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Ayfer Yazgan: Morde ohne Ehre

Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 30.03.2011

Cover Ayfer Yazgan: Morde ohne Ehre ISBN 978-3-8376-1562-3

Ayfer Yazgan: Morde ohne Ehre. Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien. transcript (Bielefeld) 2010. 366 Seiten. ISBN 978-3-8376-1562-3. 29,80 EUR. CH: 49,90 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.

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Thema

Die Zahl der jährlich berichteten so genannten Ehrenmorde liegt weltweit bei etwa 5000; Schätzungen gehen von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Am Beispiel der Türkei, und insbesondere Ost- und Südostanatoliens, stellt die Verfasserin aus kriminologischer und gendertheoretischer Sicht die Merkmale und die sozialen Implikationen des Ehrenmordes dar. Sie zeigt auf, dass nicht lediglich die Religionszugehörigkeit, sondern vielmehr die unterschiedliche Verteilung des symbolischen Kapitals der Ehre zwischen den Geschlechtern für die Entstehung eines kulturellen Klimas verantwortlich ist, das Ehrenmorde gedeihen lässt.

Autorin

Ayfer Yazgan ist Soziologin mit den Schwerpunkten Kriminologie, Türkei und Genderforschung. Sie war wissenschaftliche Beraterin des Films „Die Fremde“ (2010, von Feo Aladag).

Entstehungshintergrund

Die Studie stellt die 2009 eingereichte Dissertation der Verfasserin am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg dar.

Aufbau

Das Buch ist in vier Abschnitte untergliedert:

  1. Ehrenmord als gesellschaftliches Problem
  2. Erklärungsansätze
  3. Medienanalyse und Experteninterviews
  4. Ergebnisse

Daran schließen sich ein Fazit und ein Anhang an, der u. a. das „Ehrprinzip“ in verschiedenen Kulturen und die internationale Verbreitung von Blutrachedelikten zum Gegenstand hat.

Inhalt

Ehre ist eine immaterielle Ressource. Im Gegensatz zum ökonomischen und kulturellen Kapital lässt sie sich nicht in Geld bzw. in Zertifikate oder Abschlüsse ummünzen. Sie wird selbst angeeignet bzw. durch das soziale Umfeld zugesprochen; in jenen Kulturen, in denen diese Ressource alltagsbestimmend ist, wird die Ehrhaftigkeit des eigenen Namen bzw. der Familie öffentlich „praktiziert“, also diskursiv verhandelt, zur Schau gestellt – und verteidigt. Am Beispiel der südöstlichen Türkei lässt sich nachweisen, dass das Ehrverständnis an die traditionelle Geschlechterrolle gekoppelt ist: Ehefrauen oder Töchter, die sich nicht an die sozialen Normen der innerfamiliären Hierarchie halten, gelten dort als Beschmutzerinnen der Ehre ihrer Ehemänner, Väter, Brüder und Cousins. Insbesondere das Wagnis, eine selbst bestimmte Sexualität praktizieren oder auch nur einfordern zu wollen, kann in diesem Kulturkreis zu einem Gewaltexzess führen, an dessen Ende der Tod des Opfers steht. Nur mit Blut, so die ideologische Überzeugung, lässt sich die Besudelung der Familienehre vor den Augen der sozialen Gemeinschaft wieder reinwaschen.

Wie die Autorin erklärt, dienen nicht nur Traditionen, sondern auch historische Dokumente noch heute als Legitimationsgrundlage für diese „Ehrenmorde“; so fordert ein Pamphlet von 1927 Ehemänner dazu auf, im Falle des Fremdgehens ihrer Gattin diese und den Geliebten umzubringen (11). Die offiziellen Opferzahlen in der Türkei sprechen zwischen 2000 und 2006 von 1190 Todesopfern (21), allerdings gibt die hohe Selbstmorde unter Frauen im Südosten des Landes Anlass zu dem Verdacht, dass dabei Ehrenmorde als Suizide getarnt wurden (vgl. 157 ff., 239). Für eine soziale Gemeinschaft, die den Ehrbegriff als Kernressource ihres inneren Ordnungsgefüges versteht (was nicht nur auf islamische Länder, sondern beispielsweise auch auf südamerikanische Nationen zutrifft; vgl. 42 f.), gelten diesbezügliche Konflikte als „außerrechtliche“ Privatangelegenheiten (58). Ein Ehrverlust ist hier gravierender als der Mord, der ihn beseitigt: Ohne Ehre gilt die ganze Familie symbolisch als „Opfer“ einer Schandtat – durch den Ehrenmord hingegen gibt es nur ein Opfer, dessen Tod die Schande gleichsam aus der Welt schafft (47). In den Strafprozessen, die auf Ehrenmorde folgen, ist der Staatsanwalt oft die einzige Instanz, die für das Opfer plädiert (128).

