Larissa Krainer, Peter Heintel: Prozessethik
Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Simsa, 05.11.2010

Larissa Krainer, Peter Heintel: Prozessethik. Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
249 Seiten.
ISBN 978-3-531-17250-7.
39,95 EUR.
Reihe: Schriften zur Gruppen- und Organisationsdynamik - Band 8.
Thema
In diesem Buch geht es um die Frage, wie ethische Entscheidungen in modernen Organisationen und damit letztlich auch in der Gesellschaft organisiert und umgesetzt werden können. Der Ansatz der Prozessethik impliziert ein auf philosophischen Grundlagen basierendes praxisorientiertes Beratungsmodell.
AutorInnen
Larissa Krainer ist Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Klagenfurt, Peter Heintel ist Professor für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt und hat lange Erfahrung als Organisationsberater und damit Begleiter organisationaler Prozesse.
Aufbau
Zu Beginn steht die Frage nach der Notwendigkeit und der Zuständigkeit für Ethik, insbesondere Überlegungen zu ihrer Bedeutung in modernen, funktional differenzierten und individualisierten Gesellschaften. Im Kapitel „theoretischer und praktischer Hinführungen“ geht es etwa darum, wie weit Ethik eine erlernbare Tugend ist, wie ihr Stellenwert zwischen Individuum und Gesellschaft zu sehen ist, wie weit sie mit Selbstbestimmung zusammenhängt etc.
Das Kapitel angewandte Ethik als Beitrag zur praktischen Philosophie untersucht unterschiedliche gesellschaftliche Subsysteme in ihrem Zusammenhang mit Ethik, etwa Politik, Sport, die Medien, Ökonomie, Wissenschaft etc.
Auf dieser Basis wird das in diesem Band entwickelte prozessethische Modell vorgestellt, auf dem ein praktisches Verfahren beruht.
Inhalt
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass derzeit überall ein Ethikbedarf festgestellt wird, der nicht mehr allein durch das individuelle Gewissen einzelner Handelnder befriedigt werden kann – dies führt zu individueller Überforderung und letztlich häufig zu Subjektivismus und Relativismus. Das gesellschaftliche Modell der „Arbeitsteilung“, nämlich die funktionale Differenzierung in einzelne Teilsysteme ist für die Bearbeitung ethischer Fragen ebenfalls nicht ausreichend, da die Teilsysteme Fragen, die ihre Zuständigkeiten überschreiten, nicht mehr mittels ihrer eigenen Funktionslogik beantworten können. „Ethik ist weitgehend ortlos…“ (9) Dies führt meist zu zwei Lösungsversuchen – entweder der Formulierung von Kodizes, oder der Delegation an Experten – beide sind suboptimal, da sie entweder theoretisch oder fremdbestimmt sein müssen. Eine Institutionalisierung von Prozessen, wie sie im Rechtssystem vorhanden ist, hat die Ethik allerdings noch nicht.
Prozessethik dagegen begründet die Angewiesenheit der Ethik auf selbstorganisierte Prozesse, die den Anspruch haben, weder fremdbestimmt noch individualisiert-willkürlich abzulaufen. Damit wird Ethik zum Thema individueller und kollektiver Selbstbestimmung. Prozessethik bedeutet letztlich die Organisation von sich selbst reflektierender Praxis, sie „stellt einen Versuch dar, in unsere ethische, moralische Alltagsrealität zurückzuführen; nimmt sich dem Thema „Vielfachzuständigkeit“, kollektiver Eigenständigkeit und Selbstbefreiungsakte, sowie der Widersprüche und Konflikte an.“ 31 Ein Problem der Ethik ist, dass wir Widersprüche bzw. unterschiedliche Wertfiguren oft einfach nebeneinander stehen lassen, keine Übung im Prozessieren ihrer Vermittlung haben. Um Vermittlung und deren Prozessieren geht es der Prozessethik, der Fokus liegt auf der Praxis ethischer Problembewältigung, auf ihren organisatorischen Voraussetzungen und Bedingungen zeitlicher und räumlicher Natur, im Kern geht es darum, in jedem x-beliebigem Verfahren Selbstreflexion und in ihr die Frage nach dem „Guten“ zuzulassen.“37 Dies aktiviert das Wollen gegenüber dem Sein, entlang der Frage „Wollen wir alles so, wie es ist?“
