Arbeit im Einsatz für eine gerechtere Gesellschaft haben sollte. Wenige Projekte und Publikationen stellen sich jedoch empirisch und theoretisch die Frage, wie diese Ansprüche umgesetzt werden. In der Publikation “´Vergiss …, vergiss nie, …’ Jugendhilfe im Einwanderungsland. Diakonie Württemberg Djela – diakonische Jugendhilfe im Einwanderungsland“ wird anhand einer dreijährigen Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen ein lesenswerter und zum Nachdenken inspirierender Leitfaden für die Praxis entwickelt, der sowohl auf den Beobachtungen und Erfahrungen der Praxis als auch auf theoretischen Reflexionen beruht.
Autor
Andreas Foitzik ist seit vielen Jahren als Trainer, Fort- und Weiterbildner sowie als Koordinator im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe tätig und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Interkulturalität und Antirassismus im Bildungsbereich realisiert. Anhand seiner Erfahrungen und der Ergebnisse des dreijährigen Projektes Djela – diakonische Jugendhilfe im Einwanderungsland konzipiert er einen programmatischen Leitfaden und eine systematische Reflexion und Orientierung für eine Jugendhilfe in der Migrationsgesellschaft mit vielen Praxisbeispielen.
Aufbau und Inhalt
In der 150seitigen Publikation werden zuerst zentrale programmatische Orientierungspunkte (wie bestehende Barrieren überwinden, Strukturen ändern, Betroffene beteiligen, u.a.) und die Grundlagen für migrationssensibles Arbeiten in der Jugendhilfe, Paradoxien interkulturellen Verstehens, das Verhältnis von Migration, Kultur und Geschlechterverhältnis sowie einer Darstellung der djela-Projektstruktur vorgestellt.
Im zweiten Teil wird anhand von tendenziell gelungenen Praxisbeispielen ein Leitfaden für die Praxisreflexion vorgestellt, indem beispielsweise der Umgang mit Mehrsprachigkeit, die Thematisierung und mögliche Berücksichtigung von Migrationshintergrund im Fallverstehen sowie die Auseinandersetzung mit aufenthaltsrechtlich prekären Lebenssituationen z.B. bei minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen vorgestellt. Auch Aspekte kultur- und migrationssensibler Elternarbeit werden im Hinblick auf Zugangsbarrieren, die Gestaltung von Erstkontakten und die Nutzung verschiedener Sprachen geschildert.
In einem weiteren Abschnitt wird die interkulturelle Öffnung als Prozess der Organisationsentwicklung vorgestellt und diskutiert. Weitere bedeutsame Themenfelder sind die Personalentwicklung als ein Schlüssel für migrations- und kultursensible Jugendhilfe und die regionale Verankerung und Planung. Den Abschluss der Publikation bilden Materialien aus dem djela-Projekt sowie Ergänzungen und Kommentierungen dieses Materials. Gelungen ist auch die Link- und Adressenliste von Einrichtungen, Beratungs- und Fortbildungsstellen sowie die Film- und Literaturliste mit kurzen Inhaltsangaben. Bei den rechtlichen Aspekten und Thematisierungen im Serviceteil wäre ein Hinweis auf die Komplexität der Themen und die sich stetig verändernde Rechtslage und Rechtsauslegung sicherlich hilfreich gewesen.
Diskussion
Eine zentrale Herangehensweise des Autors ist es, Kultur als veränderbare Konstruktion zu begreifen und die unterschiedlichen Umgangsweisen mit Kultur-Verständnissen in ihren Begründungshintergründen und Effekten zu reflektieren. „Die entscheidende Frage für pädagogisches Handeln unter Bedingungen von auch migrationsbedingter Differenz lautet nicht: Gibt es kulturelle Unterschiede? Bedeutsamer sind vielmehr folgende Fragen: Unter welchen Bedingungen nutzt wer mit welchen Effekten die Kategorie ’Kultur’“ (Mecheril 2004, S. 116)
So wird mehrfach auf die Problematik von festschreibenden und vereinheitlichenden Kultur-Verständnissen, die Personen mit Migrationsgeschichte zugeschrieben werden, hingewiesen (vgl. S. 18). In Bezugnahme auf das Zitat der afroamerikanischen Dichterin Pat Parker „Für die Weiße, die wissen möchte, wie sie meine Freundin sein kann. Erstens: Vergiss, dass ich schwarz bin. Zweitens: Vergiss nie, dass ich schwarz bin“ wird auf das Spannungsfeld oder es könnte auch gesagt werden unhintergehbare Dilemma verwiesen, vor dem eine pädagogische und rassimuskritische Arbeit steht, die Differenzen berücksichtigen will und Personen nicht auf diese Differenzen reduzieren will. Die anspruchsvolle Reflexions- und Handlungsanforderung besteht in der Überlegung, wem Differenz zugeschrieben wird und wer als „normal“ angesehen wird und welche unterschiedlichen Konsequenzen damit verbunden sind. Da ethnisierende und auf Kultur, Nation oder an „Rasse“-Konstruktionen anschließende Zuschreibungen mit Machtverhältnissen und zum Teil mit Anpassungsforderungen und Defizitbeschreibungen verwoben sind, stellt sich auch die Frage, wie Jugendhilfe in Bezug auf Machtverhältnisse agiert und von welchen Normen und Idealvorstellungen eine reflexive migrations- und kultursensible Jugendhilfe ausgeht und sie dann praktisch handeln kann. Plädiert wird für „einen fehlerfreundlichen und kreativen Lernprozess“ (S. 25) in der Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Anforderungen möglich sind.