Der dominierende Einfluss von „religiösen Normen, sozial festgelegten Werten und Traditionen“ (104) lässt in den dörflichen Regionen der Türkei den Glauben gedeihen, es entstünde fitna (Chaos), wenn Frauen selbstverantwortlich ihre Sexualität verwalten möchten (110). Denn mit der Eigenständigkeit der Frau kommt es zum „sozialen Tod“ der Männer, da diese es nicht geschafft haben, ihren Frauen das vorherrschende Ehrprinzip zu vermitteln. Indes gilt einer Umfrage zufolge das Vergewaltigtwerden als die schwerste Ehrbefleckung einer Frau, die folglich mit ihrem Tod dafür büßen muss (149)! Die Autorin diskutiert verschiedene sozialwissenschaftliche Modelle, um das Phänomen Ehrenmord als gesellschaftliche Erscheinung begreifbar zu machen (173 ff.). Individuelles und kollektives Handeln ergänzen sich demnach wechselseitig: Einerseits sind Scham und Demütigung verstärkende Faktoren (189), andererseits herrscht Skepsis gegen das Rechtssystem vor, das den Verlust der Ehre (und damit: der Unbescholtenheit) nicht als strafwürdiges Handeln versteht (194).

Im Methodenteil wird eine quantitative Inhaltsanalyse türkischer Medien und vor allem des auflagenstärksten Boulevardblattes geliefert. Daraus ergibt sich, dass 36% der aufgedeckten Taten explizit in der Öffentlichkeit stattfanden (250), weil der Täter seine Rückeroberung der Ehre vor möglichst vielen Augen demonstrieren wollte. Sozioökonomische Faktoren spielen eine entscheidende Rolle: Je höher der Bildungsgrad und je großstädtischer das Umfeld, desto geringer die Affinität zum „Korrektivmechanismus“ Ehrenmord. Reiche Töchter, die über alternative Ressourcen verfügen, werden seltener zu Opfern als arme Frauen, die ihren „sozialen Welt“ nur über ihre Ehre definieren können (263). Die Ehre der Frauen ist im Gegensatz zu der Ehre der Männer im Untersuchungsgebiet der Studie an ihre Normkonformität geknüpft (327) – und geprägt vor ihrer Angst vor familiären Autoritäten (102).

Diskussion

Das grundsätzliche Problem von Studien, die Kulturprobleme „von außen“ in den Fokus nehmen, liegt in der Gefahr des arroganten Blicks, der aus westlich-aufgeklärter Sicht gesellschaftliche Phänomene kritisiert, die in ihrem Geltungsbereich als alltäglich gelten und eine soziale Funktion erfüllen. Andererseits liegt im Falle des Ehrenmordes eine gewissermaßen immanente Kritikwürdigkeit vor, da es sich um eine archaische Form der Ordnungsgewährleistung handelt, die auch „vor Ort“ nicht unumstritten ist und die (wie das Komplementärphänomen Blutrache zeigt) keineswegs das Sozialgefüge stabilisiert, sondern es eher schleichend auflöst.

Es lässt sich nachvollziehen, dass die Verfasserin an mehreren Stelle der Studie ihre persönliche Perspektive aufscheinen lässt (vgl. 111, 257, 261). Gleichzeitig liefert sie ein differenziertes Bild und stellt sowohl die Türkei wie auch den Islam hinsichtlich der wesentlichen Faktoren vor. Ferner distanziert sie sich von den polarisierenden, als unterkomplex bezeichneten Thesen der gerade in deutschen Medien bekannten Necla Kelek (307). Über weite Teile gibt die Arbeit den Eindruck einer Meta-Studie, insofern die Ergebnisse anderer Untersuchungen ausführlich referiert werden; darunter auch Material, das bislang nicht öffentlich verfügbar war.

Die Einblicke, die die Autorin in die Struktur familiärer Solidarität in Südost- und Ostanatolien gewährt, sind spannend, weil sie wie ein gemeinschaftsorientierter Gegenpol rationaler Gesellschaften wirken. Auch die Einbindung der Gerichtsakten und die (etwas unsystematischen) Referenzen auf zahlreiche Experten, mit denen die Verfasserin gesprochen hat, erhellen den Forschungsgegenstand. Dass einige Quellen nicht nachgewiesen sind (König, 186; Weber, 208; Gadamer, 209) und manche Literatur nicht im Verzeichnis auftaucht (Parsons 1964, Trotha 1997), wäre vermeidbar gewesen.

Fazit

Eine lesenswerte Arbeit, die ein (in Deutschland) bislang wenig untersuchtes Phänomen in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Dimensionen beleuchtet. Sie verbindet die Gender-Sichtweise mit einer kritischen Kulturkonfliktperspektive und bietet damit einen Beitrag zur Versachlichung eines sonst allzu häufig medial aufgebauschten Themas.

Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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Es gibt 25 Rezensionen von Thorsten Benkel.

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ISSN 2190-9245