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Frank Ettrich, Wolf Wagner (Hrsg.): KRISE und ihre Bewältigung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.09.2010

Cover Frank Ettrich, Wolf Wagner (Hrsg.): KRISE und ihre Bewältigung ISBN 978-3-643-10678-0

Frank Ettrich, Wolf Wagner (Hrsg.): KRISE und ihre Bewältigung. In Wirtschaft, Finanzen, Gesellschaft, Medizin, Klima, Geschichte, Moral, Bildung und Politik. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2010. 240 Seiten. ISBN 978-3-643-10678-0. 29,90 EUR. CH: 47,90 sFr.
Reihe: Soziologie: Forschung und Wissenschaft - 33.

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Krisen sind überall – sind Krisen normal?

Große Krisen, kleine Krisen, Finanz- und Wirtschaftskrisen, institutionelle Krisen, persönliche Krisen …, wohin man schaut, liest und hört, überall ist die Rede von den Krisen. Das Elend ist überall! Die vielfältigen, seit Jahrhunderten immer wieder artikulierten Aufforderungen, dass der Mensch sein Leben und damit sein Denken und Handeln, lokal und global, ändern müsse (vgl. dazu z. B. die Welt-Prognosen, wie sie vom Club of Rome und anderen Alarm-Einrichtungen an die Menschen gerichtet werden), scheinen das Menschheitsgewissen nur mäßig und wenig erfolgreich zu tangieren. Das Worldwatch Institute in Washington stellt in dem jährlich erscheinenden Bericht zur Lage der Welt fest, dass der Planet Erde, der Lebensraum der Menschen also, vor der Überhitzung stehe (siehe die Rezension zu Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009, Münster 2009). Und der dringende Appell, den die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ in ihrem Bericht 1995 formuliert hat, bleibt – so scheint es – papierenes Dokument: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Sich am Stammtisch oder in der Straßendiskussion en passant über die großen und kleinen Krisen auszulassen, ist das eine; die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vielfältigen Krisen in den Lebens- und Schaffensbereichen der Menschen eine notwendig andere.

Autorenteam und Entstehungshintergrund

Die beiden wissenschaftlichen Einrichtungen in Erfurt, Universität und Fachhochschule, haben im Sommer 2009 in einer Vortrags- und Diskussionsreihe zum Thema „Krisen“ die Thematik unter interdisziplinären Fragestellungen behandelt. Sie sind soeben in einem Tagungsband erschienen. Die Herausgeber, der Direktor der Willy-Brandt-School der Universität, Frank Ettrich und der Sozialwissenschaftler der Fachhochschule, Wolf Wagner, haben die Themen, die unter politik-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen diskutiert wurden, publiziert.

Aufbau und Inhalt

Wir leben in einer „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich Beck), die davon gekennzeichnet ist, dass Furcht eine eigene Wirklichkeit schafft (vgl. die Rezension zu Markus Holzinger, Stefan May, Wiebke Pohler: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, 2010). Die Reaktionen darauf sind, je nach gesellschaftlicher Verfasstheit, politischer Reife oder ideologischer Verengung, unterschiedlich, rational oder irrational.

Der Erfurter Volkswirtschaftler Karl-Heinz Moritz und Stephanie Mucha, die sich in ihrer Bachelorarbeit mit der aktuellen Finanzmarktkrise auseinandergesetzt hat, nehmen sich die Frage vor: „Haben wir eine Krise?“, indem sie einen Vergleich der Ursachen und Reaktionen der Weltwirtschaftskrise von 1929 mit der gegenwärtigen Finanzmarktkrise vornehmen. Sie prognostizieren zwar keine rasche Überwindung der aktuellen Krise, machen jedoch deutlich, dass die von den Regierungen und Geldinstituten eingeleiteten antizyklischen Maßnahmen gegen die Krise in die richtige Richtung gehen.

Der an der FHS Erfurt lehrende Sozialwissenschaftler Ronald Lutz, der zum Gebiet „Menschen in besonderen Lebenslagen“ schon vielfach zu Wort gekommen ist (z. B. im Paulo Freire Verlag Oldenburg), reflektiert die „sozialen Folgen der Krise“ auseinander. Es ist die „Krise des Sozialen“, die auf der einen Seite die „Flüchtigkeit des modernen Daseins“ kennzeichnet, zum anderen die egoistische Unverbindlichkeit, die eine „Normalisierung von Armut“ schafft und so zu einer Verfestigung von Parallelgesellschaften führt, und zwar nicht nur bei der Integrationsproblematik, sondern auch zwischen denen, die in der Gesellschaft immer reicher und den anderen, die immer ärmer werden.

Der Geschäftsführer des Sparkassen- und Giroverbandes Hessen-Thüringen und Erfurter Honorarprofessor Norbert Kleinheyer reflektiert über „die gegenwärtige Finanzmarktkrise und ihre Konsequenzen. Dabei legt er die Bedingungen und Möglichkeiten dar, wie die internationalen Verflechtungen geregelt werden könn)en, nicht zuletzt durch eine Finanz- und Bankenkontrolle, und er mahnt ein neues (kapitalistisches) Denken an.