In Bezug auf Geschlechterverhältnisse und Migration wird darauf hingewiesen, dass jeweils der Sinn, den die AkteurInnen ihrem Handeln situativ und im jeweiligen Beziehungs- und Institutionskontext zuschreiben, zu verstehen angestrebt werden soll – ohne vorschnell kulturelle Deutungsmuster vereinheitlichend anzuwenden, sie jedoch neben und in klassen- und genderbezogenen Deutungen auch als mögliche Interpretationsfolie nicht auszuschließen (S. 30). In diesem Zusammenhang werden Fallstricke und Reflexionsperspektiven einer kultur- und migrationssensiblen Perspektive anschaulich an Beispielen und mittels Grafiken ausgebreitet (S. 31 ff.).
Im Leitfaden für die Praxis werden konkrete Methoden wie Interviews, Genogramm-Arbeit oder interkulturelle Aktionen, Umgang mit Sprachmittlung uvm. (S. 42-82) anschaulich dargestellt und in Ansätzen vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen diskutiert.
Fazit
Es ist in dieser Publikation zweifellos gelungen, sowohl vielfältige bedeutsame Aspekte der Jugendhilfe in der Migrationsgesellschaft zu thematisieren als auch praktische Handlungsanweisungen, Arbeitsfelder und Reflexionsgedanken in verständlicher und praktischer Weise dargestellt zu haben ohne belehrend eine Rezeptliste für „das richtige Handeln“ (was es, so die reflexive Kommentierung, gar nicht geben kann, da jede Handlung kontext- und personenspezifisch unterschiedlich ist und ein gänzliches Verstehen unmöglich ist) zu erstellen. Der Untertitel „Ein Handbuch“ entspricht sicherlich der Vielfalt und Breite der angesprochenen organisatorisch-institutionellen und pädagogischen Aspekte von Jugendhilfe in der Migrationsgesellschaft. In Bezug auf die empirische und theoretische Auseinandersetzung mit der Praxis der Jugendhilfe und auch den Grad der Vertiefung einzelner Aspekte ist der Anspruch eines Handbuch-Charakters jedoch nicht erreicht. Gelegentlich wäre eine trennschärfere Benennung und Thematisierung des Spannungsfeldes zwischen normativen Ansprüchen und Visionen auf der einen Seite und bereits realisierter Praxis auf der anderen Seite hilfreich gewesen. Auf die Schwierigkeit, wie diakonische Einrichtungen in migrations- und kultursensibler sowie rassismuskritischer Perspektive die in Bezug auf nicht-christliche Religionen diskriminierende Vorgabe, vor allem MitarbeiterInnen mit christlicher Konfessionsangehörigkeit einzustellen, verändern können wird am Rande eingegangen.
Die vielen Stärken und wenigen Schwächen dieses Textes berücksichtigend kann insgesamt von einer sehr lesenswerten Publikation sowohl für PraktikerInnen als auch für Studierende gesprochen werden, da vielfältige Themen und Aspekte praxisnah und theoretisch verständlich bearbeitet werden. Der Text kann als Einstieg in der Praxis migrations- und kultursensibler Jugendhilfe sein und als Orientierungs- und Reflexionsrahmen dienen.
Rezension von
Prof. Dr. Claus Melter
Hochschule Bielefeld, Arbeitsschwerpunkte diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Krankenmorde in Bethel im Nationalsozialismus, Koloniale Völkermorde in Tanzania und Namibia.
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