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Christian Rittelmeyer: Warum und wozu ästhetische Bildung?

Rezensiert von Dr. Dominik Krinninger, 15.11.2010

Cover Christian Rittelmeyer: Warum und wozu ästhetische Bildung? ISBN 978-3-89896-403-6

Christian Rittelmeyer: Warum und wozu ästhetische Bildung? über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten ; ein Forschungsüberblick. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2010. 122 Seiten. ISBN 978-3-89896-403-6. D: 17,50 EUR, A: 18,00 EUR, CH: 31,50 sFr.
Reihe: Pädagogik: Perspektiven und Theorien - Band 15.

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Thema

Ästhetische Bildung, Kulturelle Bildung, Musik- und Kunsterziehung, ästhetische Erziehung, Kulturarbeit… Unter verschiedenen Denominationen firmieren Konzepte, die rezeptive und/oder produktive ästhetische Tätigkeiten mit pädagogischen Intentionen verknüpfen. So unterschiedlich die einzelnen Ansätze sind, stets geht es um positive Wirkungen des Ästhetischen, die sich nicht nur auf das Ästhetische selbst beschränken, sondern darüber hinaus auch andere Lebensbereiche erfassen sollen. In jüngerer Zeit hat z.B. der „Kompetenznachweis Kultur“ Bekanntheit erlangt und der Dokumentarfilm „Rhythm is it!“ über ein Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker taucht als Vorzeigebeispiel beharrlich in inner- und außerfachlichen Debatten auf. Ideengeschichtlich hat Ehrenspeck den (uneingelösten) Versprechenscharakter Ästhetischer Bildung herausgearbeitet (vgl. Ehrenspeck 1998). Dieser Befund verweist auf eine Fragestellung zum Bildungssinn ästhetischen Tuns, die sich letztlich nicht ohne Empirie beantworten lässt. Die Frage, ob und inwiefern das Ästhetische ‚nützlich‘ ist, ist dabei von hoher praktischer Relevanz: Z.B. für die Legitimation von Praxisprojekten und Einrichtungen in diesem pädagogischen Handlungsfeld, für die Erarbeitung und Sicherung von entsprechenden Schulprofilen, aber auch für eine Stärkung pädagogischer Konzepte im sich ausweitenden Markt der Kulturvermittlung. In diesem Zusammenhang hat Christian Rittelmeyer mit seinem Überblick über die internationale Forschung zu den Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten nun eine hilfreiche Handreichung vorgelegt.

Aufbau und Inhalt

In seiner Einleitung skizziert Rittelmeyer eine latent prekäre Lage der Ästhetischen Bildung angesichts einer eingeschränkten öffentlichen und fachlichen Anerkennung. V.a. an PISA macht Verf. eine Verengung der Interessen auf technisch-naturwissenschaftliche Fähigkeiten als Dimensionen von Bildung fest und plädiert für eine höhere Aufmerksamkeit für die Entwicklung ästhetischer Fähigkeiten. Dabei stellt er die Notwendigkeit heraus, empirische Argumente für die Ästhetische Bildung zu sammeln, um sie bildungspolitisch zu stärken. Für einen – neben anderen – wichtigen Baustein in dieser Hinsicht hält er die Forschung zu den Transferwirkungen Ästhetischer Bildung.

Im zweiten Kapitel, der Einführung in die Fragestellung, werden wichtige Forschungsansätze vorgestellt und erste Ergebnisse skizziert, um die Frage nach den Transferwirkungen des Ästhetischen und deren Reichweite zu konturieren. So führt Rittelmeyer die im Film „Rhythm is it!“ gemachte Beobachtung an, dass die am Tanzprojekt teilnehmenden Jugendlichen zu einem steigenden „Selbstbewusstsein“ (22) finden, „innerlich ruhiger [werden und] weniger häufig in Schlägereien“ (22) verwickelt sind. Aus der bekannten Studie von Bastian, „Musik(erziehung) und ihre Wirkung“, greift er die dort festgestellte „intelligenzfördernde Wirkung“ (23) des Musikunterrichts heraus. Wichtig ist Rittelmeyer auch der Hinweis auf Untersuchungen aus dem Gebiet der Hirnforschung, die eine Veränderung spezifischer Hirnareale durch künstlerisches Tun beschreiben (vgl. 25).