Der Vorstandsvorsitzende der Erfurter Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft Ralf-Dietrich Erkwoh weist in seinem Beitrag darauf hin, dass der Begriff der Krise seinen Ursprung im Medizinischen habe, als „spezifisch menschlich“ anzusehen sein und als existentielle Herausforderung die Chance in sich habe, Veränderungsprozesse mit zu gestalten. Die Professorin für Landschaftsplanung an der FHS Erfurt, Ilke Marschall setzt sich mit den lokalen, regionalen und globalen Bedingungen und Auswirkungen der Klimakrise auseinander . Sie erhofft sich eine „kollektive Vernunft“, um mit den Veränderungen human umgehen zu können, die die Klimakrise verursachen (vgl. dazu auch die Rezension zu Al Gore, Wir haben die Wahl. Ein Plan zur Lösung der Klimakrise, Berlin 2009).

Alexander Thumfart, Politikwissenschaftler an der Universität Erfurt, gibt in seinem Beitrag einige exemplarische, politik-theoretische Antworten auf die Frage, welche politische Steuerungsmechanismen in der Zeit der (System-)Krisen denk- und handhabbar sind. Es ist der historische und der aktuell-politische Blick, der einen Perspektivenwechsel im neoliberale und kapitalismusorientierten Denken erfordert (vgl. dazu die Rezension zu Eva Hartmann, u.a., Hrsg., Globalisierung, Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster 2009; sowie die Rezension zu Sebastian Dullien u.a., Der gute Kapitalismus… und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, Bielefeld 2009).

Der Kulturhistoriker und Präsident der Universität Erfurt, Kai Brodersen, reflektiert mit seiner Studie über die historische Krisensituation des Jahres 49 v. Chr., als Caesar am Rubikon eine Entscheidung traf, die als Sprichwort in den internationalen Wortschatz eingegangen ist: Der Würfel ist gefallen! „Den Knoten auflösen“, das ist eine Herausforderung, die damals wie heute gilt.

Philosophisch nähert sich der Thematik Winfried Franzen mit der Frage: „Moral in der Krise?“. Er plädiert – um nicht einerseits altruistischen, andererseits egoistischen Tendenzen in der sich immer interdependenter, entgrenzender, unverbindlicher und unkontrollierbarer sich entwickelnden Welt das Wort zu reden – für eine kulturelle Weiterentwicklung der Moral: „Die jeweilige Berechtigung und das wechselseitige Begrenzen von Egoismus und Altruismus müssen sich neu und besser einregulieren“. Der Erziehungswissenschaftler Hans Merkens bezieht Position zur „Bildungskrise“, wie sie derzeit in aller Munde ist, jedoch als unbestimmte Metapher eine diffuse gesellschaftliche Wirkung ausübt. Inwieweit seine Prognose beruhigt oder aufregt, ist sicherlich eher dem Ungewissen geschuldet: „Sicher ist nur, dass die nächste Bildungskrise kommen wird, weil sich die … Abstimmungsprobleme zwischen Bildungs- und Gesellschafts- bzw. Wirtschaftsystem immer wieder einstellen werden“.

Wolf Wagner, Professor für Sozialwissenschaft und Politische Systeme an der FFS Erfurt, schließlich konfrontiert im Zusammenhang von „Krise und Politik“ die Profiteure der (wirtschaftlichen) Krise, indem er in vier Schritten das Verhältnis von Politik und Wirtschaft in den Krisenzeiten reflektiert, einen Vergleich der Wirtschaftskrisen der 1920er und 1930er Jahre mit der von heute vornimmt, die (jeweiligen) Bevölkerungsreaktionen darstellt und die erwarteten (einfachen) Antworten der Bevölkerung mit den Verhaltensweisen der politischen und wirtschaftlichen Eliten konfrontiert.

Fazit

Wann, wie und in welchem Maße sich Krisen zeigen, „wir können sie nur kompetent bewältigen, wenn wir sie mit all ihren Abgründen und Schrecken und auch Chancen ohne Schuldzuweisungen und Sündenböcke annehmen“ (Wolf Wagner). Die Vortragsveranstaltung der beiden Erfurter Hochschulen zeigen auch auf, dass „das Ende der Gewissheiten“ erreicht ist (vgl. dazu auch: Michael M. Thoss / Christiane Weiss, Hrsg., Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, München 2009, Rezension). Und sie machen deutlich, dass die Daseinspaare „Sicherheit und Risiko“ sich kongruent zueinander verhalten (vgl. die Rezension zu Herfried Münkler, u.a., Hrsg., Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2009). Was bleibt in den Zeiten der Krisen und der globalisierten Unbestimmtheiten ? Die Fähigkeit zu einem menschengerechten, nachhaltigen und gelingenden Perspektivenwechsel, bei dem Krisen weder als Gottesurteil noch als unabwendbares Schicksal definiert werden, sondern als Herausforderung zu verstehen, sich dem gesellschaftlichen, ökonomischen, individuellen, kulturellen und mentalen Wandel aktiv und kreativ zu stellen (vgl. die Rezension zu Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, München 2009).

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245