Das prozessethische Modell beruht auf 5 Feldern, d.h. Aspekten, die nur analytisch trennbar, zu Momenten des Prozesses werden. Ein Feld bezieht sich auf das Differenzwesen Mensch (in Differenz zu Natur, Vorbestimmung, Instinkt etc.) und die zu seinem Wesen gehörenden Widersprüche. Das zweite identifiziert die aus den Widersprüchen resultierenden Konflikte, wie etwa existenzielle Grundkonflikte, Sozialkonflikte, Konflikte von Systemlogiken etc. Im dritten Feld geht es um Reaktionsformen, wie Verleugnung, Verdrängung, Schuldzuweisung, Resignation, schnelle Entscheidungen etc, sowie um die aus der Konfliktforschung bekannten Lösungsmethoden, Flucht, Kampf, Delegation, Kompromiss, Konsens. Im vierten Feld schließlich werden Antworten auf Konflikte benannt, wie Normen, Werte, Rituale, Etiketten, Gesetze etc. und im fünften Feld werden Instanzen des Schutzes und der Rechtfertigung dieser Antworten angeführt, z.B. Kirchen, die Natur, Politische Ideologien, Staat etc. (S. 165ff)
Anforderungen an Prozessethik:
- Prozessethik organisiert (kollektive) Selbstreflexion: Hier geht es um den Austausch von Sichtweisen, das wechselseitige Anhören, um das Anhören von Betroffenen, d.h. um praktische Konfrontation des über Andere Gedachten mit dem von ihnen selbst Gesagten. Unterschiede der Sichtweisen und Werte treffen dabei aufeinander, werden gegenseitig wahrgenommen, verstanden und im günstigen Fall so verhandelt, dass sie in gemeinsam getragene Lösungen münden. Zielsetzung dabei ist es, von der individuellen Selbstreflexion zu einer kollektiven Selbstreflexion voranschreiten zu können, die, auf breitere Basis gestellt, letztlich auch mehr Sicherheit in ethischen Fragen oder auch eine umfassendere Reflexion in komplexen Themenstellungen ermöglichen soll.
- Aufklärung wird damit kollektiv – es wird bewusste Selbststeuerung von Kollektiven in ihrer ethischen Wertsetzung ermöglicht.
- Dies bedeutet ein Sich-in-Distanz-Setzen zu Normen und Werten. Diese sind keine unverrückbaren Tatsachen, sondern müssen regelmäßig hinterfragt werden – was es erforderlich macht, sich zu ihnen in Distanz zu setzen, sie in Frage zu stellen.
- Prozessethik ist insofern angewandte Dialektik, als ja davon ausgegangen wurde, dass ethische Konflikte auf Widersprüche zurück zu führen sind, welche nicht einseitig gelöst werden können.
- Einer dieser Widersprüche ist jener zwischen den mit Größe einer Gruppe notwendig werdenden Repräsentationsverfahren und dem Anspruch auf direkte Partizipation, dieser macht es erforderlich „über ein bestmögliches Verfahren nachzudenken, das sowohl Partizipation ermöglicht, als es auch Repräsentation zulässt, ...“ was jedenfalls ausreichende Rückkopplungsprozesse erfordert. 216
Diskussion
Die Grundidee des Buches, Individuen von der Entscheidung über ethische Fragen zu entlasten, ohne diese gleich hierarchisch an Institutionen zu delegieren, sondern sie im Rahmen prozessethischer Verfahren aufzuheben, ist kreativ, sinnvoll und entspricht einem weithin kollektiv geteilten Bedürfnis nach einem besseren Umgang mit der Ethik sowie auch einer gesellschaftlichen Notwendigkeit im Rahmen funktionaler Differenzierung.
Die philosophische und gesellschaftstheoretische Fundierung der Überlegungen ist überzeugend und informativ.
Fazit
Das Buch ist jedenfalls empfehlenswert, für all jene, die an Ethik in ihrer Verbindung zur modernen Gesellschaft sowie an ihren philosophischen Hintergründen interessiert sind und die bereit sind, sich dafür auch durch manche nicht ganz leicht lesbare Passagen zu kämpfen.
Rezension von
Prof. Dr. Ruth Simsa
Wirtschaftsuniversität Wien
Institut für Soziologie, NOP Institut
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