Mit dem Abschnitt zu den Transferwirkungen der Musik eröffnet Rittelmeyer seine detaillierte Zusammenfassung über Forschungen zu Transferwirkungen in einzelnen ästhetischen Bereichen. Er beginnt mit dem sog. „Mozart-Effekt“ (27), der 1993 konstatiert wurde und eine Verbesserung des räumlichen Vorstellungsvermögens bei Studierenden beschreibt, nachdem diese eine Mozart-Sonate gehört hatten. In der Diskussion dieser und nachfolgender Untersuchungen führt Rittelmeyer das Argument an, dass „Musikalität als Teilaspekt intelligenten Verhaltens“ (30) zu verstehen ist und insofern von einem Konzept multipler Intelligenzen auszugehen ist, wenn man der Komplexität entsprechender Korrelationen (Intelligenz/Musik) gerecht werden will. Er hält es für begründet, dass Musik „… zu Verbesserungen des räumlichen Vorstellungsvermögens (und darüber hinaus anderer Fähigkeiten …) führt – und damit zu einer graduellen Bereicherung kognitiver Kompetenzen…“ (31). Breit diskutiert wird auch eine Längsschnittuntersuchung von Katarzyna Grebosz, die nach der Wirkung von musikalischer Ausbildung auf außermusikalische Eigenschaften bei polnischen Grundschulkindern fragt (vgl. 39 ff.). Rittelmeyer zitiert: „Musik und Kunst sind … keineswegs isolierte, nutzlose Tätigkeiten, sondern sind in den Gesamtkomplex kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten eingebunden. Es wurde nachgewiesen, dass musikalische sowie musikalisch-künstlerische Bildung die Entwicklung der psychischen Dispositionen von Kindern tatsächliche beeinflussen kann.“ (43). Auch in Bastians bereits erwähnter Studie zeigte sich eine Reihe von signifikanten Ergebnissen: Musikerziehung hatte positive Auswirkungen auf soziales Verhalten, Leistungsmotivation, Intelligenz, Konzentrationsfähigkeit, emotionale Befindlichkeit, Schulleistungen und die Reduzierung von Angstzuständen (vgl. 44). Detailliert und kenntnisreich führt Rittelmeyer in diesem Abschnitt durch Ergebnisse der Hirnforschung (45 ff.). Er erläutert zunächst einige grundlegende Befunde: die Plastizität des Gehirns, die Funktion und die (lebenslang mögliche) Bildung von synaptischen Verbindungen. Danach diskutiert er spezifische Befunde der neurologischen Transferforschung. Regelmäßiges Musikhören hat (bei individuellen Unterschieden) Effekte auf Sprachvermögen (vgl. 52) und mathematische Leistungen (vgl. 54). Wichtig ist dabei, dass sich musikalische Komplexität in der Genese komplexer neuronaler Vernetzungen auswirkt (vgl. 56) und dass es besonders förderlich ist, wenn Lernen mit „Freude und emotionaler Beteiligung erfolgt“ (56). Trotz einiger Einwände bilanziert Verf. die vorliegenden Ergebnisse positiv; man müsse „…davon ausgehen, dass die Transfereffekte in einer beträchtlichen Zahl von Einzelfällen relativ stark ausfallen – erst die Statistik der großen Zahl ohne ergänzende Einzelfallanalysen ebnet diesen Effekt gleichsam ein…“ (68).

Zu Transferwirkungen des Kunstunterrichts, des Theaterspiels und des Tanzes liegen weit weniger Studien als zum Bereich der Musik vor. Zum Tanz hält Rittelmeyer fest, dass eine Reihe von Befunden schließen lässt, dass sich die tänzerische Stimulierung von Hirnarealen insbesondere deswegen förderlich auswirkt, weil diese Areale auch für andere Leistungsbereiche relevant sind. „Insofern ist ästhetische Erfahrung nicht gänzlich jenseits jener nichtästhetischen Transferbereiche anzusiedeln, sondern… teilweise mit jenen identisch“ (75). Rittelmeyer sieht in diesem Bereich „vor allem geometrische Repräsentationen sowie Fähigkeiten des räumlichen Vorstellungsvermögens … gefördert“ (78). Für den Bereich des Theaterspiels verweist er auf Untersuchungen, die eine erhöhte Gedächtnisleitungen und ein verbessertes Verständnis von Texten beschreiben, wenn diese nicht nur gelesen, sondern auch szenisch bearbeitet wurden (vgl. 82). Daneben besteht eine wichtige Transferdimension in der Ausbildung der emotionalen Intelligenz (vgl. 83 f.). Im Bereich der Forschungen zum Kunstunterricht und zu übergreifenden Projekten würdigt Rittelmeyer besonders eine amerikanische Studie, in der Unterrichtsbeobachtungen und Lehrerinterviews auf sog. mind habits und deren Effekte für Lernverhalten hin analysiert wurden. Dabei zeigten sich acht Cluster von Lernerfahrungen im Kunstunterricht: Handwerkliches Geschick, Engagement und Durchhaltevermögen, Vorstellungskraft, Ausdrucksfähigkeit, Beobachtungsvermögen, Reflexivität, Blickerweiterung und Exploration sowie Verständnis der Künste (vgl. 101f.).

Im abschließenden Ausblick bilanziert der Autor die gesammelten Befunde; sie legen nahe, „dass ästhetische Erfahrungen wesentliche Wirkungen über das unmittelbar ästhetische Gebiet hinaus auf kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten Heranwachsender haben. … Aber solche Effekte sind sehr individuell, sie artikulieren sich im Lebensgang einzelner Menschen unterschiedlich … Darüber hinaus bedarf es offenbar bestimmter äußerer Bedingungen, damit sich ästhetische Erfahrungen in Gestalt von Transferwirkungen äußern können.“ (105). Diese stellen sich damit nicht direkt ein, sondern als „…Chancen intellektueller, sozialer oder emotionaler Bildung, die in der ästhetischen Sphäre … geboten werden, weil die Künste selbst solche Qualitäten als Wesensmerkmale aufweisen.“ (106; H.i.O.). Neben einigen kritisch-differenzierenden Anmerkungen zur Transferforschung erinnert Rittelmeyer daran, dass Arrangements zur Ästhetischen Bildung nicht nur pädagogisch, sondern auch künstlerisch begründet und bewertet werden müssen (vgl. 114). Schließlich plädiert er für eine umfassende Integration ästhetischer Praktiken in den institutionellen Alltag im Sinne eines „educational enviroment“ (vgl. 115 f.). Um fundiertere Aussagen über Transfereffekte machen zu können, bedürfe es allerdings weiterer Entwicklung geeigneter Evaluationsverfahren, „die in dem hier beschriebenen umfassenden Sinne biografischer Quellen, Transferuntersuchungen, Strukturanalysen und ästhetische Theorien berücksichtigen… [So] erarbeitete Argumente werden … der ästhetischen Bildung jenes Gewicht verleihen, das ihr … zukommt“ (121 f.).

Fazit

Rittelmeyer gibt einen reichhaltigen, kompetent zusammengestellten und kenntnisreich kommentierten Überblick über die Forschung zu den Transferwirkungen ästhetischer Tätigkeiten. Mit Blick auf die Usancen dieses Genres der Wissenschaftsliteratur ist hervorzuheben, dass die herangezogenen Studien nicht nur referiert, sondern immer auch methodisch und bildungstheoretisch-systematisch (an-)diskutiert werden; zudem verweist Rittelmeyer in seiner Zusammenfassung auf Desiderata und weiterführende Fragestellungen. Auch wenn die Bildungsbedeutung des Ästhetischen nicht im Transfer auf andere Lebensbereiche aufgeht – Kunst und Kultur haben ein gewichtiges Eigenrecht und ästhetische Erfahrungen sind an sich wertvoll (worauf auch der Autor knapp eingeht) – so ist der Band doch sehr hilfreich. Er trägt zur notwendigen empirischen Fundierung der Debatte um die pädagogische Relevanz der Künste bei und kann in vielerlei Hinsicht helfen: bei der empirischen Stützung theoretischer Argumentationen, bei weiterer empirischer Forschung, aber auch für die konzeptionelle Arbeit z.B. von Musik- und Kunstschulen, in der Tanz- und Theaterpädagogik, in den sog. musischen Schulfächern oder in Einrichtungen der kulturellen Jugendbildung.

Literatur

Ehrenspeck, Y. (1998): Versprechungen des Ästhetischen. Die Entstehung eines modernen Bildungsprojekts. Leske + Budrich: Opladen.

Rezension von
Dr. Dominik Krinninger
Pädagogische Kindheits- und Familienforschung Institut für Erziehungswissenschaft
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Es gibt 3 Rezensionen von Dominik Krinninger.

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ISSN 2190-9245